Lords of the Left-Hand Path. Stephen Flowers

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Название Lords of the Left-Hand Path
Автор произведения Stephen Flowers
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783944180205



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Weisheit wird die „Struktur“ oder das Wesen eines subtilen oder spirituellen Körpers, der mit dem physischen Körper verbunden und in ihm enthalten ist, als weiblich angesehen (zumindest bei Männern). Mit anderen Worten: In jeder Person befindet sich eine spirituelle Wesenheit des entgegengesetzten Geschlechtes. (In der persischen Tradition kommt dieses Prinzip in Gestalt der Fravashis zum Ausdruck und in Skandinavien in den Fylgjur, Hamingjur usw. – nicht zu reden vom Begriff der Anima in der sehr einfühlsamen modernen Psychologie von C.G. Jung.) Wir können im indischen Denksystem auch zahlreiche technische Details kennenlernen, wie und warum dies so ist. Von den sieben größeren Padmas (Lotusblüten) oder Chakras (Rädern) wird gesagt, dass sie die sieben Wohnsitze des Weiblichen in jedem menschlichen Wesen seien: jeder von ihnen ist der Sitz einer Shakti (Kraft) von zweifellos weiblicher Natur.55 Indem er diese Shaktis erweckt und die Padmas oder Chakras (durch die Kraft des – ebenfalls weiblichen – Kundalini [Schlangenkraft]) aktiviert, verwandelt sich der Vamacharin allmählich (oder auch schnell) selbst in seine innere Göttin und „wird eine Frau“. Er unterzieht sich einer Transformation in sein „Gegenteil“.

      Vor dem Hintergrund des linkshändigen Pfades benennt der Avhori-Weise Vimalananda das Ziel des Kundalini-Yoga als Wiedervereinigung von Shiva und Shakti, um Shiva in seiner ewigen Gestalt (als Sadashiva) wieder zu erschaffen: „Sadashivas linke Seite ist weiblich, und seine rechte Seite ist männlich; die beiden Prinzipien haben sich vereinigt, aber sie sind nicht ineinander übergegangen. Hätten sie sich vermischt, wäre dies das Ende des Spiels [Lila], und dies wäre durchaus keine Freude mehr.“56 Es ist hier mit Bedacht festzustellen, dass Vimalananda sehr genau zwischen Vereinigung [union] und Vermischung [merger] differenziert. Der Grund für seinen Wunsch, eine Vermischung beider Prinzipien letztlich zu vermeiden, liegt in der Freude, die er verlieren würde, wenn dies einträte.

      Die wesentliche Grundlage dafür, dass die Kundalini-Shakti (Schlangenkraft) im Körper wachsen kann, liegt in der Fähigkeit, die gewöhnlichen oder üblichen (d. h. natürlichen) Strömungsmuster der körperlichen Kräfte umzukehren. Die Prana-Energie, die gewöhnlich aufwärts und in den Körper hinein fließt, wird veranlasst, abwärts und hinaus zu fließen, und die Apana-Energie, die normalerweise abwärts und/​oder hinaus fließt, wird gezwungen, aufwärts oder hinaus zu strömen. Wenn beide sich, dem Paradigma ihres üblichen Fließens entgegenlaufend, treffen, beginnt Kundalini-Shakti zu entstehen, und man sagt, dass sie sich „küssen“. Es ist hier offenkundig, dass sich der „Antinomismus“ des tantrischen Systems auch in den Bereich einer esoterischen Psychologie erstreckt.

      In der gewöhnlichen (rechtshändigen) Praxis des Kundalini-Yoga besteht das Ziel darin, das Sahasrara-Chakra über dem Kopf zu aktivieren. Aus der Perspektive des linkshändigen Pfades scheint der eigentliche Punkt aber lediglich darin zu liegen, die Schlangenkraft zum sechsten oder Ajna-Chakra („Kommandozentrum“) und von dort in die drei verborgenen Chakren zu leiten. Diese drei verborgenen Chakren Golata, Lalata und Lalana liegen tief in der Kehle am Zäpfchen bzw. am weichen Gaumen. Der Aghori oder Tantriker des linkshändigen Pfades will keinesfalls mit dem Sahasrara eins werden, in dem jede Unterscheidung zwischen diesem und jenem, „Ich“ und „Nicht-Ich“ oder „Ich“ und „Du“ aufhören würde, da es dann, wie Vimalananda sagen würde, keine Freude mehr gäbe.

      Vamacharins sind auch noch gegenwärtig dafür bekannt, dass Praktiken pflegen, die von eher orthodoxen Dakshinacharins als schändlich angesehen werden. Von den Aghora-Sekten beispielsweise sind Akte der Nekrophilie und des Kannibalismus bekannt. Diese und andere Praktiken werden nicht um eines perversen Vergnügens willen begangen, sondern sie hängen eher mit tiefverwurzelten kulturellen und religiösen Tabus zusammen. Indem diese gebrochen und die Grenzen von Gut und Böse überschritten werden, erklimmt der Aghori neue Stufen der Kraft und der „Befreiung“ (von seinen menschlichen Beschränkungen).

      Der Begriff „Aghora“ bezeichnet im literarischen Sinne den „Furchtlosen“, und diese Eigenschaft wird mit dem südlichen Antlitz des fünfgesichtigen Shiva gleichgesetzt. Dieses Gesicht ist von schwarzblauer Farbe und verkörpert das Prinzip des Intellekts (Buddhi Tattva) oder des ewigen Gesetzes (Dharma).57

      Weiter verbreitet als diese extremen Ausprägungen sind freilich die gemäßigteren Praktiken der sexuellen Mystik. Viele von diesen sind dazu gedacht, sexuelle und andere gesellschaftliche Tabus oder auch solche der Ernährungsgewohnheiten zu überwinden. Das Wort „Tantra“ wird im Westen seit den ersten populären Behandlungen dieser Thematik in den sechziger und siebziger Jahren synonym mit „Sexualmagie“ verwendet. Zur tantrischen Tradition gehört weitaus mehr als Sexualmystik, aber vor allem die linkshändigen Tantriker üben tatsächlich sexuelle Rituale als Bestandteil ihrer Praktiken aus.58

      Die wichtigste Form der Sexualmystik ist in einem Ritus enthalten, den man Panchamakara (fünf Ms) nennt. Er wird im Kalivilasa-Tantra (X-XI) beschrieben, aber dort wird die Warnung ausgesprochen, dass er nur mit initiierten Frauen praktiziert werden darf. Die „fünf Ms“ beziehen sich auf die fünf Elemente, aus denen dieses Ritual besteht und deren Sanskritnamen alle mit dem Buchstaben „M“ beginnen: Matsya (Fisch), Mamsa (Fleisch), Madya (berauschender Trank), Mudra (Getreide) und Maithuna (Geschlechtsverkehr).

      Auf dem rechtshändigen Weg wird gewöhnlich auf einen Ersatz zurückgegriffen: auf Räucherwerk, Essen, Sandelholz, eine Lampe und Blumen. In jedem Fall aber besteht eine reguläre Korrespondenz zu den fünf klassischen hinduistischen Elementen oder Tattvas: Äther, Wasser, Erde, Feuer und Luft.

      Bei einer typischen Übung des Panchamakara des linkshändigen Pfades werden die beiden Feiernden der vier essbaren Aspekte teilhaftig, bevor sie zu einer sexuellen Yoga-Praxis übergehen. Diese Elemente wurden als Aphrodisiaka beschrieben, und sie werden gewöhnlich als tabuisierte Substanzen angesehen (die aus orthodox-hinduistischer Perspektive generell als profan gelten), jedoch sakralisiert durch geistige Disziplin und tantrische Praktiken. Mit anderen Worten: Die in das Panchamakara einbezogenen Substanzen und Handlungen hält man gemeinhin für Mittel zur Fesselung und deshalb für alles andere als zur Befreiung geeignet, aber wer den linkshändigen Pfad beschreitet, verwendet diese Stoffe und Erfahrungen, um die Kundalini-Energie zu wecken, und wird nicht selbst von ihnen beherrscht.

      Eine weitere bedeutsame Spielart der Sexualmagie ist ein als Chakra Puja („Feier im Kreis“) bekannter Ritus. Eine ganze Gruppe von Tantrikern nimmt dabei an einem sexuellen Ritual teil, bei dem sich Männer und Frauen durch Zufall paaren. Eine Weise, wie dies vonstatten geht, besteht darin, dass die Frauen ihre Gewänder in einen Korb (Choli) werfen, aus dem dann jeder der Männer ein Kleidungsstück herausnimmt. Die Frau, der das Kleid gehört, wird in der nächsten Nacht die rituelle Partnerin des jeweiligen Mannes werden – sei sie seine Ehefrau, Schwester, Mutter oder was immer. Die Teilnehmer sitzen alle im Kreis, wobei Männer und Frauen einander immer abwechseln und der Mann seine Partnerin stets zu seiner Linken hat. Möglicherweise liegt hierin der Ursprung des Begriffs „linkshändiger Pfad“; auf jeden Fall zeigt sich hier der Zusammenhang zwischen Frau und linker Seite. In der Mitte des Kreises befindet sich ein – meist sehr junges – Mädchen, das von dem Priester, der die Zeremonie leitet, Huldigungen erfährt. Das Ritual dauert mehrere Stunden und endet in einer gemeinsamen Panchamakara.59

      Dieses und andere ähnliche tantrische Rituale dürfen nicht so einfach und oberflächlich interpretiert werden, wie es zunächst naheliegen könnte. Offenkundig liegt ein wichtiges Element ihres Funktionierens in der Idee des Antinomismus: in der Heiligung des Profanen. Aber der Aspekt erotischen Vergnügens, der deutlich aus fortgeschrittenen Praktiken spricht, scheint darauf hinzuweisen, dass es sich nicht um ein durchgängiges Merkmal handelt. Das ursprüngliche Motiv einer magischen oder psychologischen Verwandlung mag in der Überwindung von Hemmungen und dem Bruch konventioneller Tabus gelegen haben, aber wenn dieses Stadium einmal überwunden ist, werden die Handlungen in einem neuen und resakralisierten Sinne fortgesetzt. Der Bruch verhältnismäßig leicht überwindbarer sexueller Tabus und Essverbote könnte auf die Praktiken weitaus extremerer Sekten verweisen, die erheblich stärkere Tabus zu brechen suchen. Einige dieser Sekten interpretieren die fünf M’s so,