Die dünne Frau. Dorothy Cannell

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Название Die dünne Frau
Автор произведения Dorothy Cannell
Жанр Ужасы и Мистика
Серия
Издательство Ужасы и Мистика
Год выпуска 0
isbn 9783867549929



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zu zeigen, wie spaßig ich alles fand.

      »Störe ich Sie gerade beim Essen?«

      »Nein.« Wollte er das Visier herunterlassen und mich einladen?

      »Ich dachte schon, Sie hätten sich verschluckt.« So viel zu meinem Charme! Bevor er auflegte, erwähnte ich Transportmittel. Ich hatte daran gedacht, mit dem Zug zu fahren, aber als er sein Auto vorschlug, fand ich das Angebot unwiderstehlich. Sofort hatte ich vor Augen, wie wir majestätisch durch die Tore von Merlins Schloss rauschten.

      »Gut«, sagte ich zu Mr. Haskell. »Setzen Sie das Benzin mit auf die Rechnung.«

      Was er zusicherte, bevor er auflegte.

      Ich saß neben dem Telefon, starrte die Decke an und presste die Knie zusammen. Sie schlotterten schlimmer, als meine Zähne klapperten.

      »Wie heißt er?«, fragte Jill. Ich sagte es ihr. »Hört sich an wie ein Auto«, fand sie.

      »Jill, du weißt, ich reagiere sehr empfindlich auf Namenswitze.«

      »Entschuldige. Hatte vergessen, dass Ellie eine Abkürzung ist. Wie wär’s, wenn wir zur Feier eine Flasche Rhabarberwein köpfen?«

      Sobald ich mich von dem Schock erholt hatte, wurde es ein schöner Abend. Ich ließ das Telefongespräch noch einmal Revue passieren und redete mir ein, jemand, der so schroff und unhöflich war wie Bentley Haskell, musste ein Prachtexemplar sein. Weniger attraktive Männer geben sich mehr Mühe. In jedem Lore-Roman ist der ansehnliche Held anfangs ein abweisendes Raubein, bis die Heldin ihn sich mit samtweichen Pfötchen gekrallt hat. In Gedanken versah ich Mr. Haskell mit einem interessanten Hinkegang und einer Narbe auf gebräunter Wange – Überbleibseln des unvermeidlichen Jagdunfalls.

      Nach dem dritten Glas Wein war ich richtig gut drauf. Wieder nüchtern fiel mir am nächsten Morgen ein, dass all diese Heldinnen aussehen wie Vanessa. Sollte ich je in einem Lore-Roman besetzt werden, dann mit der drallen Minna, die als treuer Dienstbolzen durchs Leben trudelt. Das ist die Wirklichkeit.

      Die nächste Woche verging in einem Taumel der Entschlusslosigkeit. Ich verbrauchte meinen gesamten Vorrat an Briefpapier – Geschenke aus drei Jahren – für Entwürfe an Mrs. Swabucher mit der Anweisung, meinen Auftrag zu streichen; alle wurden wütend zerrissen und im Küchenherd verbrannt. Tobias, dieses furchtlose Raubtier, wagte nicht mehr, »miau« zu sagen. Ich war barsch zu Jill. Mit einem Wort, ich war völlig fertig und wurde von Minute zu Minute fetter. Die Zeit wurde knapp. Ich schrieb Tante Sybil, ich käme in Begleitung, und schickte der Agentur den Terminplan mit der Bitte, ihn an Mr. Haskell weiterzuleiten.

      Als der Schicksalstag heraufkam, waren meine Augen blutunterlaufen und meine Haut – meine einzige Attraktion – übersät mit roten Flecken. Die Minuten verrannen unaufhaltsam und brachten den geisterhaften Mr. Haskell immer näher. Ich konnte die Schlüssel zu meinem Koffer nicht finden, und die Haferschleim-Eiweiß-Gesichtsmaske, die mir Jill verpasst hatte, war zu Beton erstarrt. Eine Weile hatten wir Angst, wir müssten jemand von der nächsten Tankstelle holen, um mich rauszumeißeln.

      »Schade, dass es kein Kostümfest ist«, seufzte Jill. »Du könntest prima als Felsbrocken gehen.«

      Glücklicherweise musste ich lachen und der Fels bröckelte. Jetzt kam die nächste schwierige Prozedur – mich in neue Strumpfhosen zu quetschen, ohne dass sie platzten wie zu stark aufgeblasene Ballons.

      Jetzt noch den Kaftan über den Kopf.

      »Meinst du wirklich, ich bin passend angezogen?« Ich mühte mich mit einem widerspenstigen Perlohrring ab.

      »Klar!« Jill stopfte meinen linken Fuß in einen schwarzen Ripsschuh, den ich seit Jahren nicht getragen hatte.

      »Heutzutage kannst du in Packpapier rumlaufen und keiner zuckt auch nur mit der Wimper.«

      »Wie spät ist es?« Ich suchte meine kleine goldene Uhr. Meine normale im Big-Ben-Format passte nicht zu der Aufmachung. »Er kommt um halb vier.«

      »Du hast noch Zeit. Obwohl ich finde, du solltest nicht ewig diesen Oma-Dutt tragen oder wenigstens was mit deiner Haarfarbe machen. Mittelbraun ist dies Jahr nicht angesagt.« Jill war beim rechten Fuß angekommen. »Noch zehn Minuten.«

      Es klingelte, und Jill büßte beinahe ihre Hand ein, als ich zurückwich. Ich hasse Zufrühkommer. Pünktlichkeit steht ganz oben auf meiner Liste unverzeihlicher Sünden. Es klingelte wieder, hartnäckig. Jill machte die Tür auf, während ich zwischen Schlaf- und Wohnzimmer hin- und herflatterte wie eine riesige rote Motte.

      »Miss Simons?« Er hörte sich nett an und irgendwie – erleichtert?

      »Nein, Jill, eine Freundin aus dem Haus; Ellie ist da drin.«

      Tusch und Trommelwirbel – meine verflixten Knie schlotterten wieder. Endlich standen wir uns Auge in Auge gegenüber. Er war nicht groß, dafür dunkel und gutaussehend, und zwei von drei möglichen Punkten sind immerhin was. Seine Körpergröße war höchstens durchschnittlich, vielleicht eins fünfundsiebzig, drei Zentimeter mehr als ich auf hohen Absätzen. Sein Haar war lockig und dunkel, fast schwarz. Bei seiner olivfarbenen Haut hätten seine Augen von Rechts wegen braun sein müssen, aber sie waren intensiv blaugrün. Er trug eine Nickelbrille, die ihm keineswegs Minuspunkte einbrachte (später erfuhr ich, dass er sie nur zum Autofahren aufsetzte), und er war schlank, schlank und noch mal schlank. Vielleicht nicht hübsch, wie es im Buche steht, aber entschieden attraktiv. Angesichts seines gut geschnittenen Mantels über dem Anzug aus dunklem Wolltuch, dem weißen Hemd und der gestreiften Seidenkrawatte wurde mir klar, wie ich aussah – wie die Dicke vom Rummelplatz, nuttig, ordinär und grotesk.

      Der arme Mann, was für eine Art, sein Geld zu verdienen! Ich nahm mir vor, nett zu ihm zu sein. Morgen würde ich zu meinen Tweedsachen zurückkehren und ihm am Schluss des Wochenendes ein anständiges Trinkgeld geben, damit er seine Mutter oder seine Freundin zum Essen ausführen konnte – oder seine Frau. Gab es vielleicht ein Gesetz, dass Begleiter ledig zu sein hatten?

      Ich band mir mein bestes Lächeln um, ging auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Er hatte einen angenehm festen Griff, aber seine Augen waren kalt und unpersönlich. Absurderweise nahm ich ihm das übel. Kein Mensch hatte ihn gezwungen herzukommen.

      Er entdeckte meinen Koffer und ergriff ihn schwungvoll mit einer Hand. »Ich bringe ihn ins Auto, während Sie sich fertig anziehen.«

      Ich bedachte ihn mit einem frostigen Blick. »Sie stehen vor dem Endprodukt.«

      Die leuchtend graugrünen Augen musterten jeden purpurroten Quadratzentimeter; seine Lippen verzogen sich. »Sie müssen verzeihen«, sagte er, »aber Damenbekleidung war mir immer ein Rätsel. Ich hielt das für den Morgenmantel. Sie sind so weit?«

      »Nicht ganz.« Meine Stimme verrutschte um eine Oktave, aber das war mir egal. »Bevor wir aufbrechen, möchte ich etwas klarstellen. Mr. Haskell, Sie sind hier, um Ihre Arbeit zu tun, so gut wie irgendein Angestellter. Da ist nichts dabei, die meisten von uns sind gezwungen, sich ihr tägliches Brot zu verdienen. Ich habe mit Leuten zusammenarbeiten müssen, die ich nicht auf eine Tasse Kaffee gebeten hätte, selbst wenn ich auf einer einsamen Insel mit ihnen gestrandet wäre, aber ich habe eine wichtige Lektion gelernt.«

      »Ja?«

      »Sorgen Sie immer dafür, dass die Chefin zufrieden mit Ihnen ist, denn sonst kriegen Sie womöglich kein Geld, weder per Scheck noch in bar noch sonst wie.«

      Seine Brauen waren ein einziger schwarzer Strich. Einen Augenblick dachte ich, er würde den Koffer nach mir werfen, und athletisch, wie er war, hätte er ins Schwarze getroffen – meine Nase.

      »Amüsiert euch gut«, zwitscherte Jill und reichte mir meinen Mantel.

      Wir machten uns auf den Weg.

      Ich war an diesem Tag noch nicht draußen gewesen, ja ich hatte noch nicht mal die Vorhänge zurückgezogen, und so wurde ich unsanft davon überrascht, dass es schneite. Dicke weiche Flocken wie aus Seifenschaum wirbelten durch