Lust aufs Alter. Peter Scheer

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Название Lust aufs Alter
Автор произведения Peter Scheer
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783854395850



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studiert, sagt dazu: „Nur der Umstand, dass wir uns unseres Umfelds bewusst sind und die Zeitströmungen kennen, heißt noch lange nicht, dass wir außerhalb davon leben können.“ So ist das. Die meisten Pensionisten geben es auf, Bewegung zu machen. Sie sitzen, lesen, schauen fern und werden in der Folge dick und unbeweglich. Sie schämen sich dafür. Zu Recht. Das alles geht oft mit einer geistigen Unbeweglichkeit einher, einem Unzufriedensein, mit Pessimismus und Zorn auf die Jugend. Nicht schwer zu verstehen. Neid und Ärger über ein versäumtes Leben mischen sich mit dem Wissen um das Steckengebliebensein, eine furchtbare Melange der Bitterkeit.

      Geht man an seine Grenzen, überschreitet man sie ein bisschen, macht man – Grenzerfahrungen. Man sieht und spürt vor allem, was man noch kann. Kurz ist die Zeit, die einem noch gegeben ist. Man weiß, dass sich alles reduziert: die Erinnerung, die Elastizität, die Anzahl der neu anzusteuernden Neuronen, die neuen Einfälle und die Möglichkeiten, die man bei anderen Menschen hat. Man lernt schwerer Menschen kennen, nimmt deren Ideen und Einfälle nicht mehr so leicht auf, vor allem deshalb, weil man ohnedies schon alles zu kennen glaubt. Dieser Glaube ist irrig und kommt daher, dass das Gehirn „einrostet“. Dem entspricht die biologische Tatsache, dass die weiße Substanz (also die Kabeln) zunimmt und die Neuronen (also die Schaltstellen) weniger werden, schließlich baut sich auch die weiße Substanz langsam ab und das Vergessen wird zum Alltagsschicksal. Wichtiger denn je sind daher Grenzerfahrungen. Sie allein sind es, die neue Erfahrungen möglich machen. Damit meine ich nicht, dass jemand, der nie auf Skitouren gegangen oder Marathon gelaufen ist, jetzt im Alter plötzlich damit beginnen soll. Was ich meine, ist, dass sie an ihre jeweiligen Grenzen gehen sollen. Hören Sie nicht auf die Stimme der Vernunft – sie ist der Wegbereiter der Angst.

      Das habe ich unlängst auch meinem sechs Jahre älteren Freund, der auch Peter heißt, gesagt. Er hat bis achtundsechzig gearbeitet und ist seit einem Jahr in Pension. Leider ist er nicht ganz gesund, hat Stents in den Herzkranzgefäßen, ein Auge wurde trüb und seine schon immer weiche und wärmende Seele ist noch weicher geworden. Wir redeten übers Skifahren. Er sprach von seiner Angst. Einmal ist er im Flachen ausgerutscht und konnte nicht mehr aufstehen, benötigte Hilfe, konnte sich mithilfe der Stöcke nicht hochziehen. Einmal stürzte er und hatte Angst, sich etwas gebrochen zu haben. Er sagt: „Ich habe Angst vor Schmerzen!“ Meine Frage „Ist Opium für Schmerzen verboten worden?“ brachte ihn zum Schmunzeln. Wir sind beide Ärzte, er Psychiater, ich Kinder- und Jugendarzt. Wir wissen um die Flüchtigkeit des Lebens und der Gesundheit, um die Kraft der Bewegung, die ihn mehr langweilt als mich, und um ihre relative Wirksamkeit.

      Wie eine Studie kürzlich herausgefunden hat, lebt man durch regelmäßige Bewegung im besten Fall zwei Jahre länger, verbraucht aber für diesen Gewinn vier Jahre an Zeit – diese Art der Lebensverlängerung ist also keine wirkliche Verlängerung, das wissen wir. Allerdings haben wir bis dahin eine schönere Zeit. Ebenso wissen wir beide, dass diese zwei Lebensjahre, die ans Ende angehängt werden, nicht die besten sein werden, so dass wir uns nicht sicher sind, ob wir sie erleben wollen.

      Und doch, Sie sollen an Ihre Grenzen gehen, um von den schrecklichsten der Altersleiden so lange wie möglich verschont zu bleiben: der Ängstlich- und Furchtsamkeit. Aggressionen gegenüber der Jugend und Ärger über sich selbst, der sich dann manchmal als Fremdenfeindlichkeit oder nörgelnde Verdammung von Neuerungen zu erkennen gibt oder in einer anderen Form zutage tritt, die ihrem Wesen oder ihren Vorerfahrungen entspricht. Nur wenn Sie sich erproben, nur wenn Sie wissen, wie weit Sie gehen können, werden Sie sich spüren, sich erleben und neue Erfahrungen machen.

      Als ich meine jährliche Gesundenuntersuchung im Herbst hatte, war das Auto leider nicht in Graz geblieben. Ich hatte es in Wien abgestellt und nicht wieder abgeholt. Meine Kinder wollten es mir bringen, taten es aber nicht. Es war der warme Herbst 2014, die Zeitung voll mit Ankündigungen einer Klimakatastrophe. Ein Vespa-Roller stand in der Garage. Fast neu. Die letzte Erwerbung meines Sohnes, bevor er nach Israel ging. In meiner Jugend assoziierte ich mit Mopedfahren unbegrenzte Freiheit. Leider stürzte ich oft. Gezählte einundzwanzig Mal. Immer ohne Folgen, sogar, als es mich über die Kühlerhaube eines Pkws, die in die Kreuzung hineinragte, schleuderte. Ich krümmte mich zusammen und rollte wie eine Kugel ab. Nun sagte mir ein Freund, dass er das Mopedfahren aufgegeben hätte, weil, wie er sagte, „die Straße im Alter härter“ wird. Ich wollte aber zur Gesundenuntersuchung und war zu faul für das Fahrrad, zu geizig für das Taxi und zu hochmütig für die Straßenbahn, aber nicht feig genug für das Moped. Also – richtig – stieg ich aufs Moped, rollte die steile Straße vorm Haus hinunter und kam mit einem tollen Triumphgefühl an. Das Moped wurde danach für zwei Wochen mein Transportmedium: ob es sich um Einkaufen für die Familie handelte oder darum, meinen Sohn zur Bahn zu bringen – das Moped und ich konnten täglich mehr. Als mein Ältester sagte: „Wieso fährst eigentlich du? Das ist doch eine Verkehrung der Dinge!“, war ich stolz.

      Gehen Sie an Ihre Grenzen, erst dort sehen Sie, was Sie können. Und es wird Sie stolz machen!

       Gehen Sie zu Ärzten, sie helfen Ihnen

      Es gibt Menschen wie mich, die gehen gern zu Ärzten. Einfach, weil sie von ihnen Hilfe erwarten und bekommen. Ebenso, weil sie gern manchen Krankheiten vorbeugen. Zahnausfall zum Beispiel. Deshalb gehen sie regelmäßig zur Zahnpflege. Sicher, die Zahnpflege ist nicht alles. Aber sie fördert den Kontakt zum Zahnarzt und jede Zahnpflegerin wird ein Löchlein, das sie entdeckt, Ihnen und dem Arzt melden und so weitere Schäden verhindern helfen.

      Ebenso ist es mit den anderen Untersuchungen. Sicher, eine Darmspiegelung ab dem fünfzigsten Lebensjahr alle fünf Jahre einmal wird Darmkrebs nicht verhindern, aber sie ist die einzige Chance auf Früherkennung und -behandlung. Diese Liste könnte fast unendlich fortgesetzt werden. Jede Vorsorgeuntersuchung, jeder Kontakt mit dem medizinischen System birgt natürlich auch die Gefahr einer Überdiagnose in sich, aber wahrscheinlicher ist, dass man eine entstehende Krankheit früh abfängt, so dass sie noch heilbar ist. Gegen die Gefahren der Überdiagnose kann man sich leicht schützen: Kündigen Sie Ihre Zusatzversicherung! Erstens wird Ihnen die Versicherung sehr dankbar sein, denn Sie sind ein schlechtes Risiko geworden. Am liebsten hatte die Versicherung Sie, als Sie jung waren und daher gesund. Jetzt steigt täglich die Wahrscheinlichkeit, dass Sie die Versicherung in Anspruch nehmen werden. Das ist für den Profit der Versicherung schlecht. Daher werden Sie Ihre Kündigung widerspruchslos annehmen. Somit verführen Sie dann Ärzte und Ärztinnen nicht, sie aus niedrigen Motiven zu behandeln. Nicht Geld ist dann das Interesse der Mediziner, sondern ausschließlich der Wunsch, Ihnen zu helfen. Machen Sie also den für Sie guten Schritt und legen Sie sich in ein Mehrbettzimmer. Wenn Sie eine künstliche Hüfte brauchen, sind Sie dann zwar auf der Warteliste, werden aber von dem operiert, der es täglich tut, und müssen nicht einmal Danke sage. Wenn Sie dann doch Geld für Gesundheit ausgeben müssen, nehmen Sie das, das Sie sich an Zusatzversicherung erspart haben, und geben Sie es den Ärzten Ihrer Wahl.

      Und dann: Haben Sie ein wenig, aber nicht zu viel Vertrauen. Der Arzt kann Sie verwechseln, inkompetent sein oder er ist einfach innerlich mit anderem beschäftigt. Daher überprüfen Sie die Empfehlungen, lesen Sie Beipacktexte, überlegen Sie selbst Vor- und Nachteile der Verschreibungen und Empfehlungen, vergleichen Sie diese mit Ihrem Lebenskonzept und schauen Sie, ob das alles zusammenpasst. Nehmen Sie zum Beispiel Tabletten gegen Bluthochdruck, sofern Sie noch Freude an Sex haben, nur mit Vorsicht, manche haben nämlich als Nebenwirkung Potenzstörungen. Überdies ist Bluthochdruck an sich keine Erkrankung, Sie nehmen die Tabletten vorsorglich, um Nachfolgeerkrankungen zu verhindern. Denken Sie über Medikamente nach, die den Fettstoffwechsel beeinflussen. Ab einem gewissen Alter kommt die Vorsorge gegen Arterienverkalkung zu spät. Überdies wird von diesen Medikamenten die Wahrscheinlichkeit, an Diabetes mellitus zu erkranken, größer. Besprechen Sie Risiken mit Ihrem Arzt und treffen Sie dann eine gemeinsame Entscheidung. Seien Sie offen, lügen Sie Ihren Arzt nicht an und schenken Sie ihm das Vertrauen, das er braucht, um Sie gut behandeln zu können. Denken Sie aber auch daran: Jeder Arzt ist geneigt, Ihnen ein Rezept zu geben. Wenn Sie schon Medikamente einnehmen, kann es sein, dass die Wechselwirkungen nur mehr schwer zu überblicken sind. Achten Sie darauf, besprechen Sie das mit Ihrem Arzt und erinnern Sie sich an die Mathematik Ihrer Schulzeit: Gleichungen mit mehr als drei Unbekannten sind fast unlösbar. Daher sollten Sie wahrscheinlich nicht mehr als drei unterschiedliche Medikamente einnehmen.