Название | Im Reformhaus |
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Автор произведения | Jürgen Kaube |
Жанр | Современная зарубежная литература |
Серия | |
Издательство | Современная зарубежная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783866743687 |
Die alte bürgerliche Analogie von Bildung und Arbeit beruhte auf diesen Eigenschaften. Als der Begriff »Bildung« im 18. Jahrhundert prominent wurde, ging es um Erziehung zur Individualität. Gebildet sei, hieß es, wer über sich selbst nachzudenken vermöge. Der Schüler wurde als Person vorgestellt, die sich durch Lernen an Natur, Geschichte, Kunst und Sprache selbst anreichert. Kurz: Der Unterricht sollte es dem Schüler ermöglichen, herauszufinden, was alles in ihm steckt. Alles – das heißt eine ganze Welt, nicht nur eine Berufskarriere. Die Schule erzieht nicht nur zur Berufsfähigkeit, sie erzieht beispielsweise auch Staatsbürger und Familiengründer, Menschen also, die ihr Leben selbständig führen sollen, und das in einer Gesellschaft, in der viele lieber singen lassen, als selbst zu singen, in der es also Delegationsmöglichkeiten für Dinge gibt, die man besser selbst täte: Lesen, Rechnen, Schreiben, Denken.
Die Bildungskrise liegt also nicht darin, daß uns oben ein paar Pisa-Punkte fehlen, sondern daß uns unten eine Bevölkerung entsteht, die zu elementarer Selbständigkeit der Lebensführung nicht mehr in der Lage ist. Und sie liegt darin, daß wir, um Schwierigkeiten zu umgehen und Härten zu vermeiden, Bildung als etwas Leichtes, mittels didaktischer Tricks und Prüfungen, durch die man nicht fallen kann, leicht zu Erwerbendes vorstellen. Die Aversion der Gymnasiasten gegen Mathematik und die daraus folgende Abstinenz gegenüber dem Ingenieursstudium rühren aus der Kontrasterfahrung zur restlichen Schule: Warum auch sollte man etwas studieren, an dem man scheitern könnte?
Was kann in einer solchen Lage getan werden? Dreierlei drängt sich auf. Zunächst wäre es nötig, die Zeit der Reformen zu beenden. Seit Jahrzehnten werden die Bildungseinrichtungen von ihnen und einer Reformklasse heimgesucht, die im Ändern einen eigenen Beruf gefunden hat. Ein älteres Wort dafür war Beschäftigungstherapie, heute müßte man von einer Therapieselbstbeschäftigung sprechen, die zu Lasten der Intelligenz unserer Bildungseinrichtungen geht. Ihr Imperativ lautet »Ganz anders als bislang!«, was folgerichtig nach ein paar Runden zur Wiedervorlage aller älteren Modelle unter zwischenzeitlicher Entnervung sämtlicher Betroffenen und einem absurden Zeitverbrauch führt. Erst G9, dann G8, dann optional G8 oder G9. Hat schon einmal jemand ausgerechnet, wie viele Stunden an Unterricht, Lektüre sinnvoller Texte oder Experimenten im Labor uns die Reformen gekostet haben? Die Zahl dürfte weit über das hinausgehen, was für gute Bildung nötig wäre. Ja, es gibt Luft im System.
Genauso wichtig, wie sie entweichen zu lassen und das ständige Evaluieren, Strukturändern und Strukturänderungenzurücknehmen zu beenden, wäre es, damit aufzuhören, von der Bildung, den Schulen und Hochschulen zu verlangen, was sie nicht leisten können: die Abschaffung der Unterschicht etwa, die Hervorbringung des ganzen Menschen oder die vollständige Kompensation von Gleichgültigkeit gegen Bildung in vielen Milieus. Es ist widersinnig, erst den Begriff der Bildung, den Unterricht und das Studium zu entleeren, sie danach mit Aufgaben anzufüllen, die in die Zuständigkeit der Sozialpolitik, des Managementtrainings oder der Familien fallen, um ihnen zuletzt bei Nichtbewältigung dieser Aufgaben Versagen vorzuwerfen. Wir überfordern und unterfordern die Schulen und Hochschulen zugleich.
Damit aufzuhören leuchtet aber nur ein, wenn man einen Begriff von der eigenen Leistungsfähigkeit des Bildungssystems hat und ihm als Funktion zubilligt, nicht die reichere, die gerechtere, die moralischere oder die medienkompetentere Gesellschaft hervorzubringen, sondern nicht mehr und nicht weniger als wache, wahrnehmungsfähige, kenntnisreiche Bürger. Die, das wäre der Optimismus der Bildung, würden sich dann auch von einer noch so tiefen Wirtschaftskrise nicht in Frage gestellt sehen.
Was Schule leisten soll und kann
DREIERLEI steht fest, wenn heute in Deutschland über Bildung gesprochen wird: Wir haben, erstens, zuwenig davon. Die Chancen, an Bildung zu gelangen, sind, zweitens, zu ungleich verteilt. Die Schule kann, drittens, beides ändern.
Mitunter scheint es geradezu, als könne Schule, wenn sie nur richtig eingerichtet wäre, an den Individuen alles gutmachen, was die Gesellschaft an Unvernunft und Ungerechtigkeit oder jedenfalls Ungleichheit verwirklicht. Die Belege dafür, daß das geht, kommen aus dem Ausland. Schon beim Verweis auf das bildungspolitische Arkadien, Finnland, mochte man sich allerdings fragen, ob die Schüler aus den Schulen des Pisa-Spitzenreiters im Bereich Lesen nicht auch deshalb so gleich herauskommen, weil sie in entscheidender Hinsicht so gleich hineingekommen sind. Es gibt in Finnland keine Kinder, die nicht die Unterrichtssprache sprechen; es gibt keine ethnische Unterschichtung; es gibt wenig Großstädte; und die Einkommensungleichheit ist eine der geringsten unter den entwickelten Ländern.
Der Soziologe Heinz Bude hat jetzt auf vergleichbare Korrekturen hingewiesen, die an dem Bild vorgenommen werden müssen, das vom japanischen Schulsystem existiert, insofern es auch hier gelungen sein soll, Leistungsstärke – vor allem im Bereich der Mathematik und Naturwissenschaften – mit der Kompensation von Herkunftsnachteilen zu verbinden.1 Tatsächlich wechseln 97 Prozent der Schüler in Japan nach sechsjähriger Elementar- und dreijähriger Mittelschule auf die Oberschule, wodurch das »Abitur« zum Bildungsminimum wird. Sitzenbleiben ist ausgeschlossen.
Die gesellschaftliche Selektion der Bildungszertifikate setzt darum von oben ein: Das Ansehen der Hochschulen bestimmt sich nach der Übergangsquote ihrer Absolventen zu den großen Firmen. Die Oberschulen werden danach sortiert, welche die meisten Übergänge zu den erfolgreichen Hochschulen vorweisen kann, und so weiter bis zum Kindergarten hinunter. Auf jeder Stufe lösen Aufnahmeprüfungen das Knappheitsproblem. An fünfzigtausend Ergänzungsschulen werden die Schüler von privaten Anbietern abends und an den Wochenenden bearbeitet. Das mobilisiert erhebliche Ersparnisbildung und erheblichen Druck, der sich allerdings an staatlichen Schulen nicht zeige, weil sich die Schüler dort von ihrem Zusatzunterricht erholten.
Zurück zur Beschreibung der deutschen Bildungsproblematik. Den Beleg dafür, daß es zuwenig Bildung gibt, liefern die Zahlen der Schulabgänger ohne Zeugnis sowie die Pisa-Daten, die von Scharen Fünfzehnjähriger berichteten, die nicht wissen, was »desinfizieren« bedeutet. Hinzu kommen die niederschmetternden Zahlen zum Analphabetismus in der Bevölkerung. Geschätzte 7,5 Millionen Erwachsene sind in diesem Land nicht in der Lage, auch nur kurze Texte zu verstehen.2
Zugleich werden allerdings Abiturientenanteile an den Geburtsjahrgängen von deutlich mehr als dreißig Prozent ermittelt. Daß das Gymnasium ein »Refugium der Selbstähnlichkeit« und ein Ort »sozialer Endogamie« sei, der von Abstiegs- und sozialer Ansteckungsangst geplagten Mittelklassen zäh verteidigt werde, wie Bude formuliert, dürfte angesichts der Bevölkerungsanteile, die es inzwischen aufnimmt, eine etwas kompakte Darstellung sein. Nimmt man die Fachhochschulreife hinzu, so ist abzusehen, daß bald die Hälfte eines Jahrganges zum Studium berechtigt ist. Wie homogen soll man sich die Hälfte der Bevölkerung vorstellen?
Der Bildungspolitik jedenfalls erscheinen die heutigen Zahlen noch zu gering. Zuletzt hat der allgemeine Parteienkonsens, die Hauptschule abzuschaffen, der in vielen Regionen, vor allem aber in Großstädten praktisch auf die Abschaffung der Realschule hinausläuft, an die nun die schwächsten Schüler überwiesen werden, den bildungspolitischen Willen unterstrichen, die Bevölkerung um jeden Preis mit höherwertigen Zertifikaten auszustatten. Unter Verweis auf die Wissensgesellschaft und auf die Abitursquoten anderer nationaler Bildungssysteme – Finnland