Mein Überlebenslauf. Eva-Maria Admiral

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Название Mein Überlebenslauf
Автор произведения Eva-Maria Admiral
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765573378



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wann wir uns setzen durften. Alles wurde mit eiserner Disziplin geregelt. Ein kurzes Gebet, essen, abräumen und danach in der Gruppe zum Gottesdienst. Die Messe dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Ich fand sie anfangs schön. Wir sangen ein paar Lieder, dann marschierten wir um acht Uhr in die Klassenräume.

      Heimlich nahm ich mir einmal aus der Kapelle ein Heiligenbildchen mit und klebte es in mein Nachtkästchen. Ich brauchte jemanden, der mich beschützte. Die Disziplin und Strenge der Nonnen, der strikt geregelte Tagesablauf und die ständigen Putzkontrollen machten mir Angst. Dreimal in der Woche gab es Putzkontrollen. Schwester Brigitte marschierte die Putzabschnitte ab und wischte mit dem Finger über die Regale. Ihrem prüfenden Blick entging nicht, wo schlampig geputzt wurde. Fand sich ein Krümchen Staub, musste man die kommende Woche doppelten Putzdienst schieben.

      Die Lehrkräfte waren gemischt, also nicht nur Klosterschwestern, sondern auch weltliche Lehrerinnen. Die Lateinprofessorin war auch Archäologin und meine Lieblingslehrerin. Allein wegen ihr wollte ich acht Jahre lang Latein lernen, und zwar richtig gut.

      Unsere Klassen waren ebenfalls gemischt. Mindestens die Hälfte der Mädchen lebte außerhalb bei ihren Eltern. Relativ schnell bildeten sich zwei Gruppen. Draußen und drinnen. Unter uns drinnen lebten viele im Internat, um eine gute Erziehung zu erhalten. Oder weil die Eltern so erfolgreich waren, dass sie für die Erziehung ihrer Kinder keine Zeit hatten. Genau wie bei meinem großen Vorbild, der Schauspielerin Romy Schneider. Deren Eltern waren berühmte Schauspieler und sie wuchs ebenso im Internat auf.

      Das Schönste für mich in dem tristen Alltag war, wenn mich eine Schulfreundin über Mittag mit zu sich nach Hause nahm. Was für ein Privileg. Bei Greta, ihren Eltern und den zwei Geschwistern beobachtete ich, wie Familie sein könnte. Miteinander über den Tag plaudern, spielen, singen. Das wollte ich eines Tages auch haben. Nach und nach beneidete ich die Mädchen von draußen immer mehr. Für sie endete der Schultag um zwei Uhr. Wir traten dann an zum Mittagessen, hatten eine halbe Stunde Pause und danach ging es ab in den Studiersaal.

      Der Studiersaal war ein einschüchternd großer Raum. Eine Nonne saß vorn am Pult und hatte immer ein Auge auf uns. Ab und an erhob sie sich und ging durch die Reihen. Sie kontrollierte, ob wir auch schön studierten. Instinktiv zog ich jedes Mal meinen Kopf tiefer zwischen die Schultern.

      Um sechs Uhr war Antreten zum Abendessen. Um acht Uhr abends ging das Licht aus. Im Internat konnte ich noch schlechter einschlafen. Um mir die Zeit zu vertreiben, entwickelte ich wieder verschiedene Strategien. Sprechen war ja verboten. Aber ich wusste, wann die Nonne ihren Kontrollgang machte und wann sie weit weg war von unserem Zimmer. Wenn die Luft rein war, flüsterte ich rüber zum Bett von Claudia: „Claudia, schläfst du schon?“ Das ging nur sehr begrenzt. Wer erwischt wurde, musste im Studiersaal schlafen.

      Bei meinem ersten Mal hatte ich die Nonne nicht bemerkt. Ich plauderte im Flüsterton mit Claudia über den Tag. Plötzlich stand sie neben meinem Bett. Die Nonne sprach mich stets nur mit meinem Familiennamen an.

      „Du schon wieder! Jetzt reicht es. Nimm dein Bett und geh.“ Mit strengem Blick wies Schwester Brigitte mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger hinaus auf den dunklen Flur. Ich verstand zunächst nicht und schaute sie fragend an. Nimm dein Bett und geh. Diesen Bibelvers kannte ich aus dem Religionsunterricht. Jesus hatte einen Gelähmten geheilt. Was kommt jetzt?, dachte ich erschrocken. Ich wusste überhaupt nicht, was sie von mir wollte.

      „Nimm dein Bett und geh!“, zischte sie. „Du schläfst heute Nacht im Studiersaal. Allein.“ Ungehalten zog mir die Nonne mein Bettzeug weg und drückte mir Decke und Kissen in den Arm.

      „Los, komm jetzt!“

      Wir gingen einen Stock tiefer in den Studiersaal. Es war äußerst unangenehm und kalt. „Gute Nacht“, sagte sie und zog die Tür hinter sich zu. Fassungslos starrte ich in die Dunkelheit. Was? Hier soll ich heute schlafen? Verängstigt breitete ich auf dem kalten Boden meine Decke aus. Dann betete ich das Vaterunser und das Rosenkranzgebet. Doch in jener Nacht im Studiersaal durchfuhr mich zum ersten Mal ein Gedanke: Wenn Jesus zu mir sagt, nimm dein Bett und geh, dann meint er es eigentlich nicht gut mit mir. Und ich dachte auch, dass die Nonne sicherlich nicht strenger sein konnte als Gott. Also musste es bei Gott noch viel schlimmer sein? Noch viel schlimmer!

      Mit meiner kindlichen Logik suchte ich einen Ausweg. Ich fand ihn: Bei Gott gab es ja auch noch Maria und all die Heiligen. Sie würden mich verstehen, denn sie waren Menschen wie ich. Vor allem Franz von Assisi, der aus einem wohlhabenden Hause stammte und mit Tieren sprechen konnte und mit der Natur. Also klammerte ich mich an sie.

      Im Laufe der Zeit fand ich Kraft und Trost auch in Büchern. Die Bibliothek war ein schlichter Raum. Hohe Regale, Bücher hinter Glas: Das war mein Ort. Es gab natürlich nur ausgewählte Bücher, nichts, was auf dem Index der Nonnen stand. Von Hanni und Nanni bis hin zu Erich Fromm. Die Bibliothek war nie gut besucht. Der Philosophieunterricht brachte mich immer wieder zu neuer Lektüre. Ich las Erwin Ringels Werk über die Neurose der österreichischen Seele, Heinrich Böll, und ich entdeckte Viktor E. Frankl. Als Vierzehnjährige las ich sein Buch Trotzdem Ja zum Leben sagen.

      Frankl war Jude und ein österreichischer Neurologe. Er hatte die Gefangenschaft in mehreren Konzentrationslagern, darunter Auschwitz, überlebt. Noch in der Lagerzeit schrieb er dieses schmale, doch so inhaltsschwere Buch. Er berichtet, wie die Lagerinsassen und er selbst mit dem Vernichtungsalltag umgingen. Was es aus ihnen machte, wenn sie keinen Sinn mehr in ihrem Leben sahen. Frankl stellte sich vor, was er eines Tages mit all den schrecklichen Erlebnissen anfangen würde: dass er Studenten unterrichten würde über den Sinn des Lebens. Für diese Vision schrieb er während des KZ alles auf. Frankl wurde der Begründer der Logotherapie, mit der Menschen geholfen wird, ihren Sinn im Leben zu finden. Nicht mehr nach dem Warum zu fragen, sondern nach dem Wozu.

      Frankl schenkte mir Hoffnung. Sicherlich war das Internat nicht mit einem KZ zu vergleichen. Doch trotz kleinerer Lichtblicke wie meinen Freundinnen fühlte ich mich gefangen, weggesperrt, tagtäglich in einem Überlebenskampf.

      Doch ich würde diese Zeit gut überleben. Ich würde sie so überstehen, dass ich die Erfahrungen eines Tages für mein Leben nutzen konnte. Frankl war heilsam mit Blick auf meine Internatszeit. Die Frage, die das Leben mir stellte, war fortan: Wie überstehe ich mein eigenes Gefängnis? Es gab keine Bezugspersonen oder jemanden, der sich kümmerte. Ich musste in dem System irgendwie überleben trotz der strengen Regeln.

      Einige Mädchen aus dem Internat hatten schon versucht, sich umzubringen. Andere flogen von der Schule oder zogen wieder nach Hause. Meine Freundinnen und ich inhalierten Klebstoff. Mit dreizehn fingen wir an. Wir versuchten verschiedene Methoden, wie man sich einfach sedierte. Das ging gut mit Klebstoff, aber auch mit Alkohol, Haschisch, Medikamenten. Irgendwie kamen wir immer an das Zeug. Auf der einen Seite wurden wir von außen zerstört. Um das zu ertragen, fanden wir Wege, die wiederum selbstzerstörerisch waren. Damals sahen wir das natürlich nicht so. Wir probierten aus.

      Doch vor allem half mir bei meinem Überlebenskampf meine Mumi. An den Wochenenden war ich häufig bei meiner Großmutter mütterlicherseits. Mumi lebte in der Nähe des Internats. Vier Monate im Jahr verbrachte sie in Italien. Ozon tanken, wie man damals sagte. Mumi war der einzige Mensch, der mir in den Jahren im Internat wirklich die Kraft gab durchzuhalten. Sie war mein Schatz, meine Rettung, meine Oase. Meine Eltern besuchten mich kaum im Internat. Die meisten Wochenenden verbrachte ich – auch aufgrund der Nähe – bei Mumi. Ich liebte es, sie zu beobachten. Ich liebte es, wie wir gemeinsame Erinnerungen sammelten.

      KAPITEL 3

      Mumi – mir gefallen Menschen besser als Prinzipien

      Da Gott nicht alles allein machen wollte, schuf er meine Mumi.

      In den dunklen Tagen im Internat dachte ich sehr oft an meine Mumi. Sie mit Oma oder Großmutter oder Ähnlichem anzusprechen, war für sie ein absolutes Tabu.

      In einer Schularbeit im Deutschunterricht – ich war vierzehn Jahre alt – sollte ich einmal einen Menschen porträtieren, den

      a.) entweder sein Beruf geprägt hat,

      b.) oder eine liebe alte Dame

      c.)