Graphologie. Schriften 1. Ulrich Sonnemann

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Название Graphologie. Schriften 1
Автор произведения Ulrich Sonnemann
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783866743540



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Der wachsende Einfluß, den die Gestalt-Schule in den letzten zwanzig Jahren auf die europäische Psychologie ausgeübt hat, ebnete den Weg für eine verständige Aufnahme der Graphologie auf seiten von Colleges und Universitäten, aber obwohl er dieser Schule in manchen Aspekten seines Denkens sehr nahestand, war Klages ihr in anderen doch zu fern, um seine Theorie über gewisse Grenzen hinaus zu entwickeln. Diese Grenzen, die hauptsächlich aus seiner – hoch dogmatischen – philosophischen Theorie des Bewußtseins als notwendig störendem Faktor im Zusammenspiel der Lebenskräfte im Menschen herrührten, führten zu einer Vereinfachung seines Begriffs des graphischen Rhythmus’, der zu grob war, ihn die grundlegende Differenz zwischen integrierten und desintegrierten Zuständen der Persönlichkeit als in der Handschrift reflektiert verstehen zu lassen. Sein graphologisches System erwies sich in der Konsequenz als für psychodiagnostische Zwecke derart unzureichend, daß es eine Revision einiger seiner entscheidendsten – zugleich aber verzerrtesten – Begriffe durch den Verfasser erforderte. Im vorliegenden Buch ist diese Revision im Kapitel über Rhythmus und Regelmaß, Integration und Fluktuation formuliert. Zur Anwendung kommt sie sowohl im systematischen Teil, der es unternimmt, die Struktur der Bewertungsebenen neu aufzubauen, als auch in den klinischen Kapiteln, die, auch wenn sie nur vorläufige Befunde vorlegen, die Früchte langjähriger Beobachtung und Erfahrung auf diesem Gebiet sind.

      Die Probleme der Persönlichkeitspsychologie

      und die Theorie der Ausdrucksbewegung

      Die Bedeutung aller Ausdrucksbewegungen als relevanter Charakterindikatoren wurde schon zuvor in unserer Diskussion berührt. Hinsichtlich einiger seiner spezifischen Aspekte impliziert das Konzept der »Isomorphismen« oder Analogien von Systemeigenschaften die Existenz gesetzmäßiger, bedeutungsvoller und notwendiger Verbindungen zwischen der psychologischen Verfaßtheit einer Person und ihren Formen des Verhaltens; diese Verbindungen schienen den Verhaltensformen eine morphologische und ästhetische Einheit zuzuschreiben, recht ähnlich nicht nur der Formeinheit in individuellen Organismen, sondern auch denen des »Stils« in künstlerischen Schöpfungen, der Denk- und Kultur-»Muster« in sozialen und ethnologischen Entitäten und vieler anderer auf diese Bereiche bezogener »physiognomischer« Phänomene. Persönlichkeit fungiert diesem Konzept zufolge als ein konfiguratives Ganzes, das in der Dimension der Zeit ausgedehnt ist, innerhalb dessen aber die Teile in erster Linie nicht durch ihre Abfolge in der Zeit bestimmt sind (kausative Determination) und auch nicht durch irgendwelche anderen unmittelbar wechselseitigen Beziehungen zwischen zweien von ihnen; ebensowenig gibt es das kontinuierliche Wirken eines zugrundeliegenden gemeinsamen Prinzips der Systemaktivität, auf das die individuellen Verhaltenstatbestände (in ihren physiologischen wie psychologischen Aspekten) zurückgeführt werden können und, um verstanden zu werden, auch müssen. Ein Prinzip der Systemaktivität wie jenes, das den organismischen Gesamtprozeß regelt, ist nicht die Gesamtmenge mehrerer Zwei-Faktoren-Beziehungen, sondern stellt eine grundsätzlich andere logische Kategorie dar: In Zwei-Faktoren-Beziehungen und ihren Aggregaten sind die Relata, und zwar beide, unabhängig von der Dimension ihrer Verteilung; in Systemen dagegen sind die Komponenten stets das, was immer ihre Position im System sie zu sein bestimmt; ihre Verteilungsdimension wird somit selbst konstitutiv für das System. Zwei-Faktoren-Beziehungen und ihre Aggregate kommen zwar in der Tätigkeit des Organischen vor, sie betreffen jedoch nie den gesamten Organismus; vielmehr müssen sie als besondere und äußerst vereinfachte Manifestationen eines Prinzips von Systemaktivität verstanden werden, das relativ unabhängig von demjenigen ist, das den organismischen Gesamtprozeß regiert und das sich auf seine zeitliche Dimension beschränkt. Betrachtet man diesen Prozeß als ganzen und folgt man Andras Angyal (›Foundations for a Science of Personality‹), der wesentlich an der Entwicklung dieser Kategorien beteiligt war, lassen sich drei Hauptdimensionen des Funktionierens der Persönlichkeit unterscheiden.

      1. Eine Fortschrittsdimension, in der Persönlichkeitsfunktionen nach dem Gesetz der Finalität, das ihrer zeitlichen Ordnung in der bewußten Verfolgung von Zielen zugrunde liegt, bestimmt sind.

      2. Eine Tiefendimension, in der Persönlichkeitsfunktionen nach den unbewußten Bedürfnissen des Organismus, denen sie entsprechen, bestimmt sind.

      3. Eine transversale Dimension, in der Persönlichkeitsfunktionen nach der Ordnung ihrer wechselseitigen Koordinierung bestimmt sind.

      Im Bereich der Ausdrucksbewegungen wird die Fortschrittsdimension durch das Maß an Aufwands- und Richtungskonsistenz repräsentiert; die Tiefendimension durch das Maß an Impulsentbindung; die transversale Dimension durch das Maß an rhythmischer Integration. Sowohl Impulsentbindung als auch rhythmische Integration sind Funktionen, deren Operationen dazu neigen, der bewußten Kontrolle der Person zu entgleiten; Aufwands- und Richtungskonsistenz tun dies in geringerem Maße, können aber nur auf Kosten von Impulsentbindung und rhythmischer Integration bewußt manipuliert werden, eine Tatsache, die einen einfachen Nachweis solcher Manipulationen gestattet. Ausdrucksbewegungen sind, in anderen Worten, umso aussagekräftiger und tatsächlich ausdrucksvoller, je weniger sich ein Individuum ihrer Ausdrucksqualitäten bei der Ausführung bewußt ist. Vor allem aus diesem Grund ist die Handschrift ein System von Ausdrucksbewegungen von besonderem psychologischem Wert: Zwar ist der Schreiber der von ihm verwendeten Schulschrift-Muster durchaus gewahr und konzentriert sich bewußt auf den Inhalt, den er mit seinem Schreiben vermitteln will, kaum jedoch ist er der Art und Weise inne, in der er das Muster individuell verändert, und im allgemeinen überhaupt nicht, was solche Veränderungen bedeuten mögen. Wie dunkel sein Bewußtsein von »seiner« Handschrift ohnehin sein mag, es schwindet in dem Maße, wie die Inhalte seines Schreibens seine Gedanken in Anspruch nehmen und seine emotionalen Impulse hervorrufen und absorbieren.

      Diese besondere Natur der Bewegungsimpulse postuliert allem Anschein nach eines der fundamentalsten Gesetze des Ausdrucks: Ihre »zwingende« Kraft hinsichtlich sowohl der Wucht als auch der Richtungskonsistenz steigt und sinkt reziprok zur introspektiven Aufmerksamkeit, die das Bewußtsein des Schreibers – das im Maß dieser Aufmerksamkeit von seinen äußeren Absichten unabsorbiert bleibt – diesen zuwendet und damit von seinen eigentlichen – spontaneitätsweckenden – Zielen ablenkt. Das ist der Grund, warum unter den verschiedenen Typen von Handschriftenproben Briefe und Manuskripte gegenüber Abschriften vorgegebener Texte und – mehr noch – gegenüber jeglichen im Bewußtsein einer darauffolgenden graphologischen Auswertung produzierten Proben für die psychologische Analyse generell vorzuziehen sind.

      Hinsichtlich der in Ausdrucksbewegungen spontan angestrebten Ziele sollte wiederum das Ausdrucksziel, dessen der Organismus, was das Ausmaß der Bestrebung angeht, nicht gewahr ist, vom bewußten Zweck der Bewegung unterschieden werden. Bei der Handschrift ist dieser bewußte Zweck durch die Aufgabe determiniert, bestimmte Briefe, Wörter, Sätze und ganze Texte graphisch auszuführen; das Ausdrucksziel hingegen durch die innere Erfahrung des Schreibenden bei der Ausführung dieser Aufgabe. Daraus folgt, daß in Ausdrucksbewegungen im Sinne der gesamten organismischen Erfahrung offenbar Ziele der folgenden zwei allgemeinen Kategorien gleichzeitig wirksam sind: Erstens das zweckhafte Ziel der Bewegung, das den Verhaltensaspekt in der Fortschrittsdimension der Persönlichkeit bestimmt; zweitens das ausdruckshafte Ziel der Bewegung, das den Verhaltensaspekt in der Tiefendimension der Persönlichkeit bestimmt.

      Zusätzlich kann durch die von der Umlenkung bewußter Aufmerksamkeit auf das Selbst bewirkte Impulshemmung eine dritte, nur potentiell wirksame, allgemeine Kategorie des Strebens erzeugt werden. In Übereinstimmung mit dem oben aufgestellten Ausdrucksgesetz scheint sie aus einem Konflikt zwischen dem zweckhaften und dem ausdruckshaften Ziel der Handlung zu resultieren und das Funktionieren der Persönlichkeit in der transversalen Dimension, der der Koordination, zu beeinflussen.

      Um die Dichotomie von zweckhaften und ausdruckshaften Zielen zu illustrieren, können Alltagsbeispiele von Bewegungen von Nutzen sein, die stark von einem der beiden auf Kosten des anderen geprägt sind. Die hoch mechanisierten Bewegungen eines an einem Fließband beschäftigten Arbeiters sind durch zweckhafte Ziele in einem Ausmaß bestimmt, das ihre ausdruckshafte Zielgerichtetheit sicherlich vernachlässigbar, wenn auch keineswegs nichtexistent macht; die spontane Schreckgeste, mit der er von seinem Gesicht eine Gefahr abwehrt, die gar nicht seiner Person droht, mit der er vielmehr auf den Anblick eines Unfalls reagiert, der einem anderen, entfernter Arbeitenden