Graphologie. Schriften 1. Ulrich Sonnemann

Читать онлайн.
Название Graphologie. Schriften 1
Автор произведения Ulrich Sonnemann
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783866743540



Скачать книгу

und die äußeren Umstände der Bewegung »konstant« sind, nicht nur von individuellem Organismus zu individuellem Organismus, sondern auch innerhalb des Rahmens der Aktivität eines einzelnen Organismus’ von einem Auftreten der Bewegung zum anderen variiert. Da seitens eines Organismus’ biologisch keine mathematisch genaue automatische Wiederholung ein- und derselben Bewegung möglich ist, kann das Element der Einzigartigkeit in jeder Bewegung weder ihrem Zweck noch ihren äußeren Umständen, sondern nur einem strukturellen Prinzip innerhalb des Organismus, das in genau dieser Einzigartigkeit sich ausdrückt, zugeschrieben werden. Insoweit die Bewegungen eines Organismus im Vergleich zu denen eines anderen allesamt einzigartig sind – insoweit sie durch Analogien struktureller Merkmale verbunden sind –, spiegelt diese globale Einzigartigkeit ihrerseits die Individualität des Organismus als ganzem wider; insofern die Bewegungen des Organismus sich voneinander unterscheiden, spiegelt die Einzigartigkeit einer jeden von ihnen den je besonderen Zustand des Organismus innerhalb des gesamten zeitlichen Spielraums seiner Individualität wider. Je bestimmter dieser temporale Zustand, d. h. je ausgeprägter die Ausdruckskraft der Bewegung ist, desto leichter wird sie von anderen, die sie beobachten, verstanden werden: Der mimische Ausdruck des Schreckens z. B. vermittelt die Erfahrung des Schreckens mit solcher Überzeugungskraft, daß kein Zweifel darüber bestehen kann, was er meint. Diese Überzeugungskraft kann nicht aus vorausgehenden Erfahrungen seitens des Beobachters mit dem Gesichtsausdruck des Schreckens erklärt werden, da aus dem Axiom der Einzigartigkeit jeder Ausdrucksbewegung folgt, daß solche vorausgehenden Erfahrungen streng genommen nicht stattgefunden haben können; Assoziationen seitens des Beobachters mit vorausgehenden Erfahrungen mit dem Gesichtsausdruck des Schreckens können somit nur nachträglich, aufgrund einer Ähnlichkeit, gemacht werden; Ähnlichkeiten wiederum können erst gesehen werden, nachdem zuvor die ähnlichen Dinge »gesehen«, d. h. in ihrer Ganzheit und Einzigartigkeit erfahren worden sind, ohne welche es folglich keine Basis für spontane Assoziationen mit vorausgehenden Erfahrungen geben kann.

      Daraus ergibt sich die Annahme, daß das Element der Ausdruckskraft, d. h. der Bedeutung, in organismischen Bewegungen einen zentralen vereinheitlichenden Faktor darstellt, der die Bewegung als das Ganze, welches vom Beobachter erfahren wird, »organisiert«, und daß der Beobachter zu dieser Erfahrung dadurch befähigt wird, daß es in ihm ein zentrales vereinheitlichendes Prinzip gibt, das potentiell mit demjenigen – zu ihm »isomorphen« – korrespondiert, das die Bewegung organisiert. Diese Annahme, einer der grundlegenden Lehrsätze der Gestaltpsychologie, liegt gleichermaßen der in diesem Buch vorgestellten graphologischen Methode wie der Theorie der Ausdrucksbewegungen überhaupt zugrunde. Das Beispiel, das gewählt wurde, um sie zu illustrieren, war absichtlich ein ziemlich plattes: Der Gesichtsausdruck des Schreckens ist etwas, dessen Sinn jedermann im Alltag versteht, ohne dazu Ausdrucksbewegungen studiert haben zu müssen. Die Bedeutung einer bestimmten individuellen »Geste« in der Handschrift einer Person zu verstehen gehört zu genau der gleichen Art von Erfahrungen wie das angeführte Beispiel. Der Unterschied zwischen ihnen ist ein gradueller, kein prinzipieller: Um graphische Bewegung psychologisch einschätzen zu können, bedarf es eines höheren Grades an Sensibilität für visuelle Muster, als wir sie im Alltagsleben brauchen. Das zweite Erfordernis – die Notwendigkeit geordneten Denkens, um die gemachten Beobachtungen zu organisieren und sie mit größtmöglichem Gewinn zu verwenden – unterscheidet die Graphologie nicht von anderen wissenschaftlichen Unternehmungen.

      Auch wenn die wissenschaftliche Graphologie ihre Existenz ohne Frage Klages verdankt, so ist er doch selbst einer Reihe von Vorgängern verpflichtet, die um nahezu fünfzig Jahre ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Abgesehen von vereinzelten Andeutungen wie spontanen Beschreibungen von Handschriften zur Charakterisierung einer bestimmten Persönlichkeit, die sich durch alle Jahrhunderte und Nationalliteraturen verstreut finden, entstand die Graphologie als systematische Forschungsrichtung, als Jean-Hippolyte Michon 1875 sein ›Système de Graphologie‹ veröffentlichte, das Ergebnis einer jahrzehntelangen vergleichenden Forschung, die auf Briefen, die Michon erhalten hatte, und auf seiner Bekanntschaft mit den Briefschreibern beruhte.

      Was Michon – und nach ihm sein systematischer arbeitender, aber weniger talentierter Schüler Jules Crépieux-Jamin – begründeten, war die sogenannte Graphologie der Zeichen, die nach der Zeit dieser beiden Franzosen zu jener Art Graphologie degenerierte, wie sie noch heute von vielen Amateuren und Scharlatanen in diesem Bereich praktiziert wird, obwohl man auch sagen könnte, daß der typische amateurhafte Ansatz gegenwärtig eher noch eine inkonsistente Vermischung der »Graphologie der Zeichen« mit dem in diesem Kapitel beschriebenen völlig unsystematischen Zugriff auf die Handschrift geworden zu sein scheint. Für Michon repräsentieren bestimmte isolierte Haken, Schleifen, Überschneidungen usw. bestimmte Charaktereigenschaften, und der Charakter selbst galt ihm als die Summe dieser Eigenschaften. Dank seiner bemerkenswerten persönlichen Beobachtungs- und Kombinationskraft sind Michons Entdeckungen keineswegs unterzubewerten, sein »système« aber erwies sich, nachdem es ihm einmal aus den Händen genommen war, als dermaßen inadäquat, daß es jenes allgemeine Urteil hervorrief, das die psychologische Untersuchung der Handschrift als zwangsläufig unwissenschaftlich abwertete – eine Ansicht, die sich in diesem Land im Grundsatz bis heute erhalten hat. Ihre wesentlich frühere Überwindung in Europa verdankte sich sowohl der enormen Verfeinerungs- und Systematisierungsarbeit, die die führenden Experten in diesem Feld vollbracht hatten, als auch den neuen Denkschulen, die in Europa etwa zur Zeit des Ersten Weltkriegs eine führende Rolle in der akademischen Psychologie selbst erlangten.

      Von Michons Entdeckungen angeregt, fand diese Entwicklung in erster Linie in Deutschland statt, wo Wilhelm Langenbruch, Hans H. Busse, Albrecht Erlenmeyer und Wilhelm Preyer zu ihren einflußreichsten Beförderern wurden. Preyers ›Psychologie des Schreibens‹ von 1895 stellte, seinem Titel zum Trotz, noch keinen Fortschritt der psychologischen Begriffe dar, unternahm aber zum ersten Mal eine methodische Analyse der Eigenschaften und Bestandteile der graphischen Bewegung. Von da an und angeregt durch graphologische Periodika, die in Deutschland gegründet wurden, beschleunigte sich die Entwicklung. Georg Meyers ›Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie‹, wie die meisten hier genannten Werke nie ins Englische übersetzt, war die erste Annäherung an die Handschriftenanalyse durch einen professionellen Psychologen. Meyers Buch ist extrem konservativ und befaßt sich mehr damit, die theoretische Möglichkeit zu demonstrieren, eine wissenschaftliche Graphologie zu entwickeln, als daß es das wirklich täte; es überwindet die naive Spezifizität von Michons Interpretationen, ersetzt sie durch allgemeinere Begriffe, versäumt es dann aber, den Weg zu jener kritischen Eigenheit zu zeigen, die nach ihm von dem Philosophen und Psychologen Ludwig Klages erreicht wurde.

      Alle heutige Graphologie mit irgendeinem Anspruch, als psychologisches Instrument zu dienen, verdankt sich Klages, der als erster eine allgemeine Theorie des Ausdrucks formuliert hat. Seine wesentlichen graphologischen Werke –›Die Probleme der Graphologie‹, 1910, ›Handschrift und Charakter‹ (das bedeutendste), 1917, ›Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft‹, 1923, ›Prinzipien der Charakterkunde‹, 1928, und ›Graphologisches Lesebuch‹, 1930 – regten nicht nur viele professionelle Psychologen zur Handschriftenforschung an, sondern erwirkten auch die Hochschulwürde für die Graphologie und veranlaßten Schulen, Krankenhäuser, Beratungsbüros, Geschäftsbetriebe und Gerichte, für ihre unterschiedlichen Zwecke graphologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Neben Klages wurde das meiste an herausragenderer moderner Arbeit geleistet von Robert Saudek, dessen Werke, mit Ausnahme einer Abhandlung über die amerikanische Handschrift, ins Englische übersetzt wurden; von Max Pulver –›Symbolik der Handschrift‹, 1931, ›Trieb und Verbrechen in der Handschrift‹, 1934, beide unübersetzt –, der Begriffe analytischer Herkunft in das Feld einführte; von Minna Becker, die 1926 ein exzellentes Buch über Kinderhandschrift schrieb; von Roda Wieser, die ebenfalls über die graphischen Erzeugnisse von Kriminellen geschrieben hat; und von Johannes Walther, der sich insbesondere in der Analyse der Bindungsformen hervortat. Hierzulande haben Joseph Zubins und Thea Stein-Lewinsons Monographie, die die statistische Analyse einzelner graphischer Züge, wie sie zuvor in diesem Kapitel erwähnt wurden, entwarf, und Werner Wolffs mehr analytisch beeinflußte Arbeiten auf unterschiedliche Weise die von Klages’ Schule gelieferten Vorgaben aufgenommen.

      Heute noch zieht sich der Einfluß von Klages’ Schule durch den gesamten Bereich graphologischer Arbeit und Forschung. Zu einem beträchtlichen