Die dünne Frau. Dorothy Cannell

Читать онлайн.
Название Die dünne Frau
Автор произведения Dorothy Cannell
Жанр Ужасы и Мистика
Серия
Издательство Ужасы и Мистика
Год выпуска 0
isbn 9783867549929



Скачать книгу

heute.«

      »Nein, aber rundlich war ich immer. Schon als Teenager hat mir Tante Astrid prophezeit, ich kriegte mal den gleichen Umfang wie die Kuppel der Paulskathedrale. Und dass ich Briefe und Weihnachtskarten nicht mehr beantwortet habe, wird sie in ihrem schlimmsten Verdacht bestärkt haben.«

      »Hast du mir nicht erzählt, dein Onkel Merlin lebt völlig zurückgezogen und hat dich seit deiner Kindheit nicht mehr gesehen? Woher plötzlich die Sehnsucht nach der lieben Familie?«

      »Weiß der Himmel. Vielleicht ist der alte Knabe dabei, den Löffel abzugeben, obwohl, als Letztes hörte ich, dass er damit gedroht hat, hundert zu werden. Du kennst die Sorte – seit fünfzig Jahren nie beim Arzt und nie erkältet. Aber Onkel Merlin ist nicht mein Problem; er interessiert sich nicht für Frauen. Der kann auf seinen Mottenkugeln hocken, bis er abkratzt. Die anderen machen mir Sorgen, nicht bloß die göttliche Vanessa und ihre Mammi, auch Onkel Maurice, Tante Lulu und mein Vetter Frederick. Ich will nicht, dass sie mich fragen, was tut ein so nettes Mädel wie du in einem solchen Körper!«

      »Flotte Sprüche helfen dir auch nicht weiter, Ellie. Du musst in den Griff kriegen, was dich in die Selbstzerstörung treibt. Wahrscheinlich irgendein Schockerlebnis in frühester Kindheit …«

      »Gut und schön. Aber Wunder brauchen ihre Zeit, und die hab ich nicht. Dafür hab ich das!« Ich schob die Zeitung über den Tisch, zeigte auf das Inserat für die Kultivierte Herrenbegleitung und wartete auf ihre Reaktion. Wenn Jill lästern würde … aber sie tat es nicht.

      »Ellie, das ist doch super! Probierst du’s? Du bist immer so steifleinen.«

      »Nur, wenn ich weiß, dass die Agentur seriös ist. Viele von den Dingern sind doch bloß Tarnung.«

      »Für unanständige Absichten? Hast du Angst, du musst für die Rolle der Königin der Nacht vorsingen? Ellie, den Job kriegst du nie.«

      »Vielen Dank.«

      »Nicht nur weil du, sagen wir mal, voluminös bist. Es ist deine deprimierende Ausstrahlung lupenreiner Ehrbarkeit.« Jill goss sich noch ein Glas ein und schwenkte es vor meinem Gesicht. Das ist einer der Gründe, warum ich sie mag, sie macht keinen Bogen um das Thema meines Gewichts. »Auf Ellie! Möchte mal wissen, wie so ein Laden funktioniert. Mietest du den Mann stundenweise, tageweise? In deinem Fall würde ich mal fragen, ob sie eine Wochenendpauschale im Sonderangebot haben.«

      »Sei nicht albern.« Ich hatte wieder Hunger, entschied mich aber stattdessen für den Rest Wein. »Ich rufe morgen an. Ganz unverbindlich, nur ein paar diskrete Erkundigungen. Wenn die Person am anderen Ende sich vernünftig anhört, bitte ich um einen Termin. Ich kann mich immer noch in letzter Minute entscheiden, nicht hinzugehen.«

      »Du wirst hingehen. Dabei fällt mir ein, meine Cousine Matilda ist mal zu so was gegangen oder zu was Ähnlichem. Sie musste die Zeit bis zum nächsten Ehemann überbrücken, und sie kann buchstäblich nicht aufrecht stehen, wenn sie keinen männlichen Arm zum Anklammern hat. Sie fand, wenn sich der Bräutigam Anzug und Zylinder mieten kann, ist nichts dagegen zu sagen, wenn sie sich einen Mann mietet. Ich glaube, er wurde für den Vater der Braut gehalten oder für den Oberkellner, eins von beidem.«

      »Trinken wir auf ansehnliche Männer, egal woher«, rief ich und erhob das Glas. »Egal, was es kostet.«

      Am nächsten Tag fühlte ich mich nicht mehr ganz so locker und überlegen. Ich verschob den Anruf bei der Kultivierten Herrenbegleitung bis in den späten Nachmittag. Dann ging ich in den hinteren Teil des Ausstellungsraumes, in dem ich arbeitete, goss mir aus der Kaffeemaschine, die gefährlich auf einer Kiste balancierte, eine Tasse ein, spitzte drei Bleistifte, bis sie tödlich waren, setzte mich an meinen Schreibtisch, stand auf, besorgte mir eine Schachtel Büroklammern, nahm den Hörer ab, legte ihn wieder hin und wählte schließlich die Nummer. Besetzt. Fünf Minuten später kam ich durch und wurde von einer anonymen Stimme am anderen Ende der Leitung informiert, dass eine Terminvereinbarung nicht nötig sei. Geschäftsstunden von acht Uhr dreißig bis siebzehn Uhr dreißig, und drei Empfehlungsschreiben müsse ich vorweisen, maschinegeschrieben, in dreifacher Ausfertigung. Klick.

      Nicht sehr freundlich, aber ausgesprochen geschäftsmäßig. Langsam ging es mir besser. Ich sagte meinen letzten Termin mit einer Frau ab, die ihr Vorkriegs-Siedlungshäuschen in ein französisches Château verwandelt haben wollte, fuhr mit der U-Bahn bis Strand, überprüfte zum vierten Mal die Adresse in meinem Portemonnaie und machte mich auf den Zehn-Minuten-Fußweg zur Goldfinch Street.

      Meine Füße dehnten ihn auf zwanzig Minuten. Ferner trugen sie mich zu Woolworth, wo ich einen Lippenstift erstand, den ich nicht brauchte, in einer Farbe, die ich nie trug, sowie eine Tüte Kartoffelchips, die ich als Rückhalt in meine Handtasche stopfte.

      Unglücklicherweise hatte ich überhaupt keine Schwierigkeiten, das Gebäude zu finden, das die Kultivierte Herrenbegleitung beherbergte. Es war nicht zu verfehlen. Der Architekt hatte kein postmodernes Mätzchen ausgelassen. Die Fahrt im Fahrstuhl – einer gläsernen Röhre, die ohne sichtbare Abstützung um ihre eigene Achse rotierte – durch einen Dschungel von Treibhauspflanzen war ein Erlebnis für sich. Jetzt noch ein gutgelaunter Tenor, der selbstvergessen losträllerte – ein einziger Schmetterton und alles würde in tausend Splitter zerspringen. Ich wandte die Augen nicht von einem korpulenten Herrn mit olivfarbenem Teint und schwarzem Operettenbart, am liebsten hätte ich ihm das Atmen verboten. In letzter Sekunde kam die kugelförmige Kabine zum Stillstand, hing einen Moment in der Luft und öffnete dann mit geräuschlosem Gähnen ihre Pforten. Ich erwog kurz, auf der Stelle die Rückreise anzutreten. Aber ich verachte Feiglinge, auch wenn ich meist selbst einer bin.

      Ich bog um eine Ecke und fand mich unmittelbar vor einer Glastür, die in auffälligen Lettern von der Kultivierten Herrenbegleitung kündete. Darunter war eine ekelerregende Abbildung von zwei ineinander verschlungenen Herzen.

      Ich kramte in meiner Handtasche, fischte eine Sonnenbrille heraus und klappte den Kragen meines Kamelhaarmantels hoch. Vor wem wollte ich mich verstecken? Vor mir selbst? Mein Innenleben implodierte. Ich machte ein bisschen Lamaze-Atemtechnik, die ich im Fernsehen aufgeschnappt hatte, und öffnete die Tür.

      Wie so oft, wenn man mit dem Schlimmsten rechnet, lauerte auch hier nichts Unheimliches. Es war die übliche Art Empfangsraum, wo astronomische Honorare kassiert werden: skelettfarbene Wände, Bambusrollos und sparsamster Einsatz ausgesuchter Utensilien. Optischer Mittelpunkt des Raumes war eine silikongepolsterte, geschickt als Empfangsdame getarnte Blondine. Sie saß hinter einem sichelförmigen orangefarbenen Kunststoffschreibtisch, feilte ihre bereits rasierklingenscharfen Nägel, kaute affektiert Kaugummi und blies niedliche kleine Blasen, die genau zu ihrem bonbonrosa Lippenstift passten. Sie sah nicht auf, als ich auf den Wogen einer Engelbert-Schnulze eintrat.

      Ich räusperte mich und schluckte vernehmlich. »Entschuldigen Sie.«

      »Ja?« Goldlöckchen sog den kleinen Ballon ein und schaute noch gelangweilter drein als vorher. »Wenn Sie wegen der Stellung gekommen sind«, die Nagelfeile schmirgelte weiter, »die ist schon weg. Bedaure, aber wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

      »Welche Stellung?«

      Sie hielt mich für begriffsstutzig. »Na, Putzhilfe, männlich oder weiblich, Berufserfahrung nicht erforderlich, keine Nebenleistungen, Alter Mitte vierzig …«, sie unterbrach sich, »oder wollten Sie die nicht?«

      Konnte ich innerhalb weniger Stunden derartig gealtert sein? Das versprach ja heiter zu werden mit dieser chemieblonden, zuckerlasierten Pute. Ihrem Röntgenblick nach hätte ich eine Raupe sein können, die gerade von einem Silbertablett mit hübsch dekorierten Gurkenschnittchen kroch. Nerven hin, Nerven her, ich würde mich nicht behandeln lassen wie Katzenfutter.

      Ich nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Tasche. »Ich bin als Kundin hier, nicht als Ganztagsangestellte. Vielleicht erinnern Sie sich«, ich blickte mich in dem leeren Wartezimmer um, »ich habe heute Nachmittag angerufen und Sie sagten, ich könne ohne Termin vorbeikommen. Hoffentlich habe ich meine Zeit nicht verschwendet. Ich habe nämlich auch Kunden, die deswegen zurückstehen mussten.« Das schluck mal, dachte ich, während ich spürte, wie ihre verschlagenen Äuglein mich langsam