Название | Nachgelassene Schriften / Feindanalysen |
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Автор произведения | Herbert Marcuse |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783866743526 |
Die gemeinsame Wurzel der kalifornischen und der Washingtoner Aktivitäten liegt in der vorangegangenen Praxis des Instituts für Sozialforschung an der New Yorker Columbia Universität, in deren Rahmen auch die ersten Papiere Marcuses zum Nationalsozialismus entstanden sind. Das Überwintern der aus Deutschland geflohenen kritischen Theoretiker im US-amerikanischen Exil ist schon immer geheimnis-, wenn nicht geheimdienstumwittert gewesen. Der Name Kritische Theorie läßt sich sinnvoll auf Max Horkheimer als ihren Begründer zurückführen. Sein auf die deutschsprachige Emigration programmatisch wirkender Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« erschien 1937 in der im Exil fortgeführten »Zeitschrift für Sozialforschung«. Konstitutiv für die Kritische Theorie ist die Erfahrung einer gescheiterten Revolution. Das gilt nicht erst für die weltgeschichtliche Zäsur, die mit den »Moskauer Prozessen« von 1936 gekommen war.
Von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung vernachlässigt wurde das Scheitern der Revolution als entscheidender Impuls kritischer Theoriebildung schon zu Zeiten der Weimarer Republik. Das Gründungsjahr des Frankfurter Instituts für Sozialforschung 1923 fällt definitiv mit dem Ende der revolutionären Kämpfe in Deutschland zusammen. Ohne die zielstrebige Initiative von Max Horkheimer und seinem Freunde Friedrich Pollock, die auch mit Felix Weil den entscheidenden Geldgeber fanden, wäre es nie zur Institutsgründung gekommen. Nicht die Hoffnung auf eine unmittelbar bevorstehende Revolution motivierte sie, sondern eben die Erfahrung des Scheiterns machte ein neues Nachdenken über die Revolution notwendig. Erst die Distanz zur Alltagspraxis der politischen Bewegungen ermöglichte Kritische Theorie. Max Horkheimer wird dieser Zusammenhang erst später im Exil wirklich bewußt und erst dort erfindet er auch den Namen Kritische Theorie. Horkheimers genuine politische Leistung besteht in der bewußten organisatorischen Trennung der Theorie von der Macht. Das unterscheidet ihn von bedeutenden intellektuellen Köpfen zur Zeit der Weimarer Republik – Ernst Bloch, Georg Lukács und Karl Korsch, die alle in schier endlose Beziehungsgeschichten mit der Kommunistischen Partei verstrickt blieben.
Horkheimer und Pollock verstanden es vor 1933 geschickt, den Einfluß der Sozialdemokratie vor allem in Preußen zu nutzen, ohne deren Programm zu teilen. Skeptisch standen die Frankfurter lange vor 1933 beiden Strömungen der Arbeiterbewegung gegenüber, die nicht nur den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland nicht hatten verhindern können. Die Erfahrungen der Novemberrevolution 1918, die nach den Worten des Revolutionärs Karl Retzlaff treffender als Novembersturz des Hauses Hohenzollern zu bezeichnen ist, gaben nachdenklichen Menschen ebensowenig Anlaß zu Hoffnungen auf eine neue tiefgreifendere Revolution wie die erschreckenden Nachrichten aus dem nachrevolutionären Rußland. Vom neu gegründeten Institut unternommene soziologische Untersuchungen machten auf die Diskrepanz zwischen alltäglichen Einstellungen von Arbeitern und Angestellten und ihren politischen Konfessionen aufmerksam. Die Entdeckung der »Authoritarian Personality«, des Autoritären Charakters, fällt schon in die Weimarer Zeit und wurde später am US-amerikanischen Material bestätigt. Er wurde gerade nicht – wie in späteren Verballhornungen – auf einen angeblichen deutschen »Volkscharakter« zurückgeführt. Horkheimer machte Autorität als Dreh- und Angelpunkt einer Vermittlung von Gesellschaftstheorie und psychoanalytisch reflektierter Sozialpsychologie zum zentralen Forschungsgegenstand des Instituts.
Herbert Marcuse kam erst nach 1933 zum Institut.2 Seine Erfahrungen mit der Novemberrevolution von 1918 waren, wie er auch noch im Alter hervorhob, praktischer Art. Marcuse hatte die Praxis der Sozialdemokratie in Berlin am eigenen Leib als Teilnehmer der Rätebewegung erfahren. Er gab der SPD eine Mitschuld an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Das Auseinanderfallen von politischer Rhetorik und konkreter individueller Existenz veranlaßte Marcuse, nach neuen philosophischen Begriffen zu suchen. Marcuses ernsthaftes Studium von Heideggers Philosophie belegt ihre Aktualität nach dem Zusammenbruch der neoidealistischen Renaissancen. Noch in seinem Skript über »Deutsche Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert« (1940) erscheint Heidegger weder nur als großer Philosoph noch als bloßer Nazi. Marcuse ist wirklich einer »neuen deutschen Mentalität« auf der Spur. Seine lebensgeschichtliche Erfahrung mit der Kriegs- und Nachkriegsgeneration im Deutschland nach 1914 brachte Marcuse auf eine richtige Fährte. Der Nationalsozialismus wird in seinen Analysen weniger aus der deutschen nationalkulturellen Kontinuität begründet, sondern eher aus dem Bruch mit der Tradition.
Die aus dem Nachlaß von Peter-Erwin Jansen zusammengestellten Schriften zeigen keinen ganz anderen Marcuse, sondern den vergessenen, den der sozialen Amnesie Anheimgefallenen. Mit dem allgemeinen Affekt gegen »68« ist auch Marcuse auf den Kehrichthaufen der Feuilletons geworfen worden. Über seine Rolle in den USA und Deutschland um 1968 existieren mehr oder weniger falsche Gerüchte, die sogar Eingang in die Werke renommierter Intellektueller gefunden haben. Texte wie die hier edierten bringen wieder an den Tag, warum Herbert Marcuse unter jungen Intellektuellen in Deutschland Mitte der sechziger Jahre eine solche Verehrung genoß. 1964 hielt Herbert Marcuse auf dem 15. Deutschen Soziologentag in Heidelberg eine Rede über »Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers«, die ihn zum Geheimtip bei der jungen sozialwissenschaftlichen Intelligenz Deutschlands machte. In dieser Rede tauchen nahezu alle die kritischen Momente auf, die schon in Marcuses Arbeiten aus den dreißiger und vierziger Jahren zu finden sind. Herbert Marcuse trat gleichzeitig als Deutschlandkritiker und als Kritiker einer eindimensional verkürzten Moderne auf.
Sein 1964 auf englisch erschienenes Buch »Der eindimensionale Mensch« wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch in USA als Schlüsselbuch der sechziger Jahre angesehen. Nach dem Pariser Mai 1968 war das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach intellektuellen Vätern der weltweiten Revolte so groß, daß man in Marcuse den Kopf hinter den leidenschaftlichen Protestbewegungen zu erkennen glaubte. Der täuschende Schein, Herbert Marcuse habe mit seiner intellektuellen Arbeit die Revolte ausgelöst, konnte nur aufkommen, weil er über Jahrzehnte eben die Realitätsmomente herausgearbeitet hatte, die um 1968 in der gesamten westlichen Welt zum Stein des Anstoßes wurden. Mitte der sechziger Jahre kam – ausgelöst durch das Erschrecken über den Vietnamkrieg – unübersehbar ans Tageslicht, daß die antifaschistische Legitimation, von der die westliche Welt seit dem Kampf gegen Hitlerdeutschland gezehrt hatte, unglaubwürdig geworden war. Die Analysen Marcuses erinnerten wieder an den demokratischen Impuls, der dem American Way of Life nach 1945 seine politisch überzeugende Gestalt gegeben hatte. Die Kinder der Re-education erkannten in Marcuses Arbeiten die Sprache der Befreiung wieder. Deswegen wirkte er in Deutschland auf besondere Weise.3
In der Tat: An der Analyse Deutschlands hat Marcuse die Kategorien gewonnen, mit denen er den Übergang in ein nachliberalistisches Zeitalter beschreibt. Für einen Moment nämlich – von der Mitte der dreißiger bis Mitte der vierziger Jahre – stand Deutschland im Mittelpunkt der Weltgeschichte. Die politisch-intellektuellen Interessen des aus Deutschland