Bürgerwache. Wildis Streng

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Название Bürgerwache
Автор произведения Wildis Streng
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839268681



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immer hatte Andrea, wie er früher geheißen hatte, gewusst, dass etwas mit »ihr« nicht gestimmt hatte. Dass »sie« anders gewesen war als die anderen Mädchen. »Sie« war nie eine von ihnen gewesen, gefühlt. »Sie« hatte sich schon immer besser mit den Jungs verstanden, sich »Cars« und »Transformers« statt Disneys »Eiskönigin« angeschaut. In der Pubertät hatte »sie« sich die Haare raspelkurz geschnitten und war in Schlabberpullis und weiten Hosen herumgelaufen. Schnell hatte »sie« in der Schule »ihren« Stand gehabt, und erstaunlicherweise hatten die meisten »sie« so akzeptiert, wie »sie« eben war. Der Tobi war ihr da immer eine große Hilfe gewesen, schon damals auf der Realschule, und er hatte denjenigen, die »sie« dumm angemacht hatten, Schläge angedroht oder ihnen wirklich mal die Fresse poliert. Denn dazu war »sie« tatsächlich selbst zu schwach gewesen – körperlich hatte »sie« nicht mithalten können mit den Jungs. Und deshalb war »sie« dem Tobi immer dankbar gewesen, nur einmal, neulich, da hatte er sich echt was geleistet, das ging gar nicht. Aber egal.

      André war eher klein, mit nicht allzu breiten Schultern. Aber das würde sich jetzt ändern, er nahm fleißig seine Hormone. Nach und nach, seit seinem endgültigen Entschluss vor drei Jahren. Er hatte beobachtet, wie seine Stimme tiefer geworden war, wie ein Bart zu sprossen begonnen hatte, den er hegte und pflegte, bis er ein perfekt getrimmter Vollbart war. Die Brüste waren kleiner geworden, und dann hatte er die finalen Operationen machen lassen. Und er war froh darum, denn seither war er, was »sie« schon immer hatte sein wollen – ein Mann. Nicht mehr Andrea, sondern André. André drehte sich zur Seite und strich über die Uniform, die perfekt saß und wirklich, wirklich gut aussah. Männlich! Er setzte den Federhelm auf, die roten Federn wallten in einem fließenden Busch über sein dunkles Haar, bildeten einen hübschen Kontrast. Wieder drehte er sich frontal. Gut sah er aus, so konnte er gehen, so konnte er sich mit den anderen treffen, mit ihnen mithalten.

      Simone Reißig war noch im Bett. Sie liebte es, sonntags ewig lang liegen zu bleiben. Tobi schlief immer bei ihr. Auf ihren Füßen, um genau zu sein. Und er schlief immer so lange, bis sie aufwachte und sich bewegte. Dann erhob er sich, streckte sich und wanderte die Bettdecke nach oben, um ihr Ohr abzulecken. Simone kicherte meistens ein bisschen und streichelte dem Kater, der eigentlich Felix hieß, über den Kopf. Das Tier schmiegte sich in ihre Hand, der Schädel passte genau in die Höhlung. Simone hatte Felix nach der Trennung umbenannt in »Tobi«, denn auf diese Weise konnte sie immer noch seinen Namen sagen.

      Tobi sprang mit einem Satz vom Bett, um in der Küche etwas zu trinken. Etwas enttäuscht drehte sich Simone wieder um, angelte nach ihrem Handy und tat, was sie jeden Morgen tat: ihre letzte Nachricht erneut schicken und nachsehen, ob sie diesmal ankam. Denn die Nachrichten kamen nicht mehr an, seitdem er sie blockiert hatte. Das machte sie wütend, ein bisschen. Ach was, unglaublich wütend. Was fiel dem ein! Er hatte sich anzuhören, was sie ihm zu sagen hatte, das war nur fair. Er hatte ihr jedes Gespräch verweigert. Das war nicht in Ordnung. Es fraß sie auf. Sie konnte nichts anderes mehr denken als … ach. Sie wechselte zu Clix-Mix und scrollte die Belanglosigkeiten durch, die ihre »Freunde« gepostet hatten. Schönen Sonntag, dazu ein Bild von einem knuffigen, debil treudoof dreinblickenden Bärchen mit Herzchen. Habe soeben einen Kuchen gebacken, lautete ein Post, der 67 Likes bekommen hatte. Bin total glücklich mit meinem … – schnell scrollte sie weiter. Like, wenn du mich magst, bat eine Freundin, und sie scrollte weiter, ohne zu liken. Lecker Low-Carb-Frühstück, warb ein Kerl, den sie seit Neuestem auf der Freundesliste hatte, den sie aber im Verdacht hatte, dass er ihr nur irgendwelche Abnehmpülverchen andrehen wollte. Nächster Post: Klicke auf deine Geburtsnuss, und wir verraten dir, was für ein Liebestyp du bist. Simones Mund verzog sich zu einem freudlosen Grinsen. Aha, die Geburtsnuss! Das wurde ja immer abstruser. Sie betrachtete das Bild: Es gab die Haselnuss, die Macadamianuss, die Erdnuss, die Pekannuss, die Cashewnuss, die Walnuss, die Edelkastanie, die Hanfnuss, die Steinnuss, die Wassernuss, die Eichel und die Buchecker. Als im März Geborene war sie die Erdnuss, die sie nicht einmal mochte, war ja klar. Simone klickte trotzdem auf die Erdnuss. Loggte sich wie gewohnt auf der Seite ein, und es war ihr egal, dass dabei womöglich dubiose Marktforscher all ihre Daten abzogen. Simone, du bist ein liebevoller und gütiger Mensch. Allerdings kann es vorkommen, dass du deinen Partner mit deiner Liebe erdrückst. Die Menschen kommen nicht mit der Gewalt deiner Liebe klar. Lerne deshalb, loszulassen, wenn dich jemand zurückstößt. Es wird bald jemand kommen, der deine Liebe will und auch verdient. Simone schluckte. Verdient! Und will! Sie warf das Handy mit einer schnellen Bewegung in das Wasserglas, das auf ihrem Nachttischchen stand. Es machte eigentlich nichts aus, denn das Gerät war wasserdicht. Und trotzdem verschaffte es ihr Genugtuung. Dann schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf, um Tobi zu füttern.

      Die Johanneskirche war eines der ältesten Gebäude Crailsheims. Das große, für eine mehrheitlich gotische Kirche sehr schwer wirkende Bauwerk stand wirklich mitten in der Stadt und war nachgerade unspektakulär in ein Grundstück der Fußgängerzone eingebettet. Vielmehr musste man eigentlich sagen, dass die Fußgängerzone um die Kirche herumgebaut worden war, denn der erste Bauabschnitt des Gotteshauses war bereits 1398 begonnen worden. Stand man vor der Kirche, so empfand man sie als würdiges, mächtiges Gebäude. Durch schwere Holztüren waren an diesem Sonntag die Gläubigen hereingeströmt, deutlich mehr als sonst. Denn es handelte sich am Parkfestsonntag nicht nur um die übliche Gemeinde, sondern auch noch um die Mitglieder der Bürgerwache und ihre Familien, zudem um die Mitglieder der jeweiligen Abordnungen befreundeter Bürgerwehren. All diese Menschen füllten die hölzernen Bänke der drei Kirchenschiffe, sodass eine durchaus beachtliche Gemeinde zusammenkam. Neben dem Altar hatten sich die Fahnenträger aller Bürgerwachen aufgestellt. Der Fahnenträger wurde jeweils von zwei Fahnenbegleitern und teilweise von einem Kommandanten flankiert.

      Pfarrer Langsam, ein großer, hagerer Mann mit grauer Stoppelfrisur und Brille, stand in seinem Talar auf der Kanzel und hatte zunächst die Abordnungen der Bürgergarde Esslingen, der Haller Sieder, der Bürgerwache Ehingen, der Bürgerwehr Schwabach, der Bürgerwehr Lauchheim, des Historischen Schützencorps Bad Mergentheim, der Bürgergarde Ellwangen und der Bürgergarde Hüttlingen begrüßt. Proppenvoll war der Altarraum, was für die meisten Gläubigen ungewohnt war. Dann hatte Pfarrer Langsam eine Bibelstelle verlesen. »Johannes der Täufer hörte im Gefängnis vom Wirken des Messias und schickte einige seiner Jünger zu ihm. Er ließ ihn fragen: ›Bist du wirklich der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?‹«, zitierte er gerade noch einmal. »Liebe Gemeinde«, machte er weiter, und seine Stimme hallte von der hohen Kirchendecke wider. »Lasst Jesus sein, wie er sein möchte! Er ist ein lieber, ein gütiger Jesus, der die Menschen liebt! Er ist womöglich moderner, als wir denken. Er lässt sich nicht in spießige Muster pressen. Er war ein Vorreiter, ein Pionier! Jesus …«

      »Es reicht!«, kam eine Stimme aus der Gemeinde.

      Der Pfarrer suchte irritiert nach dem Störenfried, sein Blick schweifte unsicher umher, streifte den einen oder anderen. Dann beschloss er offensichtlich, einfach weiterzupredigen.

      »Jesus ist …«

      »Jesus!«, rief es wieder aus der Gemeinde, und diesmal sprang der Rufer auf.

      Alle Augen wandten sich ihm zu, es war ein kleiner, schmächtiger Mann mit dunklem, strähnigem Haupthaar. Einige verdrehten die Augen, denn den Zwischenrufer kannte man schon.

      »Paul. Bitte!«, tadelte der Pfarrer mit mildem Lächeln.

      »Hogg dii nou und halt dei Gosch«, befahl der Banknachbar des Angesprochenen und fasste ihn am Arm.

      Paul machte sich brüsk los und trat aus der Bank heraus. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, proklamierte er.

      Pfarrer Langsam verdrehte nur innerlich die Augen, noch hatte er sich gut im Griff. Auch Paul war eines seiner Schäfchen, auch der.

      »Jesus hätte euch Kriegsgeschmeiß aus dem Tempel geworfen! So, wie er die Händler rausgeworfen hat. Denn mein Haus soll ein Bethaus heißen, ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht!«

      »Hier wird keiner ermordet, mein lieber Paul«, berichtigte der Pfarrer von der Kanzel herab, »und jetzt setz dich bitte wieder.«

      Paul dachte kurz nach, schüttelte dann trotzig den Kopf und marschierte nach vorne, wo er Anstalten machte, die Fahnen