Название | Der Actinidische Götze |
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Автор произведения | Matthias Falke |
Жанр | Научная фантастика |
Серия | |
Издательство | Научная фантастика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957770271 |
Am vierten Tag passierten wir das Tor des Todes, jene Stelle, an der das Kaligan-Tal den Hauptkamm der Ilaya-Kette durchschneidet. Hier mussten auch wir auf die Talsohle hinab, die an der schmalsten Stelle nur noch zwanzig Meter breit war. Lotrecht stiegen zu beiden Seiten die kilometerhohen Felswände in den Himmel, der weit oben als schmaler blauer Strich sichtbar war. Der heiße staubgesättigte Wind donnerte durch die Schlucht und schliff ihre Seitenwände ab, die kein Künstler glatter hätte polieren können. Ab und zu lösten sich Felsbrocken aus der Wand und stürzten herunter. Sie wurden vom Sturm davongetragen und zu Pulver zerrieben, ehe sie unten aufgeschlagen waren. In Decken, Tücher und Turbane gehüllt, so dass wir von den gewöhnlichen Pilgern nicht mehr zu unterscheiden waren, schleppten wir uns durch diesen Engpass. Der Wind drückte und schob mit unwiderstehlicher Kraft von hinten, aber ihm nachzugeben hätte die Gefahr des Strauchelns mit sich gebracht. Und wenn man die Hand oder das Gesicht nur einen Sekundenbruchteil ungeschützt ließ, schälte der Sturm einem die Haut von den Knochen. Ich hatte der Versuchung nachgegeben und die Abschirmung meines generatorgestützten Anzugs aktiviert. Das stabilisierte mich in den Böen und verhinderte, dass der staubfeine Sand auch noch in die letzte meiner Poren und Körperöffnungen eindrang. Jennifer tadelte mich deswegen. Sie legte Wert darauf, den Aufstieg ohne solche Hilfsmittel zu absolvieren. Ich konnte nur entgegnen, dass ich kein Angehöriger dieser Religion sei. Im übrigen war ich eigentlich zu meinem Vergnügen hier. Mir taten vor allem die Pilger leid, die sich, oft nur notdürftig in Lumpen gehüllt, einer den Windschatten des anderen suchend, Schritt für Schritt durch dieses Fegefeuer quälten. Ich wusste, dass sie mein Mitleid nicht wollten. Manchmal erhaschte ich einen Blick aus dem Sehschlitz eines Turbans und sah das inbrünstige Leuchten, das die Augen dieser Gläubigen erfüllte. Je mörderischer die Widerstände, die es zu überwinden galt, umso herrlicher würde die Gnade sein, der sie oben teilhaftig wurden. Es gab aber auch Zwischenfälle, die mir das Blut in den Adern erstarren ließ und die dieses Streben nach Erleuchtung eher wieder in ein zwiespältiges Licht tauchten. Eine Familie zog neben uns durch die Engstelle. Die Frauen vor den Männern, um von ihrem Schutz zu profitieren. Alle zusammen im Windschatten einiger Tragtiere, deren Flanken mit groben Decken verhüllt und mit der Ausrüstung für die mehrwöchige Reise bepackt waren. Eines der kleinwüchsigen Kamele, wie sie die Nomaden auf Musan noch häufig halten, ging durch. Der Anlass war nicht erkennbar. Vielleicht hatte der Wind es von rückwärts gegen den vor ihm gehenden Menschen geschoben. Diese Tiere sind, bei all ihrer Zähigkeit und Widerstandskraft, für ihre große Sensibilität bekannt. Einmal darauf abgerichtet, ihren Besitzern keinen Schaden zuzufügen, würden sie eher in einen Abgrund hinunterspringen, als einen Menschen hinunterzustoßen oder ihn auch nur zu touchieren. Das Tier bäumte sich auf. Einige der Packlasten fielen herunter. Dazwischen auch ein Kind, das in ein Bündel von Decken verschnürt, auf dem Tragtier festgebunden gewesen war. Noch im Fallen wurden ihm, als es der vollen Wucht des Orkans ausgesetzt war, die Kleider vom Leib gefetzt. In Sekunden riss der Sturm ihm die Haut und das Fleisch von den Knochen, schmirgelte das letzte Blut von ihnen ab und riss sie mit sich fort, wobei sie in der Luft zu immer kleineren Spänen zerrieben wurden. Es gelang dem Karawanenführer, das Tier wieder zu bändigen. Die losen Packlasten hatte ebenfalls der Sturm davongeführt. Die Gruppe setzte ihren Weg fort, ohne ein Zeichen des Bedauerns erkennen zu lassen. Jeder Aufenthalt an dieser Stelle hätte weitere Gefahren bedeutet. Allenfalls die Mutter des Kleinen schien leise vor sich hinzuwimmern, aber auch diese Laute wurden vom Brüllen des Orkans überschrien. Mir graute vor dem Rückweg.
Nach endlosen Stunden, die mir wie Wochen vorkamen, verbreiterte sich die Schlucht allmählich. Die Landschaft weitete sich. Der Wind ging auf das frühere Maß zurück; Er war zwar immer noch so stark, dass er einen aufrecht Stehenden umwerfen konnte, stellte aber keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben mehr dar. Das Gebirge trat auseinander, und wir standen im Fußpunkt eines gewaltigen Amphitheaters. Zu allen Seiten stiegen Hochtäler und Bergkämme in den Himmel. Weit voraus, tausende Meter über uns und in der klaren Luft trügerisch nah, sahen wir die Große Gompa von Loma Ntang: ein purpurroter Würfel, umgeben von strahlend weißen Nebengebäuden, hockte das Kloster wie eine uneinnehmbare Festung auf der Spitze eines ebenmäßigen Bergkegels. Noch viele, viele Stunden Weges waren es bis dorthin, und doch schien das Ziel schon zum Greifen nah. In seiner schlichten und kraftvollen Architektur glich die Klosterburg einem Kristall, der sich im Zentrum des Gebirges ausgebildet hatte. Es war eine vollkommene Verkörperung der Idee der Erleuchtung, ein Kunstwerk, das das Pranavana symbolisierte. Wir gingen weiter, vom warmen Wind geschoben, auf diese herrliche Kristallisation spiritueller Reinheit zu. Die Landschaft wurde noch lebensfeindlicher und majestätischer. Sie war großartiger als alles, was ich auf Dutzenden von Welten jemals gesehen hatte. Die letzten Reste der Vegetation waren jetzt verschwunden, da keine Feuchtigkeit vom Becken des Febasees mehr bis hier herauf drang. Die Dornakazien, die sich weiter unten noch in den Windschatten eines Felsblockes gekrallt hatten, oder der schüttere Anflug von Rasen, der auf den geschützteren Nordhängen einen dünnen Flor gebildet hatte - hier gab es nichts mehr dergleichen. Es fanden sich auch keine Siedlungen mehr, kein Bewässerungsfeldbau, keine Weiden. Selbst die Gletscher waren auf dieser Seite des Gebirges anders. Keine mächtigen Eisströme füllten mehr die Hochtäler, sondern nur die höchsten Gipfel trugen schmale, blauschimmernde Eiskappen, die auch keine Bäche mehr speisten, sondern unmittelbar in der gleißenden Luft und der metallischen Sonne verdunsteten. Große Gazellenadler, die beladene Tragtiere davonschleppen konnten und bisweilen auch Menschen attackierten, kreisten im wolkenlosen, von Staubschlieren gezeichneten Himmel.
Tsen Resiq legte die Handflächen zusammen, berührte mit den Fingerspitzen erst die eigene Stirn, dann Jennifers Haaransatz, ehe er sie an den Schultern nahm und sie zu einer angedeuteten Umarmung an sich zog.
»Ich bin sehr froh«, sagte er, »dass Sie wieder einmal den Weg nach Loma Ntang gefunden haben.«
Er begrüßte mich mit der gleichen Geste und fügte hinzu:
»Sie war in all den Jahren eine meiner gelehrigsten Schülerinnen. Ich habe es sehr bedauert, dass sie das Kloster verließ, um sich der weltlichen Wissenschaft zuzuwenden, wenn ich auch nicht zur Partei jener gehöre, die die empirische Forschung von vorneherein verdammen.«
Sein Gesicht mit den zahllosen goldbraunen Runzeln sah aus wie eine der uralten Sutren, die er tagtäglich zu rezitieren pflegte. Weisheit und Güte leuchteten aus seinen schwarzen Augen. Ich überlegte, wie alt er sein mochte. Es hieß, dass die Geistlichen dieser Welt mehrere hundert Standardjahre alt werden konnten, und als Lama der Großen Gompa von Loma Ntang war er das geistige Oberhaupt des Prana-Bindu-Ordens. Seine Haut schien wie Pergament zu knistern, als er ein Lächeln auf seine asiatisch wirkende Miene mit den breiten Backenknochen zauberte.
»Im wissenschaftlichen Stab der Union«, sagte ich, »ist Jennifer mindestens genauso gut aufgehoben wie in Ihrem Kloster, auch wenn ich nicht an ihren spirituellen Fähigkeiten zweifle.«
Ich zwinkerte ihr zu.
»Außerdem hätte sie, wenn sie den ‚Weg der Weißen Wolken’« - so hieß das Pranavana wörtlich übersetzt - »eingeschlagen hätte, niemals meine Frau werden können.«
Großmeister Tsen stutzte einen Moment. Dann griff er Jennifers Hände und drückte sie, während ihm aufrichtige Freude in die Augen trat.
»Ist das wahr?!«, rief er mit zarter Fistelstimme.
»Seit genau zehn Tagen«, antwortete sie fröhlich. »Strenggenommen ist das hier unsere Hochzeitsreise.«
»Was heißt ‚strenggenommen’?«, warf ich ein, aber sie brachte mich mit einem winzigen Stirnrunzeln zum Schweigen.
Dennoch waren mein Ausfall und ihre Reaktion dem Lama nicht verborgen geblieben. Indem er das Lächeln beibehielt, ihre Hände jedoch wieder freigab, erkundigte er sich:
»Ich darf doch hoffen, dass Sie die Wallfahrt zu den Heiligtümern von Loma Ntang dennoch keusch angetreten und vollzogen haben.«
»Ich habe«, erwiderte sie