Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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Versepos LutherLuther. Im Prolog fragt der Dichter:

      „Warum nur wieder singen

      Was andre schon besungen?

      Hofft’st Sänger, du Gelingen

      Und Beifall wiederholten Huldigungen?“2

      „Die meisten Deutschen“, so lautet das wissenschaftliche Urteil, „die sich im 19. Jahrhundert zu Luthers sozialer Stellung literarisch oder publizistisch äußerten, verstanden ihn als ein Vertreter des ganzen Volkes und reklamierten ihn zugleich für sich als einen ‚Mann aus dem dritten Stande‘“3. Die Reformation wurde als Grundlage des eigenen Wohlstands und von bürgerlicher Saturiertheit begriffen. Dies wird besonders im Umkreis der Publikationen zum Reformationsjubiläum 1817 deutlich. Dass diese Vereinnahmung nach der Reichsgründung 1871 in einen Prozess der Trivialisierung mündet, wurde exemplarisch an Luther-Erzählungen aufgezeigt.4 Allerdings ist dagegen einzuwenden, dass diese Tendenzen zur Trivialisierung und Verkitschung Luthers schon wesentlich früher einsetzen, nämlich bereits am Anfang des Jahrhunderts. Zacharias WernersWerner, Zacharias LutherLuther-Drama, das 1806 uraufgeführt und 1807 publiziert wurde, eröffnet diesen literarischen Zugriff auf Luther, der zugleich aber von vielen Zeitgenossen höchst distanziert registriert wurde. Werner traf zwar den Geschmack des Publikums, nicht aber denjenigen der literarischen Elite, sein Drama zielt auf die Heroisierung und nationale Vereinnahmung Luthers ab. August KlingemannKlingemann, August, der Verfasser der Nachtwachen des BonaventuraNachtwachen des Bonaventura (1804), eines der bedeutendsten Bücher der FrühromantikFrühromantik, veröffentlicht 1806 sein eigenes LutherLuther-Drama, das aber erst 1808 gedruckt wird, und Heinrich von KleistKleist, Heinrich von folgt 1810 mit seiner Novelle Michael KohlhaasMichael Kohlhaas.

      Nahezu zeitgleich erscheinen also zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ihrer literarischen Qualität völlig verschiedene literarische Texte über LutherLuther, Martin. Diese öffentliche und literarische Debatte mag HölderlinHölderlin, Friedrich dazu bewogen haben, selbst Gedanken zu einem Luther-Gedicht zwischen 1802 und 1806 zu notieren. Diese Hymne auf Luther bleibt aber unvollständig und wird als Fragment erst 1916 in der Hölderlin-Ausgabe aus dem Nachlass veröffentlicht.

      Hölderlins LutherLuther-Hymne ist hermetisch, dunkel und schwer zu dekodieren. Man geht heute davon aus, dass das Fragment zwischen 1802 und 1806 entstanden ist. Bei einer Lektüre und Deutung des Textes ist dem Rechnung zu tragen, dass es zwar in der literarischen Form und dem inhaltlichen sprachlichen Duktus einer Hymne geschrieben, gleichwohl aber Fragment geblieben ist. Ob die einzelnen Textteile des Gedichts tatsächlich einen zusammenhängenden, möglicherweise in sich geschlossenen Text bilden, bleibt umstritten. Auch muss offen bleiben, ob sich Hölderlin zu seinem Luther-Gedicht tatsächlich durch Zacharias WernersWerner, Zacharias LutherLuther-Drama anregen ließ, das 1806 uraufgeführt und 1807 veröffentlicht worden war.5 Nicht auszuschließen ist, dass Hölderlin auf seine Art literarisch und möglicherweise informell an einem Ideenwettbewerb um das beste Luther-Denkmal teilnehmen wollte, der 1803 öffentlich ausgeschrieben wurde. Unabhängig von diesen kontextuellen Anknüpfungspunkten ist Hölderlins LutherLuther-Hymne ein beeindruckendes literarisches Denkmal.

      In der Hölderlin-Forschung spielt die Frage nach Hölderlins Luther-Kenntnissen nur eine marginale Rolle. Dabei wurde bereits der Nachweis erbracht, dass sich der Dichter intensiv mit Luther beschäftigt hat.6 Und umso befremdlicher ist es, dass das Luther-Gedicht in der philologischen Aneignung „geradezu verschollen“7 geblieben ist. Unter philologisch-wissenschaftlichem Blickwinkel ist der Text der LutherLuther-Hymne natürlich keineswegs gesichert.8 Wir kennen von HölderlinsHölderlin, Friedrich eigener Hand lediglich Notizen in Gedichtform, Satz- und Gedankenfetzen mit sichtbaren Lücken, die der Autor zu einem anderen Zeitpunkt zu füllen gedachte. Die Reihenfolge der einzelnen Seiten, über die in der Handschrift Hölderlins Notate verstreut sind, dem sogenannten Homburger FolioheftHomburger Folioheft, wird von der Forschung höchst unterschiedlich bewertet. Das bedeutet, dass je nach Hölderlin-Ausgabe ein anderer Lesetext konstituiert wird. Auf die daraus resultierenden Probleme für die Deutung des Textes gehe ich nicht weiter ein, sondern zitiere das Gedicht nach dem Textabdruck der Ausgabe Friedrich Hölderlin Gedichte.9

      Die Form der Hymne ist Hölderlins bevorzugte Textform, er greift dabei auf antike griechische Muster zurück. PindarsPindar OdenOden (Klopstock) bilden für ihn den entscheidenden historischen und formalen Bezugspunkt. Die gattungstypologische Unterscheidung zwischen einer Ode und einer Hymne ist problematisch, da die Übergänge fließend sind und die Ode als eine besondere Form der Hymnik verstanden werden kann. Andererseits kann die Hymne als „ein feierlicher Lobgesang auf die Gottheit und ihre Werke“10 definiert werden, wie dies schon im zeitgenössischen Schulbetrieb versucht wurde. Ein markantes Merkmal ist der gehobene, geradezu begeistert-ekstatische Sprachstil. Alle Versuche aber, eine geschlossene, einheitlicheOden (Pindar) Definition von Hymne zu erreichen, müssen als gescheitert betrachtet werden. Entweder sind sie so allgemein, dass sie fast schon wieder trivial sind, oder sie sind so spezifisch, dass sie nur für einen bestimmten Autor, eine bestimmte Autorengruppe oder einen bestimmten Moment der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte Geltung beanspruchen können. Metrisch nahezu völlig frei gibt es keine Bindungen. Klopstocks Odenstil gilt als wichtige Entwicklungsstufe hin zu einer eigenen deutschsprachigen Hymnik. Allerdings bleibt die Bestimmung der Differenzmerkmale von Hymne und Ode nach wie vor defizitär. In der Literaturgeschichte gilt Hölderlin als der Hymnendichter schlechthin, das reicht von seinen Jugendhymnen bis zu den späten Hymnen in freien Rhythmen.11

      HölderlinsHölderlin, Friedrich LutherLuther-Hymne macht wiederholt gedankliche Sprünge, deren Ordnung keiner logischen, poetischen oder narrativen Ordnung folgt. Auch die Entscheidung, wo sich der Punkt eines solchen Perspektiven- und Aussagewechsels findet, ist stark abhängig von der jeweiligen interpretativen Sicht. Der Leser wird gleich mit dem bruchstückhaften „meinest du“ der ersten Zeile direkt angesprochen. Im Mittelpunkt der Hymne steht die Zeile „Gott rein und mit Unterscheidung / Bewahren“ (V. 39). Wenn diese Worte als die Kernaussage des Textes verstanden werden und wenn sie zugleich in Bezug gesetzt werden zum Titel Luther, dann wird deutlich, dass Hölderlin in Luthers Reformationsverständnis die entscheidende historische Leistung sieht. LutherLuther, Martin ist demnach diejenige Gestalt, die Neuzeit und Antike zu vereinen, mehr noch, die er miteinander zu versöhnen vermag. Dieses Spannungsverhältnis von Moderne und Antike ist ein Grundthema in Hölderlins Lyrik.

      In die Hymne verwoben im Sinne eines Quertextes sind autobiografische Referenzen, die wie Gedankenblitze den großen historischen Bogen durchstoßen. Die große Geschichtsdimension wird vom Dichter Hölderlin in diesen Momenten regelrecht eingezoomt auf sein eigenes Leben. So etwa der Hinweis, dass er als Kind im Haus seiner Eltern im schwäbischen Lauffen am Neckar mit einem Diamanten in die Glasscheiben der Fenster Inschriften geritzt hat. Oder der Hinweis, dass das Kloster „etwas genützet“ (V. 19) hat, womit er auf seine Zeit als Schüler des Evangelisch-Theologischen Seminars, eines ehemaligen Klosters, in Denkendorf und Maulbronn verweist. Oder der Hinweis am Ende des Gedichts darauf, dass er „ledig“ (V. 82) geblieben ist. Auch die Nennung von „Morea“ (V. 59) kann als Erinnerungswort gelesen werden. Hölderlin war während seiner Studienzeit in Tübingen und als Stipendiat im Evangelischen Stift mit Christian Ludwig NeufferNeuffer, Christian Ludwig (1769–1839) und Rudolf Friedrich Heinrich MagenauMagenau, Rudolf Friedrich Heinrich (1767–1846) eng befreundet. Die drei Autoren bildeten 1790 einen Dichterbund, den Alderman-Bund. Die Namensgebung sollte dem höchsten Rang in KlopstocksKlopstock, Friedrich Gottlieb GelehrtenrepublikGelehrtenrepublik von 1774 entsprechen. Sie lasen sich gegenseitig Gedichte vor und diskutierten darüber. Von Neuffer ist das Gedicht An MoreaAn Morea mit dem Datum 20. April 1790 überliefert:

      „Wen einst mein Leib im Schoße der Erde ruht,

      Und ich zu meinen Vätern entschlummert bin,

      Wenn noch vielleicht ein edler Jüngling

      Weint auf die Blumen an meinem Grabe. –

      Bald wird die ernste nächtliche Stunde schon

      Dem Schauplaz dieses Lebens entwinken mich:

      Oft in verschwiegnen Mitternächten