Der Versteckspieler. Herbert Günther

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Название Der Versteckspieler
Автор произведения Herbert Günther
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783866741324



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herunter, schnitt sich den Hals ab und wurde auf dem Kirchhofe dicht vor meinem Kammerfenster begraben. Und von nun an zwang er mich allnächtlich, auch in der heißesten Sommerzeit, ganz unter der Decke zu liegen. Bei Tag ein Freigeist, bei Nacht ein Geisterseher.

      Die enge Nachbarschaft von Leben und Tod hat ihn auch in Ebergötzen tief beeindruckt. Die findet er im Märchen wieder. Märchenlesen — das nennt er noch vor dem Zeichnen bei der Aufzählung seiner Lieblingsbeschäftigungen in dieser Zeit.

      Nur einmal ist der Vater aus Wiedensahl zu Besuch in Ebergötzen. Was er hört und sieht, stellt ihn zufrieden. Man muss ihm ja nicht alles auf die Nase binden. Die freireligiösen Schriften zum Beispiel auf Brümmers Klavier. Die Phantasiestürme um Hannchen Lovis. Seine einsamen Grübeleien über Gott und die Welt. Die Einzelheiten seiner Streifzüge mit Erich Bachmann. Nach solchen Sachen fragt der Vater sowieso nicht.

      Friedrich Wilhelm Busch ist mit seinem Schwager zufrieden. Nachdem er das Experiment Wilhelm für gelungen hält, schickt er später auch Sohn Otto zur Erziehung zum Onkel.

      Erst nach drei Jahren kommt Wilhelm zum ersten Mal wieder nach Wiedensahl. Für ein paar Wochen zu Hause auf Besuch. Seine Mutter ist gerade auf dem Weg ins Feld, da kommt er an.

       Ich kannte sie gleich, erzählt er später über diese Begegnung. Aber sie kannte mich nicht, als ich an ihr erst mal vorbeiging …

      Was für eine Verletzung für den Zwölfjährigen. Spontan vergilt er Gleiches mit Gleichem. Er geht an der Mutter vorbei, als kenne auch er sie nicht mehr.

      Was bleibt, ist Bitterkeit. Am Ende ist jeder ganz allein auf der Welt, heißt die Logik. Am Ende ist von keinem etwas zu erwarten.

      Fünf Jahre dauert die zweite, die bessere Kindheit in Ebergötzen. Dann steht ein neuer Abschied bevor. Familie Kleine bezieht im Herbst 1846 das geräumige Pfarrhaus in Lüthorst am Solling und mit ihr Wilhelm. Georg Kleine übernimmt die besser bezahlte Pfarrstelle von seinem Schwiegervater. Es ist das dritte niedersächsische Bauerndorf, in dem Wilhelm nun lebt.

      Lüthorst in dieser Zeit ist ein armes Dorf in einem armen Landstrich, von dem viele sich abgewandt haben, um in der Neuen Welt über dem großen Teich ihr Glück zu versuchen. In Lüthorst gibt es eine größere jüdische Gemeinde, eine geduldete Minderheit in protestantisch geprägter Umgebung.

      Pastor Georg Kleine 1X69. Ölbild von Wilhelm Busch

      Die Juden gehören zu den Ärmsten im Dorf. Später wird Wilhelm sie malen, den Rabbi von Lüthorst, viele jüdische Kinder. Die Ölbilder der etwa zehnjährigen Line Weißenborn werden zu den beeindruckendsten Porträts zählen, die ihm gelingen.

      Einen Freund wie Erich Bachmann hat er in Lüthorst nicht. Dafür stürzt er sich umso mehr aufs Zeichnen, Naturbeobachten, Märchenlesen und auf die einsame Grübelei. Und die Unterrichtsstunden beim Onkel erweitern und intensivieren sich nun.

       In den Stundenplan schlich sich nun auch Metrik ein. Dichter, heimische und fremde, wurden gelesen. Zugleich fiel mir die Kritik der reinen Vernunft in die Hände, die, wenn auch damals nur spärlich durchschaut, doch eine Neigung erweckte, in den Laubengängen des intimeren Gehirns zu lustwandeln, wo’s bekanntlich schön schattig ist, oder in der Gehirnkammer Mäuse zu fangen, wo es nur gar zuviel Schlupflöcher gibt.

      Wohin mit der Grübelei? Auch dem Onkel wird er nicht alles mitteilen können, was da in seiner Gehirnkammer herumspukt. Es fehlt an Begriffen dafür. Auch soll der Onkel nicht denken, dass er anmaßend wäre. Natürlich hat er Kants Kritik der reinen Vernunft noch längst nicht begriffen. Aber da ist etwas, das ihn nicht loslässt. Er will sich nicht zufrieden geben mit der Oberfläche der Dinge, er will ihnen auf den Grund gehen. Und wenn er diese Art von Lebendigkeit nicht nach außen richten kann, weil er nirgendwo ein angemessenes Echo dafür findet, muss er sie nach innen wenden, muss ganz allein damit fertig werden, egal was alle Welt dazu sagen wird. Mehr und mehr werden die Laubengänge seines intimeren Gehirns zu Geheimkammern, in denen er sein Bild von der Welt und den Menschen aufbewahrt, an das niemand rühren soll.

      So kann er sich insgeheim auch über die Ehrfurcht fordernde Erwachsenenwelt erheben, kann ihre Schwächen durchschauen. Zwangsläufig wird ihm dadurch die Welt zur Groteske. Immer deutlicher sieht er zuerst die komische Seite des scheinbar so ernsthaften Erwachsenenalltags. Die Geburtswehen des Humoristen entstehen aus der Beobachtung der Widersprüche der Welt.

      In seiner Autobiographie beschreibt er später eine Beobachtung aus Lüthorst wie eine Theaterszene. Ähnlich wird er sie in seinen Bildergeschichten oft darstellen:

       Unter meinem Fenster murmelte der Bach. Gegenüber am Ufer stand ein Haus, eine Schaubühne ehelichen Zwistes; der sogenannte Hausherr spielt die Rolle des besiegten Tyrannen. Ein hübsches natürliches Stück; zwar das Laster unterliegt, aber die Tugend triumphiert nicht. Das Stück fing an hinter der Szene, spielte weiter auf dem Flur und schloss im Freien. Sie stand oben vor der Tür und schwang triumphierend den Reiserbesen, er stand unten im Bach und streckte die Zunge heraus; so hatte er auch seinen Triumph.

      Ostern 1847 wird der fünfzehnjährige Wilhelm Busch in der Dorfkirche in Lüthorst von seinem Onkel konfirmiert. »Es verwunderte und ergötzte ihn noch der Gedanke daran, dass er und seine dörflichen Mitkonfirmanden in schwarzen Schoßröcken und Zylindern zu dieser Feier erscheinen mussten«, weiß sein Neffe später zu berichten.

      Konfirmation bedeutet damals auch den offiziellen und endgültigen Schlusspunkt unter die Kindheit. Der »Ernst des Lebens« begann. Der Eintritt in die Arbeitswelt stand bevor.

      Nach dem Wunsch des Vaters soll Wilhelm Maschinenbauer werden. Um dieses handfeste und zukunftssichere Ziel zu erreichen, muss er die Polytechnische Schule in Hannover besuchen. Der Privatunterricht von Onkel Kleine hat ihn auf diese Art von Karriere denn doch nicht sonderlich gut vorbereitet. Er kann anderes, ihn interessiert anderes. Dennoch fügt er sich.

       Sechzehn Jahre alt, ausgerüstet mit einem Sonett und einer ungefähren Kenntnis der vier Grundrechnungsarten, erhielt ich Einlaß zur Polytechnischen Schule in Hannover.

      Für einen Besuch in Wiedensahl bleibt keine Zeit. Dort ist man beschäftigt mit dem Bau des neuen Hauses. So geschieht sein »Eintritt ins Leben« ohne die Nähe der Eltern. Zu Fuß und mit dem Omnibus reist er von Lüthorst über Einbeck und Alfeld nach Hannover, fast eine Tagesreise damals.

      In Hannover wohnt er im Haus des Rechtsanwalts und Notars Christian Hermann Ebhardt, der mit einer Kusine seiner Mutter verheiratet ist. Unter verwandtschaftlicher Obhut wird er dazu angehalten, neben der gewissenhaften Erfüllung seiner mathematisch-technischen Schulpflichten auch Sprachstudien in Englisch und Französisch zu treiben, die der Onkel ihm nicht vermitteln konnte. Auch Schwimmunterricht nimmt er in Hannover.

      Aber schwimmen kann er noch lange nicht. Wie tapsig und ungeschickt der Junge vom Dorf seine ersten Schritte in der Stadt setzt, beschreibt er selbst in seiner Erinnerung, wobei die Ironie des Alters die Peinlichkeit der Situation längst überdeckt:

       Hier ging mit meinem Äußeren eine stolze Veränderung vor. Ich kriegte die erste Uhr — alt, nach dem Kartoffelsystem — und den ersten Paletot (frz. Überzieher, Herrenmantel) — neu, so schön ihn der Dorfschneider zu bauen vermochte. Mit diesem Paletot, um ihn recht sehen zu lassen, stellte ich mich gleich den ersten Morgen sehr dicht vor den Schulofen. Eine brenzlige Wolke und die freudige Teilnahme der Mitschüler ließen mich ahnen, was hinten vor sich ging. Der umfangreiche Schaden wurde kuriert nach der Schnirrmethode, beschämend zu sehn; und nur noch bei äußerster Witterungsnot ließ sich das einst so prächtige Kleidungsstück auf offener Straße blicken.

      Mit Fleiß und Eifer versucht er, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen, gegen sich selbst anzuarbeiten, sich vom Makel der Provinzialität zu lösen. Seine Mutter versucht er vom verbissenen Ernst seiner Bemühungen zu überzeugen:

       … indeß, ich weiß selbst am besten, wie es mit mir steht. Es ist für mich nicht allein nötig, daß ich den Vortrag