Rebekkas Tagebuch. Eckart zur Nieden

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Название Rebekkas Tagebuch
Автор произведения Eckart zur Nieden
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783865067050



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Wir bedankten uns für das Angebot, nahmen es aber nicht sehr ernst. An den Gedanken, auf einem Bauernhof bei Fremden in einem Versteck zu leben, vielleicht für lange Zeit, konnten wir uns noch schwerer gewöhnen als an den, im Ausland neu anzufangen. Aber es war wohl so, dass wir überhaupt zu träge waren, an etwas anderes als das Gewohnte zu denken. Wir hatten die Gefahr, in der wir schwebten, immer noch nicht voll erkannt. Oder wir wollten sie nicht erkennen und verdrängten sie deshalb aus unseren Köpfen.

       Später habe ich darüber nachgedacht, ob es reiner Zufall war, dass wir davonkamen, oder ob tatsächlich der Gott Israels, der ja wohl auch der Gott der Christen ist, uns ein Wunder hat zufallen lassen. Ein eindeutiges Ergebnis ist bei diesem Nachdenken nicht herausgekommen. Jedenfalls begab sich Folgendes:

      Aaron sah eines Abends ohne bestimmte Absicht aus dem Fenster auf die Straße. Da bemerkte er ein Auto, eine schwarze Mercedes-Limousine, die vor unserem Hauseingang hielt. Männer sprangen heraus. Er sagte später, dass er sofort gewusst habe: Es war die Gestapo. Ich glaube es ihm aufs Wort. Man erkannte diese Leute sofort, wenn nicht an ihrer Kleidung, dann an ihrem herrischen Auftreten.

       Aaron rief: „Sie wollen uns holen!“, rannte zu mir, packte mich am Arm und zog mich, ehe ich recht begriffen hatte, was los war, zur Tür. Wir nahmen uns nicht einmal die Zeit, irgendetwas Wertvolles mitzunehmen. Gegenüber klopften wir heftig bei Annemarie Born an die Tür. Sie öffnete gerade in dem Augenblick, als unten die ersten Stiefeltritte auf der Treppe zu hören waren. Annemarie war nicht nur hilfsbereit, sondern besaß auch eine rasche Auffassungsgabe. Ehe wir etwas erklären konnten, zog sie uns in die Wohnung und schloss die Tür.

       Wir hörten gegenüber Rufen, Poltern, und schließlich krachte es so laut, dass wir annahmen, dass sie die Tür eingetreten hatten. Nach einiger Zeit wurde bei Frau Born geklingelt. Wir hatten schon damit gerechnet und uns versteckt. Ich quetschte mich in die winzige Speisekammer, und Aaron legte sich im Schlafzimmer unter die Betten.

       Frau Born öffnete und lächelte die Gestapoleute freundlich an. Später sahen wir, dass sie eine Uniformjacke ihres Mannes mit all seinen Abzeichen direkt neben die Tür an die Garderobe gehängt hatte, in der Hoffnung, dass das den Männern Respekt einflößen würde. Ob sie wüsste, wo die Nachbarn seien, Ehepaar Schimmel, wurde sie gefragt. Nein, antwortete sie, aber die machten manchmal einen Abendspaziergang. Im Übrigen kümmere sie sich nicht um die Nachbarn, denn sie seien Juden.

       Unsere Sorge war, dass die kleine Thea, die schon schlief, bei dem Lärm aufwachen und uns verraten könnte. Aber nichts dergleichen geschah, und die Männer wandten sich mit einem „Heil Hitler“-Gruß ab.

       Annemarie Born beobachtete, dass noch etwa eine Stunde lang zwei Geheimpolizisten vor der Haustür auf der Straße standen. Später zogen sie ab, jedenfalls waren sie nicht mehr zu sehen.

      Uns war klar, dass wir noch in dieser Nacht verschwinden mussten. Frau Born redete uns zu, das Angebot ihrer Eltern anzunehmen. Dazu waren wir nun auch entschlossen. Wohin hätten wir sonst fliehen können? Aber wie sollten wir dort hinkommen? Es wäre sicher zu gefährlich, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.

       Also zu Fuß! Frau Born gab uns eine genaue Karte und zeigte uns darauf den Weg. Sollten wir gut und ohne Hindernisse vorankommen – am besten nachts –, würde die Reise wohl drei oder vier Tage dauern.

       Wir schlichen gegen ein Uhr in der Nacht aus dem Haus, und zwar durch den Hinterausgang. Durch verschiedene Gärten – einmal zu Tode erschreckt durch lautes Hundegebell – kamen wir schließlich wieder auf die Straße. Ich war überrascht, dass Aaron, der nie gern von Flucht gesprochen hatte, mir eröffnete, er habe sich diesen Weg schon vorher überlegt und sogar ausprobiert.

       Wir hatten hauptsächlich Nahrungsmittel in unseren Rucksäcken, dazu warme Kleidung zum Schlafen im Freien.

       In der ersten Nacht kamen wir, da wir ja erst spät aufgebrochen waren, kaum aus der unmittelbaren Umgebung von Wuppertal heraus. Nicht weit von der bekannten Müngstener Brücke verbrachten wir den Tag in einem Gebüsch. Wir beschlossen, dass abwechselnd einer von uns wachen sollte, während der andere schlief. Aber als ich mit Schlafen dran war, hielt mich die Anspannung trotz meiner Müdigkeit wach.

       Abends machten wir uns wieder auf den Weg. Wir hatten zwar geplant, Verkehrsstraßen zu meiden und mehr auf Feldwegen zu gehen. Aber das erwies sich als unmöglich. Kleinere Straßen und Wege waren auf unserer Karte nicht verzeichnet. Zweimal verliefen wir uns und brauchten viel Zeit, wieder zu einem Ort zu kommen, durch dessen Ortseingangsschild wir erfuhren, wo wir waren.

      Die Sonne war bereits im Begriff aufzugehen, als uns in der Nähe von Schloss Burg an der Wupper ein Bauer auf seinem Traktor überholte. Er wollte wohl früh mit seiner Ernte – was auch immer auf dem Anhänger lag – auf dem Markt sein. Er hielt an und fragte, ob er uns ein Stück mitnehmen solle. Es wäre verdächtig gewesen, wenn wir abgelehnt hätten. Also stiegen wir auf, ruhten unsere geschwächten Beine aus und kamen doch ein gutes Stück weiter. Aaron erzählte ihm, ohne dass der Bauer gefragt hätte, wir seien auf dem Weg zu einem Familientreffen hinter Wermelskirchen.

       Je mehr wir in ländliches Gebiet kamen, desto weniger Angst hatten wir, dass uns die Polizei anhalten könnte. Also gingen wir nun auch bei Tageslicht, vermieden nur die Zeiten, wenn die Leute sich an ihre Arbeit machten oder von dort kamen.

       Am dritten Tag hielt ein Lastwagen neben uns. Der Fahrer öffnete die Tür und rief uns zu: „Ach, wohl auch Städter, die auf dem Land ihr silbernes Besteck gegen Schinken tauschen wollen?“ Er lachte dabei und winkte uns, wir sollten auf die Ladefläche klettern. Wir waren glücklich, dass da jemand die Ausrede, die wir uns hätten ausdenken müssen, selbst erfunden hatte.

       Am späten Abend des vierten Tages kamen wir in dem Ort Pfalzhof an, völlig erschöpft und übermüdet. Wir fanden den Hof von Borns, zögerten, ob wir sie so spät noch wecken dürften, entschlossen uns dann aber doch dazu. Beide waren natürlich erstaunt, als wir vor ihnen standen, hießen uns aber herzlich willkommen. Ich hatte sogar den Eindruck, sie freuten sich, dass wir ihre Einladung ernst genommen hatten. Vielleicht entstand der Eindruck aber nur, weil ich Schlimmeres befürchtet hatte. Schließlich kommt es oft vor, dass Menschen freundlich sind, solange es unverbindlich bleibt, und die Hilfsbereitschaft schnell schwindet, wenn es ernst wird.

       Borns boten uns als Erstes an, sie Ludwig und Elisabeth zu nennen. Elisabeth machte einen Topf mit Milch warm, und ihr Mann ging, um unsere Unterkunft vorzubereiten. Wo die sein sollte, wussten wir noch nicht. Als wir dann alle vier zusammensaßen, erläuterte Ludwig seinen Plan. Für diese Nacht sollten wir auf zwei Sofas schlafen. Morgen sollten wir auf den Heuboden umziehen. Jetzt im Dunkeln da hinaufzuklettern in unbekanntes Gelände sei gefährlich und sicher nicht nötig.

      Nach einer kurzen Nacht weckte uns Ludwig, ehe es hell wurde. Er hatte einige Mühe, uns wachzukriegen. Wir müssten nun in unser Versteck umziehen, meinte er entschuldigend, weil bald Leute kämen. Er wollte uns unser Lager zeigen, ehe er zum Melken in den Stall ging.

       Das Wohnhaus stand an der linken Seite eines rechteckigen Hofes. Gegenüber war ein Backsteinbau, in dem Geräte untergebracht waren, und der Schweinestall. An der hinteren Seite stand ein höheres Gebäude, in dem unten die Kühe untergebracht waren. Darüber war das Heu gelagert. Dort sollten wir unser neues Zuhause finden.

       Von der Tenne aus führte eine steile Leiter hinauf. Oben musste man eine Klappe öffnen, um auf den Heuboden zu kommen. Daneben deckte eine größere Klappe eine Öffnung ab, durch die Heuballen und anderes an einem Seil hinaufgezogen werden konnten. Das Seil lief über eine Rolle an einem Dachbalken.

       Da oben, auf einer kleinen Fläche aus Brettern und dahinter Heu, etwa mannshoch, sollten wir nun also „wohnen“.

       Ludwig war vorausgestiegen, wir beide folgten, und Elisabeth bildete die Nachhut. Oben angekommen, sahen wir uns erst schweigend um und dann schweigend