Schlacht um Sina. Matthias Falke

Читать онлайн.
Название Schlacht um Sina
Автор произведения Matthias Falke
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783957770295



Скачать книгу

Alleinsein war der einzige Zustand, in dem er die metaphysische Einsamkeit, in der er hier draußen lebte, ertragen konnte. Manchmal ließ er die Kugel mit klassischer Musik beschallen. Aber auch das schien ihm zunehmend unangemessen. Selbst die erhabensten Klänge eines Bach, eines Mozart, eines Anton Bruckner kamen ihm unpassend vor angesichts der Weite und Öde, in die er immer manischer hinausstarrte. Er kam sich dabei vor wie ein Teenager, der eine Filmdiva, eine Königin, eine Göttin mit peinlicher Pennälerlyrik bedrängte. Dann zog er die Stille und das Schweigen vor.

      Entgegen seiner früheren Gewohnheit, die ihm Svetlanas Nähe hatte unentbehrlich erscheinen lassen, fand er sich auch damit ab, auf ihre Anwesenheit und ihre körperliche Berührung zu verzichten, die er über Jahre hinweg kaum preisgegeben hatte. Ihre Unbekümmertheit, die ihn während des Betriebs aufgeheitert und erfrischt hatte, wurde ihm ungenießbar. Immer öfter ertappte er sich dabei, dass er ihr Geplapper und ihr pausenloses Herumgefummel an seinen Händen, seinen Ohren, seinem Haar enervierend fand. Und so zog er sich in den Ausguck zurück, eine winzige, an alte Planetarien erinnernde Kuppel aus polarisiertem Elastilglas, die kaum fünf Meter im Durchmesser hatte und wo er mit der unbegreiflichen Gleichgültigkeit der Schöpfung allein sein konnte.

      Eine Zeitlang hatte er sich mit Laertes, dem selbsternannten Chefideologen der MARQUIS DE LAPLACE, zu unregelmäßigen Zusammenkünften in den kleinen Bars und SkyLounges getroffen, deren es unzählige an Bord des riesigen Schiffes gab. Aber der alte Philosoph hatte sich sowohl als Ratgeber, wie auch als Tröster ungeeignet erwiesen. Er dachte in Maßstäben, in denen der individuelle Tod nicht der Rede wert und das Verschwinden der Menschheit eine Belanglosigkeit war. Die aktuellen politischen oder physikalischen Ereignisse trotzten ihm kaum ein Schulterzucken ab. Und so hatte der Commodore auch diese Gespräche, wo nicht eingestellt, doch ihren Rhythmus immer langwelliger zu gestalten gewusst. Das Alltagsleben auf der MARQUIS DE LAPLACE ging seinen Gang. Die weiteren Geschehnisse lagen im Dunkeln. Die machtpolitische und militärische Lage war ebenso verworren und undurchdringlich wie die ekelerregende und nichtvorhandene Wolke, die er gesehen hätte, wenn er seinen gravimetrischen Sessel um 180° herumgeschwenkt hätte – wozu er sich aber nicht verstand.

      Und doch war heute etwas anders. Zum erstenmal seit Monaten und Jahren döste er nicht schlechtgelaunt und schlaflos in die Unendlichkeit hinaus. Er wartete. Er musterte den Horizont, dieses im freien Kosmos so allgegenwärtige und erdrückende Etwas, nicht mehr wie ein alter Poet, der träumerisch aufs Meer hinausblickt, sondern wie ein Mann, der fest mit einem ganz bestimmten Ereignis rechnet und es mit fiebernden Pulsen herbeisehnt. Er hatte sich zu einer Handlung entschlossen, die ihm schon lange als Ultima ratio bewusst gewesen war, die in die Tat umzusetzen er jedoch immer wieder aufgeschoben hatte. Er war sich über das Risiko und die Unwiederholbarkeit des Schrittes im klaren. Aber es kommt bei jeder Phase der Passivität der Punkt, an dem man die Aktion dem Nichtstun vorzuziehen beginnt und sich zu Entscheidungen hinreißen lässt, die rational nicht mehr zu erklären sind. Sie speisen sich aus der Leere, die man mit ihnen füllt. Sie schlagen eine Bresche in die Zeit, die ein horizontloser Ozean zu werden drohte und die nun wieder ein gerichteter Strom ist. Lieber noch ein schäumendes Katarakt als das ortlose Überall und Nirgendwo. Wiszewsky wusste, dass ein Außenstehender seine Tat als Kurzschlusshandlung würde bewerten müssen. Er wusste auch, dass er sich der größten Herausforderung gegenübergesehen hatte, die das Raumfahrtzeitalter an den menschlichen Geist stellte, und dass er vor ihr versagt hatte. Nicht neuartige Antriebe, dachte es in ihm, während er die Unendlichkeit kontemplierte, nicht stärkere Reaktoren, raffiniertere Mathematiken oder größere Schiffe waren die eigentliche Herausforderung, die das intergalaktische Saeculum an den Menschen richtete, sondern mit der Leere fertig zu werden, mit der Weite, mit der blanken Unermesslichkeit, die den Geist angriff und das Sein infrage stellte. Jahrelang dazusitzen und zu warten und das Nichts vor Augen zu haben – das war eine Prüfung, der Wiszewsky sich am Ende nicht mehr gewachsen fühlte.

      Und die Ereignisse schienen ihm recht zu geben. Plötzlich ging etwas vor. Er spürte, dass sich etwas ergab. Dazu war es nicht nötig, dass Alarm gegeben wurde oder dass sein privater Kommunikator, dessen Code nur eine Handvoll Menschen an Bord des Schiffes kannten, aktiviert wurde. Er war mit dem ganzen Leib der MARQUIS DE LAPLACE – trotzdem große Segmente herausgelöst worden waren, immer noch mehr als zehn Kilometer Titanstahl – so verwachsen, dass er mit dem sechsten Sinn registrierte, wie etwas passierte. Es bedurfte keiner Sirenen und keiner aufgeregten Adjutanten. Er hatte es selber in die Wege geleitet, und er hatte es herbeigewartet. Außer Svetlana und den Mitarbeitern seines engsten Beraterstabes wusste niemand, was unternommen worden war. Umso größer würde die Überraschung nun für die vieltausendköpfige Besatzung werden.

      Und während er noch spürte, wie das Schiff unter ihm erwachte, wie Instrumente ansprachen, Blinklichter rotierten, Mannschaften auf Posten kommandiert wurden und tausenderlei automatische Routinen anliefen, sah er es schon. Der Anblick trieb ihm das Wasser in die Augen. Sie kamen von der Backbordseite, um eine Ausbuchtung der Dunkelwolke herum, die eine frühere Entdeckung verhindert hatte. Die Bewegung war erst schemenhaft, dann wuchs sie rasch zu einer kompakten Machtdemonstration heran. Aus einer flächigen Ansammlung weißer und blauer Lichtflecken stachen einzelne hervor. Ihr Strahlen schwoll an, gleichzeitig bekam es einen schwarzen Corpus. Die Flotte war sehr weitläufig auseinandergezogen. Nur die größten und nächsten Schiffe waren als solche zu erkennen. Sie schwebten in einem Hof von Positionslichtern wie Klumpen von Neutronen in der flimmernden Elektronenwolke. Ein schweres Schlachtschiff führte den Verband. Obwohl er noch nicht offiziell alarmiert worden war, wusste Wiszewsky, dass es auf allen Frequenzen den Friedenscode der Union funkte. Es musste ein neugebautes Schiff sein. Als die MARQUIS DE LAPLACE vor etlichen Jahren den erdnahen Raum verlassen und die leidgeprüfte Menschheit sich selbst überlassen hatte, hatte die Union über kein Schiff mehr verfügt, das größer als ein ziviler Frachter war. Aber das hier war eindeutig ein Zerstörer. Er wurde eskortiert von einer gewaltigen Armada sekundärer Unterstützungsschiffe, deren Funktionen im einzelnen nicht auszumachen war. Eines davon setzte gerade eine Drohne aus. Wiszewsky konnte den gleißenden blauen Lichtpunkt erkennen, der sich von der klobigen schwarzen Schiffsmasse löste. Er rechnete damit, dass eine Delegation in einem kleinen Shuttle herüberkommen würde, als der Lichtpunkt so hell aufglühte, dass die Kuppelautomatik selbsttätig die Polarisierung der Elastalscheiben verstärkte. Die blendende, weißblaue Kugel schoss mit irrwitziger Geschwindigkeit nach rechts davon – und verschwand in einem letzten Lichtblitz. Offenbar hatte sie einen Warpkorridor geöffnet. Während der Commodore sich noch fragte, was das zu bedeuten habe, britzelte und prickelte es quer durch die noch unkörperliche Wolke, in der er nur das Geschwader kleinerer Hilfsschiffe vermuten konnte. Das ganze Feld loderte auf, als sei es von einem Ionensturm getroffen. Und Dutzende der einzelnen Lichtpunkte folgten dem Beispiel des ersten, der sich in den Hyperraum katapultiert hatte. Wiszewsky kratzte sich am Kopf. Dann aktivierte er den Kommunikator, dessen Meldung er schon seit geraumer Zeit unterdrückt hatte, und begab sich hinunter in seine Suite, um die Galauniform anzulegen.

      Ein untersetzter Mann im Feldgrau der Neuen Union kam mit kurzen, aber energischen Schritten auf die Brücke gestiefelt. Einige Offiziere und Adjutanten begleiteten ihn. Er hatte einen kreisrunden Schädel, graues Stoppelhaar und einen weißen, ebenso kurz gehaltenen Bart. Seine Augen leuchteten im Blau des Nordatlantiks, sein Gesicht war von Wind und Wetter zu braunem Leder gegerbt. Er sah eher aus wie ein alter Seemann als wie ein General – als den ihn die Epauletten auswiesen –, der einen intergalaktischen Kreuzer befehligte. Wiszewsky wusste, dass die Union ihre Kommandanten noch immer gerne aus Fregatten- und Corvettenkapitänen rekrutierte. Dieser Mann konnte jedenfalls nicht verbergen, dass er in seiner Jugend noch leibhaftig zur See gefahren war; auch wenn dies mehrere Jahrzehnte zurücklag.

      Er nahm Wiszewsky gegenüber Haltung an, salutierte und machte Meldung in einer Art, die nachlässig war, aber nachlässig, wie nur ein von der Zeit verschliffener eiserner Drill sein konnte. Diese Form von Laxheit war durch Welten vom Schlendrian jüngerer Offiziere geschieden.

      »General Andresen«, bellte er. »Kommandant des Schweren Kreuzers EREBUS, Führer der Teilstreitkräfte, die ...«

      Wiszewsky winkte ab. »Ersparen Sie uns das«, sagte er. »Ich bin Commodore Wiszewsky, Kommandant der MARQUIS DE LAPLACE. Seien Sie herzlich willkommen!«

      Er drehte sich zu Svetlana um,