Nachgelassene Schriften / Feindanalysen. Herbert Marcuse

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Название Nachgelassene Schriften / Feindanalysen
Автор произведения Herbert Marcuse
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783866743526



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war verschwunden, die in Kalifornien entstandene »Dialektik der Aufklärung« kursierte in einer Handvoll xerografierter Exemplare unter deutschsprachigen Emigranten. Die 1947 in Amsterdam gedruckten Exemplare erreichten die neue westdeutsche Öffentlichkeit nicht mehr. An dieser philosophischen Gemeinschaftsarbeit hatte Herbert Marcuse zu Beginn der vierziger Jahre unbedingt mitarbeiten wollen; aber Zukunftssorgen und Geldnot bewegten Horkheimer und seinen engsten Freund Pollock, ihren Mitarbeiterstab radikal zu verkleinern. Auf Marcuses Manuskript »The New German Mentality« vom Juni 1942 ist als Anschrift Santa Monica, Calif. durchgestrichen und mit Hand ist c/​o F. Neumann, 403 West 115, New York City hinzugefügt worden. Während Adorno und Horkheimer an der Pazifikküste –»Weit vom Schuß«, wie Adorno in den »Minima Moralia« schrieb – die »Dialektik der Aufklärung« formulierten, hatte sich Herbert Marcuse für den Dienst an der Ostküste im antifaschistischen Kampf entschieden. Wie sein Freund Franz Neumann trat er in den ersten US-amerikanischen Geheimdienst ein – in den OSS, der in Washington, D. C., seine Baracken aufgeschlagen hatte und an der Ostküste eine Reihe von Büros aufgemacht hatte.1 Die Wege der kritischen Theoretiker im Exil hatten sich getrennt: In Kalifornien aber wurden ebenso wie in Washington enorme intellektuelle Anstrengungen unternommen, um zu begreifen, was in Europa geschah und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien.

      Die gemeinsame Wurzel der kalifornischen und der Washingtoner Aktivitäten liegt in der vorangegangenen Praxis des Instituts für Sozialforschung an der New Yorker Columbia Universität, in deren Rahmen auch die ersten Papiere Marcuses zum Nationalsozialismus entstanden sind. Das Überwintern der aus Deutschland geflohenen kritischen Theoretiker im US-amerikanischen Exil ist schon immer geheimnis-, wenn nicht geheimdienstumwittert gewesen. Der Name Kritische Theorie läßt sich sinnvoll auf Max Horkheimer als ihren Begründer zurückführen. Sein auf die deutschsprachige Emigration programmatisch wirkender Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« erschien 1937 in der im Exil fortgeführten »Zeitschrift für Sozialforschung«. Konstitutiv für die Kritische Theorie ist die Erfahrung einer gescheiterten Revolution. Das gilt nicht erst für die weltgeschichtliche Zäsur, die mit den »Moskauer Prozessen« von 1936 gekommen war.

      Von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung vernachlässigt wurde das Scheitern der Revolution als entscheidender Impuls kritischer Theoriebildung schon zu Zeiten der Weimarer Republik. Das Gründungsjahr des Frankfurter Instituts für Sozialforschung 1923 fällt definitiv mit dem Ende der revolutionären Kämpfe in Deutschland zusammen. Ohne die zielstrebige Initiative von Max Horkheimer und seinem Freunde Friedrich Pollock, die auch mit Felix Weil den entscheidenden Geldgeber fanden, wäre es nie zur Institutsgründung gekommen. Nicht die Hoffnung auf eine unmittelbar bevorstehende Revolution motivierte sie, sondern eben die Erfahrung des Scheiterns machte ein neues Nachdenken über die Revolution notwendig. Erst die Distanz zur Alltagspraxis der politischen Bewegungen ermöglichte Kritische Theorie. Max Horkheimer wird dieser Zusammenhang erst später im Exil wirklich bewußt und erst dort erfindet er auch den Namen Kritische Theorie. Horkheimers genuine politische Leistung besteht in der bewußten organisatorischen Trennung der Theorie von der Macht. Das unterscheidet ihn von bedeutenden intellektuellen Köpfen zur Zeit der Weimarer Republik – Ernst Bloch, Georg Lukács und Karl Korsch, die alle in schier endlose Beziehungsgeschichten mit der Kommunistischen Partei verstrickt blieben.

      Horkheimer und Pollock verstanden es vor 1933 geschickt, den Einfluß der Sozialdemokratie vor allem in Preußen zu nutzen, ohne deren Programm zu teilen. Skeptisch standen die Frankfurter lange vor 1933 beiden Strömungen der Arbeiterbewegung gegenüber, die nicht nur den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland nicht hatten verhindern können. Die Erfahrungen der Novemberrevolution 1918, die nach den Worten des Revolutionärs Karl Retzlaff treffender als Novembersturz des Hauses Hohenzollern zu bezeichnen ist, gaben nachdenklichen Menschen ebensowenig Anlaß zu Hoffnungen auf eine neue tiefgreifendere Revolution wie die erschreckenden Nachrichten aus dem nachrevolutionären Rußland. Vom neu gegründeten Institut unternommene soziologische Untersuchungen machten auf die Diskrepanz zwischen alltäglichen Einstellungen von Arbeitern und Angestellten und ihren politischen Konfessionen aufmerksam. Die Entdeckung der »Authoritarian Personality«, des Autoritären Charakters, fällt schon in die Weimarer Zeit und wurde später am US-amerikanischen Material bestätigt. Er wurde gerade nicht – wie in späteren Verballhornungen – auf einen angeblichen deutschen »Volkscharakter« zurückgeführt. Horkheimer machte Autorität als Dreh- und Angelpunkt einer Vermittlung von Gesellschaftstheorie und psychoanalytisch reflektierter Sozialpsychologie zum zentralen Forschungsgegenstand des Instituts.

      Die aus dem Nachlaß von Peter-Erwin Jansen zusammengestellten Schriften zeigen keinen ganz anderen Marcuse, sondern den vergessenen, den der sozialen Amnesie Anheimgefallenen. Mit dem allgemeinen Affekt gegen »68« ist auch Marcuse auf den Kehrichthaufen der Feuilletons geworfen worden. Über seine Rolle in den USA und Deutschland um 1968 existieren mehr oder weniger falsche Gerüchte, die sogar Eingang in die Werke renommierter Intellektueller gefunden haben. Texte wie die hier edierten bringen wieder an den Tag, warum Herbert Marcuse unter jungen Intellektuellen in Deutschland Mitte der sechziger Jahre eine solche Verehrung genoß. 1964 hielt Herbert Marcuse auf dem 15. Deutschen Soziologentag in Heidelberg eine Rede über »Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers«, die ihn zum Geheimtip bei der jungen sozialwissenschaftlichen Intelligenz Deutschlands machte. In dieser Rede tauchen nahezu alle die kritischen Momente auf, die schon in Marcuses Arbeiten aus den dreißiger und vierziger Jahren zu finden sind. Herbert Marcuse trat gleichzeitig als Deutschlandkritiker und als Kritiker einer eindimensional verkürzten Moderne auf.