Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Читать онлайн.
Название Auf der anderen Seite der Schwelle
Автор произведения Raimund August
Жанр Короткие любовные романы
Серия
Издательство Короткие любовные романы
Год выпуска 0
isbn 9783957448019



Скачать книгу

ein. Er empfand eine weite Leere, alles verlor an Bedeutung, wurde klein und x-beliebig … er selbst, die Zelle, die Mitgefangenen, der Zellenbau, seine Verurteilung, seine Taten, seine Überzeugungen … Gab es denn diese Welt um ihn her überhaupt? Doch immer wieder kam er dann doch zurück in die Welt, die sich real nannte. Schließlich bemerkte er, dass sich in ihm angesichts der erlebten Welt, so etwas wie ein Schock zu lösen begann, an den er erst nicht hatte glauben wollen. Es wurmte ihn nun um so mehr, dass er sich ahnungslos und naiv auf diesen Freund aus fernen Kindertagen hatte einlassen können. Im Nachhinein fielen ihm Kleinigkeiten ein, Kleinigkeiten mit tiefen Wurzeln, die ihm schon früher hätten auffallen müssen. Da war etwa die Sache mit dem heimlich besorgten Kleinkalibergewehr. Bei Schießübungen im Keller hatte er die Ladungen aus Mangel an Originalmunition immer ein wenig mehr mit Plättchenpulver aus einer alten Karabinerpatrone erhöht, um mehr Durchschlagskraft zu erzielen. Vor jedem Abschuß einer Ladung war sein Freund eilig aus dem Keller bis auf den Hof geflüchtet, um nach dem Schuß vorsichtig durch die spaltoffene Kellertür nach ihm Ausschau zu halten. Sebastian hatte damals darüber gelacht.

      Ein anderes Geschehen hatte ihn dann aber doch wieder kurz nachdenklich werden lassen, nämlich wie abfällig der Freund sich in seiner Gegenwart über die eigenen Eltern ausgelassen hatte, um das dann aber auch rasch wieder zu verdrängen, vielleicht weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte? Auch hatte er das alles stets in ein komisches Licht gerückt, um sich die Wahrheit nicht eingestehen zu müssen.

      Es hatte noch viele Warnzeichen gegeben, die er bewusst missachtet hatte. Er ahnte damals schon, dass das an diesem Freund Charakterscharten waren, die nicht auf sich allein beruhten. Doch hätte Sebastian darauf angesprochen, dies sicher von sich gewiesen..

      So verging die Zeit im Gleichmaß des Zellenalltags: Der Gefangene wechselte hin und wieder von Hocker zu Hocker, man konnte ja nicht immer nur auf ein und derselben Stelle sitzen in den Stunden des Wartens auf die regelmäßige Nahrungszuteilung oder des Raustretens zur Freistunde. Ebenso war es möglich einige Schritte zwischen den Betten auf und ab zu laufen, wenn die andern saßen. Auch eine Weile durch die Fensterklappe nach draußen zu blicken in ein sonnenbeschienenes Land oder in dunstiggraue Regenschwaden, galt als Abwechslung. Gegebenenfalls an grauen Tagen dicht unterm Fenster ein Buch zu lesen und sei es ein sowjetischer Heldenroman, konnte eine ebenso willkommene Ablenkung bedeuten.

      Hin und wieder erzählte ein Zellengenosse aus seinem Leben, etwa aus der Kriegsgefangenschaft in Russland, berichtete von Holzfällerarbeiten in riesigen Wäldern hinterm Ural und von der miserablen Ernährungslage dort, den vielen Kranken vor allem im Winter bei 35° bis 40° Kälte. „Stets standen vor dem Lagerzaun aber auch russische Frauen mit Kindern und bettelten um Nahrung bei uns“, erzählte einer, „die wir selbst ja bei schwerer Arbeit und mangelnder Ernährung, ums Überleben kämpften.“ Ein anderer erzählte, dass nach dem Krieg die Russen als Sieger versucht hätten, möglichst viele Kriegsgefangene in den Lagern am Leben zu erhalten. Davor aber, noch im Krieg, sei ein solches Leben nicht allzuviel wert gewesen. Insgesamt habe er im Rückblick die Zeit dort aber nicht als so schlimm empfunden wie die Beerdigung bei lebendigem Leibe jetzt hier, hatte er abschließend mit einer umfassenden Armbewegung durch die Zelle erklärt.

      Kein Wunder, meinte Sebastian, denn Ähnliches war ihm schon einige Male von Kriegsgefangenen erzählt worden, von Männern, die Jahre in diesen Lagern überlebt hatten und nun aus politischen Gründen bereits wieder über Jahre in der Enge dieser Zellen zusammengepfercht saßen …

       Kapitel 11

      Schloss und Riegel krachten, in der offenen Tür stand ein Schließer und der Stubenälteste leierte seine Meldung herunter.

      „Strafgefangene Sebaldt und Kunzmann?“ Der Schließer sah fragend in die Zelle.

      Verdammter Mist! Schon wieder eine Verlegung … schoss es Sebastian durch den Kopf und er sah kurz Totila an, der wohl eine ähnliche Vermutung hegte.

      „Ja, hier“, sagten beide und Totila hob dazu die Hand.

      „Und Strafgefangener Sebaldt?“, kam wiederholt die Frage des Schließers.

      „Ja hier“: rief Sebastian und streckte beide Arme in die Höhe.

      „Warum nicht gleich so“, murrte der Schließer. „Nehmen Sie Ihre Schüsseln.

      Monatspäckchen abholen“, sagte er.

      Erleichterung. Doch keine Verlegung! Rasch griffen sie nach ihren Schüsseln und traten hinaus auf den Gang.

      Der Wachtmeister schloss die Zelle wieder ab. „Gehen Sie.“

      Die beiden kannten das bereits und freuten sich auf ihr zweieinhalb Kilo Päckchen von zu Hause. So ein Päckchen durfte man aber nur bei guter Führung in Empfang nehmen, was immer das auch heißen mochte.

      Die Ausgabestelle lag im Erdgeschoß des Zellenbaus. Als die beiden dort ankamen, standen bereits Gefangene wartend vor der offenen Tür einer ausgeräumten Zelle, gegen die von innen ein Tisch geschoben worden war. Drinnen beschäftigten sich zwei Wachtmeister und ein Kalfaktor mit den zur Ausgabe vorgesehenen Päckchen, die auf einem weiteren Tisch unter’m Fenster aufgestapelt lagen.

      Die Freunde wussten ja bereits wie die Wachtmeister bei der Ausgabe dieser Monatspäckchen mit den oft liebevoll verpackten Lebensmitteln umgingen. Die Empfänger ärgerten sich zwar noch, aber wunderten sich schon nicht mehr darüber, wenn ihnen etwa eine Teewurst zerschnitten in die Aluminiumschüssel geworfen wurde; oder die Pappschachtel mit Würfelzucker, die aufgerissen und deren Inhalt zur zerschnittenen Teewurst in die Schüssel gekippt wurde. Schokoladentafeln aus dem Westen landeten ebenfalls aufgerissen und zerbrochen in der gleichen Schüssel zusammen mit Keksen, durchstochenen Streichkäseecken, Lachsschinken in Streifen geteilt, zerfetzten Mandarinen … alles Westsachen.

      Zusammen bildete das eine seltsame Nahrungsmittelmischung. Bei seinem ersten Päckchen vor Monaten war er mehr verblüfft als empört gewesen angesichts des Lebensmittelgemenges, das er damals in seine Zelle getragen und verärgert vor den Zellengenossen auf den Tisch gestellt hatte. Die lachten darüber nur. Darin könnte ja eine Eisensäge versteckt sein oder kleine Sprengkörper, meinten die, „oder gleich eine Bombe“, sagte einer und alle lachten. Er war sich dabei etwas doof vorgekommen. „Das ist hier immer so“, hatten sie ihn beruhigt, alle Päckchen, vor allem die mit Westsachen vom Klassenfeind, würden so zerpitzelt. Das ärgerte ihn zwar immer noch, aber wenn er weiterhin Päckchen von zu Hause bekommen wollte, musste er’s hinnehmen wie es war.

      „90 % Westwaren“, sagte einer, der Sebastians Päckchen als Nahrungsschüttung in dieser Aluminiumschüssel begutachtete.

      „Ja und? Ist doch nicht verboten“, reagierte Sebastian.

      Der andere lachte. „Das nicht“, sagte er, „aber das ärgert die natürlich, die selbst nicht wissen wie Westschokolade schmeckt. Die Mandarinen, Zitronen oder Apfelsinen nur aus den Päckchen der Gefangenen kennen und von Lachsschinken“, dazu wies er auf Sebastians Schüssel, „noch nie was gehört haben.“

      „Und deshalb dieses Massaker da?“ Der Mandarinen-, Apfelsinen- und Zitronensaft war inzwischen teilweise vom Würfelzucker aufgesogen worden, auch Kekse erwiesen sich als aufgeweicht … „So’n Päckchen wie das da“, erklärte ein anderer, „kriegt hier nicht jeder. Schon schön, wenn einer Verwandte oder Freunde im Westen hat.“

      Es gab also selbst hier noch Leute, bemerkte Sebastian, denen es in bestimmter Weise schlechter ging als anderen. Gemunkelt wurde aber auch schon, dass es diese Monatspäckchen der Angehörigen von draußen künftig nicht mehr geben solle.

      Wenn Sebastian durch’s Gitterfenster nach draußen blickte musste er feststellen, dass Zeit tatsächlich vergehen konnte. Das Laub der alten Kastanien neben der roten Backsteinvilla draußen vor den Zuchthausmauern und der Obstbäume in der Laubenkolonie neben der Anstalt verfärbte sich braun, gelb und rot und zeigte an, dass das Jahr, das erste Zuchthausjahr der beiden Freunde, sich allmählich seinem Ende zuneigte und dann sagte Sebastian sich, dann noch nicht einmal ein Zehntel von zehn Jahren … Rückblickend kam ihm die