Die Invasion der Barbaren. Christian Demand

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Название Die Invasion der Barbaren
Автор произведения Christian Demand
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783866743663



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Erde, auch die Hütte und Seele des ärmsten Mannes verklären. Die Wissenschaft ist bloß für einen kleinen Kreis Auserwählter bestimmt, die Kunst für die große Mehrzahl der Menschen; am wenigsten möchte ich den Mühseligen und Beladenen ihren Sonnenschein entzogen wissen.«

      Beifall – verzeichnet das Protokoll an dieser Stelle. Wie bei dem heterogenen Teilnehmerfeld aus Volksschullehrern, Stadtbauräten, Künstlern und Museumsleitern nicht anders zu erwarten, gab es keine geschlossene Lehrmeinung darüber, wie der Volkserzieher den »Tempel der Kunst« am besten für die Mühseligen und Beladenen öffnet. Dennoch läßt sich, was die Fragen nach Notwendigkeit, Möglichkeiten und Ziel von Kunstvermittlung angeht, aus den Einzelbeiträgen ein kleinstes gemeinsames Vielfaches herausdestillieren, das sich, im Anschluß an die von mir vorhin skizzierte pädagogische Grundsituation, in die Form eines klassischen Syllogismus bringen läßt.

      Prämisse eins besteht, wie nicht anders zu erwarten, aus einer Defizienzthese. Sie besagt in diesem Fall, daß die meisten Menschen durch die naturwidrigen Rahmenbedingungen des Zivilisationsprozesses in ihrer Aufnahmefähigkeit für das Schöne so deformiert seien, daß sie es ohne Anleitung anderer nicht einmal mehr erkennen könnten, wenn sie direkt davorstünden. Prämisse zwei bildet das Paradigma von der Kunst als Endpunkt ästhetischer Optimierung. Ich meine damit die Auffassung, nach der die Kunst gleichsam den krönenden Schlußstein eines hierarchischen Stufenbaus aus zahllosen gestalterischen Prozessen darstellt, in dem sich nach oben hin eine Sinnfülle anreichert, wie sie in den prosaischen Niederungen des Alltagslebens nirgends zu finden ist.

      Diesem Ausnahmestatus verdankt die Kunst ihre besondere Bedeutung als Gegenstand einer institutionell geförderten Betrachtung und Verehrung. Die Conclusio aus den beiden Obersätzen lautet dann: Kunstpädagogik ist nötig und sinnvoll, denn sie macht die mannigfachen Deformationen der Sinnlichkeit namhaft und versetzt die Menschen durch eine schrittweise, pädagogisch begleitete Annäherung an das ästhetisch Beispielhafte und künstlerisch Herausragende in die Lage, gute Gestaltung im allgemeinen und die Kunst im besonderen wieder zu schätzen. Der dadurch erschlossene individuelle ästhetische Glücksgewinn ist wohlgemerkt keineswegs ein Selbstzweck, sondern dient der gesamten Gesellschaft, denn ästhetisch erzogene Menschen sind auf lange Sicht auch die besseren Mitmenschen.

      Es geht mir wohlgemerkt nicht darum, mich über die Teilnehmer des Dresdener Kunsterziehertags lustig zu machen. Deren Kampf für mehr Bildungsgerechtigkeit im Kaiserreich war ohne Frage ehrenwert und das penetrante Weltretterpathos, mit dem sie dieses Vorhaben in der Öffentlichkeit bewarben, kein Eigenfabrikat, sondern der gängige Ton in den meisten volkspädagogischen und lebensreformerischen Debatten der Zeit – es genügt, einmal kontrollhalber einen kurzen Blick auf die Reden und Aufsätze zum Schillerjahr 1905 zu werfen. Festzuhalten ist überdies, daß die Expertise, die die Dresdener Tagungsteilnehmer weiterzugeben anboten, weniger in der Anleitung zu waghalsigen kulturtheoretischen Verrenkungen bestand, sondern schlicht und einfach darin, die Ausbildung der Urteilskraft ihrer Schüler durch Ausbildung derselben gestalterisch praktischen Fertigkeiten zu befördern, auf deren meisterlicher Beherrschung nach allgemeinem Konsens auch die Kunst selbst beruhte. Dabei galt ihr fürsorgliches Interesse vor allem den unterprivilegierten sozialen Schichten, denen man die Gelegenheit zu fachmännisch angeleitetem Zeichnen und Werken und damit die Möglichkeit geben wollte, sich durch praktisches Tun ein Gebiet der Hochkultur zu erschließen, von dem sie in der Regel ausgeschlossen waren.

      Es ist bemerkenswert, daß in der heutigen Fachliteratur von derart basalen Hilfestellungen allenfalls noch am Rande die Rede ist, während einem praktisch auf jeder zweiten Seite mit wilder Emphase die krudesten ästhetischen Mystizismen und pädagogischen Heilsversprechen entgegenschlagen.6 Zwar wird die Kunst nicht mehr länger umstandslos als die sinnliche Schauseite des Wahren und Guten beworben. Statt dessen tritt sie nun als Hort des Widerstands gegen »Verfügungswissen«7 auf, als »Möglichkeitsraum des Nichtdagewesenen«, in dem exklusiv eine geheimnisvolle »fluide Intelligenz«8 gedeihe und ähnliches mehr. Es ist schwer auszumachen, wie viele dieser ästhetischen Überspanntheiten exklusiv im akademischen Habitat der Kunstpädagogik gedeihen. Zeitgenössische Kunsttheorie hat diesbezüglich ja leider nur allzuhäufig einen ähnlich windigen Zuschnitt.9 Auch dort hört man alle naselang, ambitionierte Performancekunst führe zu einer »Verwandlung des anschauenden Subjekts«10, oder es wird die Hoffnung beschworen, über die »ästhetische Arbeit« im Umgang mit der Kunst dereinst »das Wahrnehmen selbst zu einer Kunst auszubilden«11. Die Essenz all dieser angestrengten Theoriegebilde ist jedenfalls in der Regel die gleiche wie schon bei Herrn Schulrat Grüllich: In der Kunst walten ungeahnte Kräfte, die nirgends sonst zu finden und für eine heile Gesellschaft unverzichtbar sind. »Das Rohe und Gemeine«, hieß es weiland in Dresden, »weicht vor der wahren Kunst scheu zurück.« Beifall.

      Diese inhaltliche Kontinuität wäre nicht weiter problematisch, hätten sich auf dem Feld der bildenden Kunst nicht in der Zwischenzeit grundstürzende Entwicklungen ereignet. 1901 konnte man vielleicht noch gutherzig an einen Kollektivsingular namens »wahre Kunst« glauben, eine Kunst, die wie von Zauberhand für jede Epoche einen passenden Stil ausprägte, eine Kunst, deren Ethos die entsagungsvolle Vervollkommnung sehr klar benennbarer Fertigkeiten forderte, eine Kunst, an deren Meisterleistungen sich jede andere Form der Gestaltung zu messen und zu der man als Betrachter folglich aufzuschauen hatte; eine Kunst auch, die, wenn man von einigen wenigen Grenzfällen absah, prinzipiell nach einsichtigen Kriterien zu beurteilen und deren Produktion wie Rezeption damit grundsätzlich lehr- und lernbar waren. Auf all diesen Prämissen ruhte das hehre Programm der Volkserziehung durch ästhetische Bildung.

      Ein gutes Jahrhundert später wird man wohl kaum mehr jemanden finden, der einem dieses anspruchsvolle normative Gesamtpaket abnehmen wollte. Der zeitgenössische Kunstbetrieb präsentiert sich als unübersichtliches, radikal heterogenes Pluriversum, in dem die unterschiedlichsten und gegensätzlichsten Positionen miteinander um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren, in der das programmatisch Kontingente, bewusst Ephemere, Fragmentarische, Inkohärente, Nur-Individuelle, Widersprüchliche ebensoviel, wenn nicht mehr Raum einnimmt als das auf Beständigkeit angelegte, ohne daß sich aus dieser oder auch einer anderen Differenz eine verbindliche Wertbestimmung ableiten ließe. Diese so unterhaltsame wie ermüdende Betriebsamkeit, die allenfalls ein Geflecht kultureller Märkte und ein paar institutionelle Traditionen noch lose zusammenhalten, gibt keinerlei Veranlassung mehr, den Begriff der bildenden Kunst weiterhin in der emphatischen Weise im Singular zu gebrauchen, wie das ehedem sinnvoll schien. Und am allerwenigsten gibt sie Anlass zu der Vermutung, der Kunst als solcher oder auch ihrer Rezeption eigneten per se gesamtgesellschaftlich segensreichere Kräfte als etwa Mode, Kino, Sport oder auch Popmusik.

      Daß sich die Frage, was Kunst ist, nicht mehr verbindlich beantworten läßt, gehört deshalb heute zur kunstphilosophischen Erstsemesterausstattung. Daß sich, was man nicht definieren kann, auch nicht in der Weise lernen und lehren läßt, wie das ehedem die Zünfte und später die Akademien über Jahrhunderte für sich in Anspruch nahmen (und wie es noch die Teilnehmer des Dresdener Kunsterziehertages als selbstverständlich voraussetzten), scheint sich hingegen noch nicht wirklich herumgesprochen zu haben. Es ist nichtsdestoweniger wahr, und es betrifft den Kern jeglicher kunstpädagogischen Programmatik. Man muß nur einmal den Ausbildungsplan der École des Beaux-Arts etwa zur Zeit Ingres’ mit dem einer beliebigen deutschen Kunsthochschule von heute vergleichen, um den Unterschied anschaulich vorgeführt zu bekommen. An der Beaux-Arts war für alle Studenten der gleiche Kanon an Kenntnissen und Fertigkeiten verbindlich und jeder Professor empfand es, unabhängig von allen innerakademischen Richtungsstreitigkeiten und seiner persönlichen künstlerischen Handschrift, als seine selbstverständliche Aufgabe, ihn zu vermitteln. An zeitgenössischen Akademien wird zwar immer noch ein bunter Strauß unterschiedlichster Fächer angeboten, doch sind sie für die Studenten fast ausnahmslos fakultativ. Jeder Klassenprofessor agiert bei der Festsetzung der Ausbildungswege, -mittel und -ziele vollkommen autonom, ist also niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig. Gegensätzliche und widersprüchliche Lehrauffassungen sind heutzutage deshalb auch nicht etwa die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel. Die Zugehörigkeit zum Kollegium einer Akademie besagt nichts, aber auch gar nichts über die Kunstauffassung, die der Einzelne dort vertritt. Das institutionelle Drumherum bildet keine inhaltliche Klammer mehr, es dient vielmehr weitgehend pragmatischen Zwecken, wobei der Glaube an die Notwendigkeit gebündelter