Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

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Название Auf der anderen Seite der Schwelle
Автор произведения Raimund August
Жанр Короткие любовные романы
Серия
Издательство Короткие любовные романы
Год выпуска 0
isbn 9783957448019



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mit dem Eisensägeblatt und der Wurst war nicht nur bescheuert, sondern geisteskrank, ging es Sebastian durch den Kopf. Aber einen geisteskranken Eindruck machte dieser Hannes durchaus nicht. Auch Totila schossen widersprüchliche Überlegungen durch’s Hirn: Wenn dieser Hannes bei der KgU gewesen war, dann doch nicht wegen eines Eisensägeblatts, das im Päckchen in den Knast geschmuggelt werden sollte.

      Mit Spitzeln hatten ja er wie auch Sebastian bei der Stasi schon erste Erfahrungen machen können. Spitzel? Das traf auf diesen Hannes offensichtlich nicht zu.

      Auch Sebastian schloss das gefühlsmäßig aus.

      „Haben die dir in West -Berlin nicht gesagt“, fragte Sebastian, „dass das mit dem Sägeblatt gefährlicher Unsinn ist?“

      „Nee, haben die nicht!“, verneinte Hannes Kretschmann mit leichtem Trotz in der Stimme.

      „Na ja“, Totila winkte ab. „Du hättest es selber wissen müssen, schließlich hast du den Knast ja von innen her schon gekannt.

      Inzwischen kam in Sebastian ein Verdacht auf, nur ein Verdacht, den er am liebsten hatte verwerfen wollen, weil er ihm zu absurd erschien. Wenn dieser Hannes, dem sein Artikel 6er-Urteil offenbar heilig zu sein schien, es darauf angelegt hätte, zur Erlangung eines solchen Status in den Knast zu gehen, um ein Politischer zu werden wie die andern Politischen, die er als Krimineller dort kennen gelernt hatte? Dann wäre das mit der Säge, der Wurst im Monatspäckchen und der KgU, diese ganzen Blödsinnigkeiten wären dann nur Erfindungen, um die ganz offenbar banaleren Ursachen seines Artikel 6er-Urteils anderen politisch Verurteilten gegenüber aufzuwerten? Die Frage: Litt dieser Hannes tatsächlich unter derart massiven Komplexen und wenn, warum, weshalb …?

      „Ja, ich verstehe dich“, sagte Sebastian dann laut zu Hannes Kretschmann, der auf einem Hocker, mit dem Rücken gegen die kalten Rippen der Heizung gelehnt saß. Dazu lief Sebastian dann langsam die wenigen Schritte den schmalen Gang in der Zelle, von der Tür zum Fenster und wieder zurück auf und ab und blieb stehen. „Du bist nun ein Politischer“, sagte er, „ein Artikel 6er. Und bist du jetzt damit zufrieden?“

      Hannes Kretschmann stieß sich mit dem Rücken von der Heizung ab, richtete sich auf und wiegte den Kopf. „Wenn ich ehrlich sein soll schon“, sagte er und fuhr dann zögernd fort, „ja, doch, das ist mir wichtig.“

      „Aber das mit dem Sägeblatt und der KgU“, mischte Totila sich wieder ein, „ist doch wohl ein haarsträubender Unsinn.“ Er sah Hannes an und ließ sich kopfschüttelnd auf einen Hocker fallen.

      Auch Sebastian blieb bei seinem Gang von der Tür zum Fenster und zurück erneut vor Hannes Kretschmann stehen. „Wenn ich das richtig sehe“, sagte er, „dann hast du alles getan, um hier sozusagen als Politischer rein zu kommen?

      Könnte das sein?“

      „Als Politischer!“, warf Hannes mit Nachdruck ein, „das ist richtig.“

      „Ja gut, als Politischer, als Artikel 6er“, hob Sebastian letzteres besonders hervor, „aber wie kann man das freiwillig machen?“

      „Hab’ ich doch nicht“, reagierte Hannes Kretschmann. „Also bei der KgU in West-Berlin war ich aber wirklich“, begann er nach einem kurzen Schweigen in der Zelle zu reden. „Und das mit der Säge“, sagte er, „na ja, das ist Quatsch.

      Das habe ich nur so erzählt. Weiß auch nicht warum …“

      „Aha, jetzt wird es hell“, sagte Sebastian und lächelte. „Ich meine, du wolltest deinen Artikel 6, der dir ganz offensichtlich wichtig ist, vielleicht ein bisschen aufwerten?“

      Hannes nickte leicht. „Es waren Flugblätter“, sagte er. „Ich hatte ein paar Flugblätter von der KgU mitgebracht …“

      „Kein Eisensägeblatt?“, fragte Totila spöttisch.

      Hannes grinste. „Nur’n paar Flugblätter“, sagte er. „Ich hab’ die auf Arbeit und in der Kneipe rumgezeigt.“

      „Na, das war dann schon starker Tobak!“, ließ erstmals Herbert Fischer, der älteste in der Zelle, sich grinsend vernehmen.

      „Aber damit hast du wirklich nachhaltig für dein Hiersein gesorgt“, wandte Totila sich an Hannes Kretschmann.

      Der nickte nur und grinste wieder.

      Stimmt also, sagte Sebastian sich, hier ist tatsächlich einer freiwillig in den Knast gegangen, um ein politischer Gefangener zu werden. Das wird einem draußen niemand abnehmen. Es ist aber auch wirklich erstaunlich was es so alles gibt.

      „Sag mal“, wandte er sich wieder an Hannes Kretschmann, „hast du denn geahnt, dass du dir damit sechs Jahre einhandelst?“

      „Nee, über die Höhe hab’ ich nicht nachgedacht.“

      „Aber einen Schreck gekriegt …?“

      Hannes nickte. „Ein bisschen schon. Aber es sind ja auch nur fünf …“

      „Aha, aber das reicht ja auch“, ließ Totila sich hören.

      „Also irgendwie hast du dir deinen Artikel 6 schon redlich verdient, finde ich“, erklärte Sebastian lachend.

      „Aber was oder wem nutzt das nun?“, fragte Totila.

      „Na ganz offensichtlich unserm Hannes hier“, antwortete Sebastian.

      „Also Ihr kennt euch schon von der Spreestraße her?“, fragte nun auch Herbert Fischer und blickte dazu von Sebastian zu Hannes und zurück.

      „Na ja, wie schon gesagt“, erklärte Sebastian, „über’s Klopfen, das kennst du doch. Und da habe ich von seiner Beziehung zur KgU erfahren. Von so’ner Eisensäge war da nicht die Rede … Ich hatte aber auch nicht weiter nachgefragt.

      Ich erwartete damals für mich so um die fünfzehn Jahre, es hätte auch lebenslänglich werden können. Da war mir nicht so sehr nach dem Elend anderer, dass es dann bei mir nur zehn wurden, war eben Glück. Wir sind ja beide in den gleichen Fall verwickelt“, dazu wies er auf Totila, der dort inzwischen durch die Fensterklappe hinausblickte. „Der hat sieben Jahre“, sagte er.

      „Und der Herbert hier“, erklärte Hannes, „hat sechs Jahre nach Artikel 6. Der hat in der Kneipe den Spitzbart als Luden und Zuhälter beschimpft, weil Ulbricht ja aus so ’ner Leipziger Kaschemme stammen soll.“

      „Ja, ja, Verächtlichmachung“, sagte Sebastian nickend. „Aber auf so eine Art“, wandte er sich an Hannes, „wärst du jedenfalls noch schneller zu deinem Artikel 6 gekommen.“

      „Ich bin ja nun kein Held“, meldete Herbert sich lächelnd wieder zu Wort, „und das war in ’ner Kneipe, ein Sonnabend. Wir hatten uns schon ganz schön was genehmigt“, erzählte er, „auch harte Sachen. Die Gespräche, politische Gespräche wie häufig, die wurden mit gestiegenem Alkoholpegel immer lauter und da ist mir dann das mit dem Ulbricht nur so rausgerutscht. Ein guter Bekannter von mir, der guckte mich danach auch gleich ganz entgeistert an. Ich bin also aus lauter dummem Zufall hier und nicht wie ihr mit Absicht …“ „Na also mit Absicht“, sagte Totila und lachte dazu, „sind wir bestimmt nicht hier reingeraten.“

      „So meine ich das nicht“, entgegnete Herbert Fischer. „Ihr hattet was vor“, sagte er, „ich aber nicht. Ich bin dann wie zu erwarten angeschwärzt worden.

      Ich weiß wer’s war, aber das nutzt jetzt auch nichts mehr, mir nicht und meiner Familie draußen ebenfalls nicht.“

      „Wir sind ja auch verpfiffen worden“, sagte Totila. „Ich wollt’s erst gar nicht glauben, als Sebastian mir das in der Spreestraße über drei Zellen durch Klopfen mitteilen konnte.“

      „Und das war ein langjähriger Freund von mir“, sagte Sebastian, schüttelte den Kopf und ging langsam in Richtung Fenster. „Einen Vorteil hat das hier oben“, sagte er und wandte sich vom Fenster in die Zelle um. „Man kann rausgucken.

      In den unteren Zellen geht das nicht, hab’ ich gehört. Die Zellen sollen dort höher sein und die Fenster