Graphologie. Schriften 1. Ulrich Sonnemann

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Название Graphologie. Schriften 1
Автор произведения Ulrich Sonnemann
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783866743540



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auf dieselbe Linie des Funktionierens der Persönlichkeit anzuwendenden Indikatoren gezogen werden. Indikatoren sind, kurz gesagt, interdependent. Sie sind ambivalent, insofern umgekehrt jeder von ihnen die gesamte Spannweite von extrem positiven bis zu extrem negativen Bedeutungsschattierungen möglicher moralischer, sozialer und kultureller Werte umfaßt, die irgendwelchen allgemeinen Begriffen wie »Eigensinnigkeit« oder »Anpassungsfähigkeit«, »Impulsivität« oder »Selbstkontrolle« anhängen. Das allgemeine Persönlichkeitsmerkmal eines »hohen Selbstwertgefühls« zum Beispiel wäre nach dem Prinzip der Interdependenz in seinen möglichen Versionen sei es einer »verspielten Eitelkeit«, sei es einer »starren Eingebildetheit« zu unterscheiden; nach dem der Ambivalenz hinsichtlich des Grades, in dem es entweder »leer« oder aber durch tatsächliche Persönlichkeitswerte gestützt ist. Die Festlegung der genauen Bedeutung im Sinne des Persönlichkeitswerts, wie ihn entweder einzelne oder miteinander kombinierte graphologische Indikatoren vermitteln, hängt in erster Linie vom Sinn des Schreibers für Werte, die die Handschrift selbst mit sich bringt, d. h. von ihrer Ebene der Formqualität, ab.

      Die Ebene der Formqualität

      Die ästhetische Qualität einer gegebenen Handschriftenprobe gibt den Bezugsrahmen für die eigentliche Interpretation aller Befunde in den einzelnen Dimensionen ab und ist deshalb eines der leitenden Kriterien der graphologischen Arbeit. Der Begriff hat wenig mit den kalligraphischen Vorstellungen von Schriftkunst zu tun, wie sie die Handschriftenlehrer entsprechend den national variierenden schulischen Musterschriften vertreten: Außer bei Personen mit mangelhafter Schulbildung oder mangelhafter intellektueller Entwicklung und wenig Gelegenheit zu schriftlicher Kommunikation, für die die Aneignung der Schulschrift ein lebenslanger Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu bleiben scheint, wird diese in ihrer exakten Form individuell spätestens mit der Pubertät aufgegeben, und das Ausmaß, der schließliche Umfang und die spezifische Richtung dieses Aufgebens laufen genau parallel zu den entsprechenden Linien der Persönlichkeitsentwicklung selbst.

      Die Gründe für dieses Aufgeben, besonders für das sehr große Ausmaß, in dem es in den Handschriften führender Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts und unserer Zeit zu beobachten ist, mag teilweise in den modernen Schulschriften selbst zu suchen sein, die im Vergleich mit denen aus der Zeit vor etwa 1830 unter ästhetischem Gesichtspunkt relativ unbefriedigend erscheinen. Das wird auch durch die im Vergleich weit größere durchschnittliche Nähe zu den Schulschriften ihrer Zeit unterstützt, die sich in den Briefen vieler herausragender Personen der Jahrhunderte vor dem genannten ungefähren Datum zeigt, eine Tatsache, die signifikant mit dem allgemeinen Niedergang des »Stils« in anderen Kulturbereichen koinzidiert. Der Unterschied in dieser Hinsicht zwischen jenen Zeiten und unserer eigenen ist ziemlich markant und zu allgemein, um Zufall zu sein; er könnte die größere Sicherheit widerspiegeln, die die stabileren Werte vergangener Zeiten dem Individuum bieten konnten, indem sie ihm eine größere persönliche Identifizierung mit der Kultur ermöglichten.

      Das Kriterium der Formqualität steht mit dem Maß an genuinem geistigen Streben und Anspruch an sich selbst in Zusammenhang, das in der Persönlichkeitsentwicklung erreicht wurde; es bezeichnet den Grad an Ausgeprägtheit, in dem ein Wertesystem in das innere Leben einer Person integriert worden ist. Im Sinne graphischer Qualitäten kann sie als der relative Grad an Originalität der Form in Kombination mit dem an ästhetischem Ebenmaß definiert werden. Auch wenn ohne weiteres zuzugeben ist, daß, technisch gesprochen, Bewertungen in diesem Gebiet mit Notwendigkeit subjektiv sind, ist doch Vorsicht im Hinblick auf Schlußfolgerungen aus dieser Tatsache angesagt. Wenn die Gesetze der Ästhetik auch aufgrund der Natur der ästhetischen Situation selbst nur im Bereich persönlicher Erfahrung greifbar werden, gelten sie dennoch nicht für diesen Bereich, sondern für den der ästhetischen Objekte; sonst wäre keine Verständigung über ästhetische Erfahrungen und keine interpersonelle Übereinstimmung zwischen ihnen denkbar. Die Korrelationen unter persönlichen Entscheidungen für das ästhetisch mehr oder weniger Ebenmäßige aus einer Anzahl gegebener Objekte sind bekanntlich hoch, und dasselbe gilt, wie viele Versuche gezeigt haben, für die Urteile von Laien über die Niveaus der Formqualität in der Handschrift, sowohl untereinander verglichen als auch mit den Urteilen von Graphologen. Dies gilt natürlich hauptsächlich für die Bewertungen der gröberen Qualitätsunterschiede, und es scheint etwas mehr für Urteile über die ästhetische Integration als für solche über die Originalität zu gelten. Betrachtet man das letztere Unterkriterium, so scheint abermals viel von der Übung im Sehen und von einer Schärfung des allgemeinen Sinns für Qualitäten abzuhängen; die Funktion des kritischen Urteilsvermögens, die hier angesprochen ist, verlangt allerdings keine sehr außergewöhnlichen Fähigkeiten; im Kern ist es dasselbe, das zum Beispiel einen Beobachter befähigen würde, ohne allzu großes Zögern eine gotische Kirche von 1280 oder eine barocke von 1680 von ihren Imitationen von 1880 zu unterscheiden.

      Ein verbleibender Rest an »Subjektivität« beim Bestimmen von Formniveaus könnte durch noch feinere Abstufungen bei der Aufstellung der Punkteskalen durch unterschiedliche Bewerter ausgeschlossen werden. Die Abstufungen spiegeln indes nicht die Willkür der persönlichen Wahl wider, sondern die Natur des hier erforschten Gegenstands selbst. Vor verschiedenen Wertetabellen fügt sich das Phänomen der Persönlichkeit seinerseits einer Vielfalt möglicher Bewertungen. Jenseits eines bestimmten Grenzwerts an übergreifender Konsistenz können diese Wertungen mehr oder weniger divergieren. Persönlichkeit unterscheidet sich somit von den Gegenständen der medizinischen Wissenschaft durch die Tatsache, daß jenseits dieses Grenzpunkts die Perspektive des Erkennens nicht bloß ein Mittel der Wahrnehmung objektiver Eigenschaften, sondern ein Bezugsrahmen wird, von dem losgelöst diese Eigenschaften keinerlei Bedeutung haben. Der Unterschied zwischen den Begabungen und Veranlagungen von A und B kann »objektiv« festgestellt werden; jegliche Feststellung aber, welcher der beiden der »bessere« Mann ist, wird notwendig »subjektiv« sein. Das besagt nicht, daß sie irgendwie willkürlich oder unter epistemologischem Gesichtspunkt bedeutungslos sein muß; es meint schlicht, daß die Kriterien »gut«, »besser« usw. selbst menschliche Werte implizieren; jede Anwendung dieser Kriterien ist deshalb »objektiv« oder »nicht-objektiv« nur im Hinblick auf ein bestimmtes Wertesystem, dessen Vorannahme der Feststellung zugrundeliegt. Nach der Erfahrung des Verfassers läßt sich die Situation leicht mit Hilfe genauer differenzierender Versuche mit verschieden abgestuften Punkteskalen zu graphischen Formniveaus, die von verschiedenen Gutachtern durchgeführt werden, demonstrieren. Wenn nach der – »blinden« – Skalierung der Handschriften der Probanden I bis X derselbe Gutachter die Gelegenheit zur persönlichen Begegnung und zum Gespräch mit ihnen selbst erhält und dann aufgefordert wird, sie auf der Grundlage dieses »direkten« Zugangs zu den jeweiligen Personen zu skalieren, wird seine Einordnung auf der Punkteskala in fast allen Fällen mit seiner vorausgehenden – graphologischen – nahezu übereinstimmen. Welche Abweichungen es dabei auch geben mag, sie werden im ganzen weit geringer sein als diejenigen zwischen seiner vorausgehenden graphologischen Einstufung der zehn Schriftproben und denjenigen derselben Proben durch andere Gutachter. Diese Konstellation weist deutlich auf die »Objektivität« des Formniveau-Kriteriums in dem einzigen Sinne hin, in dem in dieser Hinsicht der Begriff »Objektivität« überhaupt sinnvoll sein kann, nämlich insofern das gegebene Wertesystem der Gutachter als der unvermeidliche –»objektiv« nicht austauschbare – Bezugsrahmen dient. Daraus folgt, daß man von einem bewußteren und ausdrücklicheren Innesein ihrer unterschiedlichen Wertestandards auf seiten der unterschiedlich ausgebildeten Forscher – soweit es zu erreichen wäre – erwarten könnte, daß es die Felder interpretativer Nichtübereinstimmung zwischen ihnen auf einen minimalen und klinisch unbedeutenden Punkt reduziert (Abb. 2 – 15).

       Abb. 2 – 15 Niveaus der Formqualität

      Abb. 2 (31 %*) Außergewöhnliches Formniveau

      Abb. 3 (7 %) Höheres Formniveau