Jeder des anderen Feind. Eike Bornemann

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Название Jeder des anderen Feind
Автор произведения Eike Bornemann
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783941935808



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nicht aus schierer Menschenfreude. Aber sie kriegen Diesel für die Hilfe. Und später, wenn das große Aufräumen losgeht, winken großzügige Entschädigungen. Da wird man doch gern zum Patrioten.«

      »Erzähl mir lieber, was das alles mit deinem Auftrag zu tun hat.«

      Milton schnippte eine Aschenflocke in seine leere Tasse. »Tja, da gibt’s nicht viel zu sagen. Wir schippern auf einem der Flüsse zum Flugplatz und nehmen dabei eine Inspektorin vom Wasserstraßen-Amt mit. Wegen des Sonnensturms haben die wohl immer wieder Funkprobleme, also sagen sie sich: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.«

      »Warum erledigt das nicht die Wasserschutzpolizei?«

      »Vergiss es, das sind Oldtimer. Die Boote, die gerade nicht in der Werft liegen, sind seit Tagen ununterbrochen im Einsatz.«

      Die Flamme seines Feuerzeugs züngelte, als er sich eine neue Zigarette ansteckte. In einer wirren Vision sah ich uns beide in einer Höhle vor einem Lagerfeuer hocken wie zwei Jäger eines urzeitlichen Stammes, der eine Treibjagd plant.

      »Rechnet der Senat denn mit Problemen?«, wollte ich wissen. »Warum fährt diese Inspektorin nicht allein in ’nem Tretboot den Fluss runter? Das ist die brandenburgische Provinz, nicht das Herz der Finsternis.«

      »Ist halt so ne fixe Idee von Windisch. Reine PR, wenn du mich fragst. Als wir allein waren, sagte er zu mir: Es liegt in unserem Interesse, im Angesicht der Krise unsere Daseinsberechtigung zu beweisen.«

      Ja, dieser geschraubte Tonfall sah Windisch ähnlich. Der Auftrag klang nach langweiliger Routine. Aber gut, das sind Wach- und Sicherungseinsätze häufig.

      Milton sprach weiter, aber ich hörte nicht mehr richtig zu. Meine Augen wanderten über seine schon grau werdenden Haare. Er hatte seinen Zenit überschritten. Wie ich. Wie die anderen Reservisten, denen ich auf den Lehrgängen begegnet war. Die meisten waren in einem Alter, wo man sich in seinem Leben mehr oder weniger eingerichtet hatte. Sie hatten Jobs, eine Familie, einen Alltag. Und doch musste ihrem Leben irgendwas fehlen. Vielleicht verspürten sie Langeweile angesichts des Trotts. Vielleicht fühlten sie, dass das, was sie im Zivilleben taten, keinen Sinn ergab. Vielleicht suchten sie nach Herausforderungen, nach mehr Verantwortung, nach etwas, was größer war als sie selbst. Vielleicht suchten wir alle ein anderes, ein besonderes Leben.

      Der Oberst von der zivil-militärischen Zusammenarbeit wollte eine Existenzberechtigung für seine Truppe, Herold einen Helden, wie ihn die Zeit gerade so nötig zu brauchen schien und Milton einen Auftrag, bei dem er Gelegenheit bekam, seine heiligen Werte des Kapitals zu schützen. Jeder suchte irgendetwas. Und jeder wollte im Grunde das Gleiche: Anerkennung.

      Nun gut. Ich gab mir einen Ruck. Herold sollte seinen Helden bekommen. Ich würde den Job annehmen, von dem er geredet hatte. Ich würde Milton begleiten, Geschichten sammeln und über Helden schreiben. Vor allem aber würde ich endlich aus dem Mief rauskommen – ein bisschen herumreisen, ein bisschen Action erleben und alles gewürzt mit dem Salz des Pathos, des Gerechten und Wahren.

      Am Ende bekam ich mehr von all dem, als gut für mich war.

       Wenn er eine Reise macht, versieht er sich mit Waffen und sucht zu seinem Schutz eine sichere Begleitung. (…) Dabei weiß er doch, dass es Gesetze gibt und Männer, deren Pflicht es ist, ihn für jedes nur mögliche Unrecht mit Waffengewalt zu rächen. Thomas Hobbes, Leviathan

      Zweites Kapitel

       Dienstag, 24. Juli, Abend bis Morgendämmerung

      An der Kreuzung vor uns eilten Tankwagen und die Fahrzeuge des THW, der Feuerwehr und der Energiekonzerne vorbei. Sie hatten Vorrang – noch vor der Polizei oder den zivilen Blechkisten mit aufgesetztem Blaulicht, mochten deren Fahrer hinter den Frontscheiben auch schimpfen und gestikulieren. Die Verkehrsposten ließen sich davon nicht beeindrucken; sie hatten ihre Befehle.

      Es waren Bilder und Töne aus etwas, was wir noch eine Woche zuvor als Dritte-Welt-Land bezeichnet hätten. Eine allgegenwärtige Gereiztheit lag in der Luft, wie ein Sirren, das mir bis unter die Schädeldecke drang. Vielleicht waren es doch die Auswirkungen des Sonnensturms. Obwohl sämtliche Wissenschaftler behaupteten, dass dies unmöglich war. Aber auch Wissenschaftler können irren. Eigentlich gehört der Irrtum ja zu ihrem Handwerkszeug.

      Als wir das Ende der Oberbaumbrücke erreicht hatten, stieß mich Milton an und deutete durch das Seitenfenster des Wagens. Auf den Gehwegen unter dem Brückengewölbe lagen dunkle Gestalten in Decken und Kokons aus Thermofolie gehüllt. Sie sahen aus wie Tote. Es mussten hunderte sein. Für einen Moment stockte mein Atem. Dann bemerkte ich, wie sich eine der Gestalten aufrichtete, erblickte Rucksäcke, Koffer, Taschen und Einkaufstüten. Ein Junge, ein Kind noch, starrte zu uns herüber und strich sich zähnefletschend mit dem Daumen über die Kehle. Obdachlose, dachte ich. Gestrandete. Milton hatte davon gesprochen.

      Doch nicht das war es, was er mir zeigen wollte. Ich folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger weiter mit den Augen.

      An einer Hauswand prangte Street-Art, einen Riesen mit weit aufgerissenem Mund darstellend. Das Bild wirkte grob, wie von einem Kind gemalt. Als wir näher ran waren, entpuppten sich die Pinselstriche als ein Gewimmel nackter Menschen. Das Maul des Riesen war eine schwarze Höhle, geformt aus sich aneinanderklammernden rosafarbenen Winzlingen. Eine einzelne Figur balancierte auf dem ausgestreckten Zeigefinger des Ungeheuers, augenscheinlich darum bemüht, nicht verschlungen zu werden.

      Ich erinnerte mich, irgendwo was darüber gelesen zu haben, und kramte in meinem Gedächtnis, bis es mir wieder einfiel.

      »Leviathan«, sprach ich leise vor mich hin.

      »Was meinst du?«, fragte Milton.

      »Das Gemälde«, erklärte ich, »es heißt Leviathan. Stammt von ›nem Künstler namens Blur.«

      »Klingt nach ’nem Froschfresser«, brummte der Mann auf dem Platz am gegenüberliegenden Fenster, der mich an eine jüngere Ausgabe des Schauspielers Peter Lohmeyer erinnerte. Vor allem wegen seiner hemdsärmeligen Art und weil er beim Sprechen näselte. Auf seinem Brustschild hatte ich den Namen Scharon gesehen. Er schaute kurz auf und widmete sich dann wieder seiner Lektüre.

      Was er las, ließ sich im Halbdunkel nicht ausmachen. Aber ich wäre jede Wette eingegangen, es war ein Heftroman. Einer von der Sorte, die angeblich authentische Soldatengeschichten versprach. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als er in der Kaserne einen ganzen Stapel davon aus seinem Spind in den Rucksack packte. Der Landser, Schicksale deutscher Schiffe, Fliegergeschichten – auf den Scheiß fuhr er völlig ab. Wenn man sah, was er sich alles an reaktionärem Nationalkitsch reinzog, hätte man meinen können, einen pubertierenden Sechzehnjährigen vor sich zu haben. Dabei verrieten die ausgeprägte Glatze und der graue Vollbart, dass er einer der Ältesten unter uns war.

      Ich ließ meinen Blick über die anderen wandern. Im Fahrzeug war es so eng, dass sich unsere Knie berührten.

      Aus der Spiegelung der Scheibe blickte mir Aslans hageres Raubvogelgesicht entgegen. Er war eine Sportskanone, durchtrainiert bis zur letzten Faser, dabei lang und schmal wie eine Pappel. Er lachte oft und gern. In seine Wangen hatten sich Grübchen gegraben. Seine Schlagfertigkeit imponierte mir. Zumal sein Humor nie bösartig war.

      Neben ihm saß Kubiak. Ich kannte ihn erst seit wenigen Stunden, aber sein Ordnungsfimmel war mir sofort aufgefallen. Er hatte irgendeine Zwangsstörung, die ihn dazu trieb, Dinge symmetrisch auszurichten. Dieser Perfektionismus konnte einen zur Verzweiflung treiben, wenn er in der Kaserne minutenlang an irgendwelchen Falten an den Gardinen herumzupfte, bis sie exakt waagerecht hingen. Oder wenn seine Augen nervös über einen wanderten und sich an einem schräg sitzenden Koppel oder nicht perfekt ausgerichteten Kragen stießen. Darin war er schlimmer als jeder Kasernen-Spieß in meiner Grundausbildung.

      »Ich frag mich bloß, wie der es schafft, über ’n Supermarktparkplatz zu laufen, ohne beim Anblick schief parkender Autos wahnsinnig zu werden«, hatte Aslan die Eigenheit des Kameraden kopfschüttelnd kommentiert.

      Ich