Bis zum Äußersten. Rongliang Zhang

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Название Bis zum Äußersten
Автор произведения Rongliang Zhang
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765574481



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Ich möchte Ihnen von seiner Liebe, Gnade und Gemeinschaft erzählen, die nie aufhören.

      1. Der „Große Sprung nach vorn“

      Ich bin am 23. März 1951 geboren, im Bezirk Fangcheng der Provinz Henan im östlichen Zentralchina. Der Zeitpunkt lag in einer der schwierigsten Epochen in der langen Geschichte unseres Landes. Meine Familie war sehr arm. Ich war das mittlere von drei Kindern; meine ältere Schwester ist heute 73 Jahre alt, die jüngere 57. Mein Vater war Schreiner und tat sein Bestes, um die Familie zu ernähren, aber manchmal hatten wir so wenig zu essen, dass wir draußen nach Wildgemüse suchten. Meine ältere Schwester konnte Hunger aushalten, aber meine jüngere Schwester und ich baten unsere Mutter den ganzen Tag weinend um etwas zu essen. Unsere Mutter liebte uns mehr als ihr eigenes Leben, und eines Tages, als wir wieder vor Hunger weinten, sagte sie: „Liebe Kinder, bitte weint nicht! Eure Mama weiß doch, dass ihr Hunger habt, aber wenn ihr so weint, tut mir das Herz noch mehr weh.“ Wir spürten den Schmerz unserer Mutter und hörten auf zu weinen. Allmählich lernten wir, den Hunger zu ertragen.

      1956 nahmen mich meine Eltern mit in die Stadt Lushan und danach nach Nanyang und Zhenping, um zu betteln. Wir gingen von Tür zu Tür und baten um Lebensmittel. Oft bot mein Vater gegen etwas Reis seine Schreinerdienste an. Manche Leute waren sehr unfreundlich und konnten nicht verstehen, warum wir bettelten. Andere waren bereit, das bisschen, was sie hatten, mit uns zu teilen. Viel war es nie, denn damals war fast jeder arm. Der Hunger war allgegenwärtig und die ausgemergelten Leichen Verhungerter waren ein gängiger Anblick auf den Straßen.

      Unsere Familie musste also ums nackte Überleben kämpfen. Den ganzen Tag bettelten wir an den Türen um Essen – und hatten abends oft doch nicht mehr als zwei Schalen Reis für unsere Familie. Das ging volle zwei Jahre so, jeden Tag; wir wären sonst verhungert. Heute finde ich es skandalös, wenn Kinder um Essen betteln müssen. Die ständige Ablehnung und Unsicherheit, die ich damals miterlebte, haben bis heute Spuren in meiner Seele hinterlassen. Diese Jahre waren furchtbar.

      Dann erließ die Regierung ein Gesetz, nach welchem mehrere Haushalte sich denselben Kochtopf teilen mussten, was bedeutete, dass wir etwas vom Essen unserer Nachbarn abbekamen. Es war nicht viel, aber wir brauchten nicht mehr zu betteln. Der „Große Sprung nach vorn“ (1958-1961), mit dem die Kommunistische Partei die Modernisierung des Landes forcieren wollte, führte aber zur Verknappung von Kochtöpfen, weil die Haushalte 1958/59 ihre Töpfe an den Staat abliefern mussten, um so die Stahlproduktion zu erhöhen. Für Mao war eine Großmacht ein Staat, der viel Stahl produzierte. Folglich wollte er England und die USA in der Stahlproduktion überholen, um China nach vorne zu bringen. Das Ergebnis war, dass es in unserem Dorf für 250 Haushalte nur noch einen einzigen Kochtopf gab, was zur Folge hatte, dass wir nur alle sieben oder acht Tage Nudeln essen konnten – und wer die Provinz Henan kennt, der weiß, dass Nudeln dort das Hauptnahrungsmittel sind.

      1960 standen wir vor lauter „Sprung nach vorn“ am Rande des Todes. 1958-1962 erlebte China die wohl größte Hungersnot in der Geschichte der Welt. Der Modernisierungswahn des Regimes hatte zu einer menschengemachten Katastrophe geführt, die im Laufe von vier Jahren schätzungsweise 45 Millionen Menschen den Tod brachte – nicht nur durch Verhungern, sondern auch durch Schläge, Folter und Zwangsarbeit. Damals war Mao Zedong, der nach der Machtergreifung 1949 als Vater der Kommunistischen Partei galt, Chinas Führer. Er leugnete beharrlich, dass es Hungersnöte gab; das Land ging lediglich durch eine „Periode der Knappheit“ – basta. Damals wurden in manchen Kollektiven oder Kommunen Lebensmittel nach der Arbeitsfähigkeit der Menschen zugeteilt, was bedeutete, dass die Alten, Schwachen, Kranken und Behinderten verhungerten.

      Am schlimmsten traf die Hungersnot die ländlichen Gebiete. Viele Familien versuchten, aus allem, was sie auftreiben konnten (sogar Baumrinde), Suppe zu machen. Die Regierung konfiszierte von den Bauern Vieh („für das Wohl des Volkes“), nur um anschließend das Fleisch in den Händen unqualifizierter Stadtmenschen oder Parteikader verkommen zu lassen. Immer wieder wurden Kinder, die zu schwach waren, um auch nur noch zu weinen, auf den leeren Feldern liegen gelassen, um zu sterben. Über eine Million Menschen zogen den Selbstmord dem Hunger und der Verzweiflung vor.

      Einer der Millionen Hungertoten dieser Jahre war mein Vater, der im Februar 1960 verhungerte, worauf meine Mutter allein mit uns Kindern dasaß. Eines Tages hatte sich mein Vater hingelegt, um zu schlafen, und war nicht mehr aufgestanden. Obwohl ich damals schon neun war, habe ich so gut wie keine Erinnerung daran – vielleicht weil ich nicht dabei war, als er starb. Meine Mutter sagte mir nur, dass Papa nicht mehr da war. Es war nichts Besonderes; wir rechneten damals alle damit, früher oder später zu verhungern.

      Irgendwie fasste ich es trotzdem nicht, dass mein Papa nicht mehr da war. Ich rechnete jeden Augenblick damit, seine Stimme zu hören. Abends wartete ich darauf, dass er in unser Zimmer kommen würde, um uns Kinder ins Bett zu bringen. Aber er kam natürlich nicht. Für mich war der Tod schwer zu begreifen. Er war für mich der große Unbekannte, obwohl überall um mich herum Menschen starben. Mit der Zeit sollte er mir jedoch sehr vertraut werden – vertrauter, als mir lieb sein konnte.

      Mit China ging es damals steil bergab, aber als Kind begriff ich nicht, warum das so war. Ich wusste nur, dass ich Hunger hatte und dass meine Mutter sich abrackerte, um für ihre Kinder genug zu essen aufzutreiben. Jeder Tag war ein neuer Überlebenskampf. Unser Dorf (in China gelten auch Orte in der Größenordnung deutscher Großstädte als Dörfer; d. Übers.) hieß Longchuan (heute Yangji) und hatte an die 200.000 Einwohner. Unser Zuhause war eine Hütte mit Wänden aus Lehm und Gras. Wir teilten sie mit drei anderen Familien; in der einen Ecke war ein kleines, dunkles Zimmer, wo wir alle auf dem Lehmfußboden schliefen. Ich sehe meine Mutter heute noch vor mir, wie sie spätabends unser Lager auf dem Fußboden herrichtete, wie eine Glucke für ihre Küken.

      Nach einem Tag voller Sorgen und Arbeit war meine Mutter oft todmüde. Sie war so unterernährt, dass ihre Haut an den Knochen zu kleben schien. Wenn sie etwas zu essen bekam, gab sie es immer uns, anstatt es selbst zu essen. Ich weiß noch, wie ich selbst in dem dunklen Schlafzimmer ihre Silhouette ausmachen konnte, wenn sie uns ins Bett brachte.

      In jenen Jahren kämpfte meine Mutter jeden Tag mit dem Tod. Ich glaube, sie wäre gerne gestorben, wenn sie nicht für uns Kinder hätte sorgen müssen. Sie hatte erlebt, wie unser Vater einschlief und nicht mehr aufwachte, und hatte Angst, dass uns das auch passieren würde. Dann kam der Tag, an dem meine ältere Schwester heiratete, sodass meine Mutter nur noch meine jüngere Schwester und mich im Haus hatte. Ich bin überzeugt, dass es die Liebe meiner Mutter zu uns war und ihre Entschlossenheit, für uns zu sorgen, die sie einen Tag nach dem anderen am Leben hielt.

      Wenn sie sich abends neben mich legte, sah sie mich immer an, als ob dies das letzte Mal wäre, und dann durchbrach ihre Stimme die Stille: „Junge, ich hab meine Schuhe für die Nacht ausgezogen, aber ich weiß nicht, ob ich sie morgen früh wieder anziehen werde.“ Ich wusste genau, was sie meinte, und es tat mir furchtbar weh. Mein Gehirn begann jedes Mal zu arbeiten. Wie würde das sein − ohne Mama zu leben? Meinen Vater hatte ich schon verloren; dass auch sie noch ging, durfte nicht sein!

      Sie sprach weiter in die Finsternis hinein: „Wenn ich morgen früh nicht mehr aufwache, musst du zum Haus deiner älteren Schwester laufen, sofort! Hörst du mich? Sie wird für dich sorgen.“ Es waren immer ihre letzten Worte, bevor ich einschlief. So verbrachte ich meine Kindheit. Sie war schwer und voller Angst. Noch heute spüre ich den Schmerz, wenn ich an diese Tage zurückdenke.

      Selbst für die damaligen Verhältnisse in China war unser Dorf ein Notstandsgebiet. Es gab bei uns so viele Hungertote, dass der Regierung schließlich nichts anderes übrig blieb, als sich der Realität zu stellen und etwas zu tun. Sie ordnete Hilfsmaßnahmen zur Verteilung von Lebensmitteln unter den Familien in unserem Dorf an.

      Jetzt war der Hungertod gebannt, aber wir waren immer noch stark unterernährt. Es gab sehr wenig zu essen und kein Salz. Meine Mutter schnitt sich schließlich ihr Haar ab und verkaufte es, um mit dem Erlös Reis und Salz für uns zu kaufen. Mit ihrer Glatze wurde sie prompt zum Gespött des ganzen Dorfes. Als ich sah, wie die Leute sie auslachten und was für eine Schmach sie auf sich nahm, um uns zu essen zu geben, bekam ich ein richtig schlechtes Gewissen.

      Die