Gelassen durch die schnelle Zeit. Clemens Bittlinger

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Название Gelassen durch die schnelle Zeit
Автор произведения Clemens Bittlinger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783765571893



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und schreit. Ich schreibe es auf und lege es zur Seite. Das erfordert Zeit. Zeit, die ich mir nehmen muss, denn dafür hat man keine Zeit. Auch wenn man auf einmal ganz viel Zeit hätte, vielleicht weil man sich im Urlaub befindet oder momentan keine Arbeit hat – für die Stille will man oft keine Zeit haben.

      Doch um die Möglichkeiten, die Chancen der Stille in ihrer Tiefe zu erfahren, muss man sich Zeit nehmen. Zeit ist schon etwas Seltsames: Je mehr wir davon haben, desto weniger nutzen wir sie sinnvoll. Der Ausdruck „sich die Zeit vertreiben“ ist dabei ja entlarvend, denn man gewinnt den Eindruck, die Zeit sei etwas Unangenehmes, etwas, das es gilt zu vertreiben wie eine lästige Fliege. Und je weniger Zeit wir haben, desto mehr sehnen wir uns nach mehr Zeit, mehr Freizeit.

      Der Weg in die Stille ist freie Zeit – Freizeit und doch gleichzeitig Arbeit. Von dem Psychotherapeuten Carl Gustav Jung erzählt man sich, er habe einem Patienten relativ kurzfristig einen Termin abgesagt. Einige Tage später sah dieser Patient, wie sein Therapeut zu genau dem Zeitpunkt des abgesagten Termins am Ufer des Zürichsees saß und die Beine im Wasser kühlte. Erbost sprach er ihn beim nächsten Treffen darauf an: „Wieso haben Sie meinen Termin abgesagt, wo sie doch müßig am Zürichsee saßen?“ Darauf soll C. G. Jung geantwortet haben: „Ich hatte einen Termin mit mir selbst!“

      Dazu möchte die Stille mich ermutigen: Mach einen Termin mit dir selbst!

      CB

      Gott spricht im Verzicht

      Ich gehe hinein in die Stille, ich habe mir Zeit genommen, bewusst und nach hinten mehr oder weniger offen. Das Telefon habe ich auf stumm geschaltet. Die Gedanken, die jetzt in der Stille kommen, nehme ich wahr, lasse sie zu und schreibe sie vielleicht auf. Wobei ich manchen Gedanken und manche Sorgen auf einen eigenen Stapel lege – für später.

      Ich suche mir eine bequeme Haltung, ich achte darauf, dass mir nicht zu kalt und nicht zu warm ist. Ich atme ruhig aus, ich atme ruhig ein, ich versuche, in einen gleichmäßigen Rhythmus zu kommen. Ich höre das Blut in meinen Adern rauschen, ich höre meinen Atem. Ab und zu höre ich Geräusche aus der Ferne: einen Glockenschlag, ein vorüberfahrendes Auto, das Bellen eines Hundes. Aber diese Geräusche stören mich nicht mehr, denn ich bin ganz bei mir selbst.

      Auf einmal merke ich: Die Stille kommt zu mir.

      Stille sonderbar, plötzlich bist du da, jeder Ton und jedes Wort birgt für dich Gefahr. Stille, wunderbares Gut, Perle, goldner Traum, der in jedem Herzen ruht, findest selten Raum.

      Ein Liedtext zur Stille fällt mir ein. Ja, es stimmt, die Stille ist ein wunderbares und ein zerbrechliches Gut. Ich möchte dieser kostbaren Perle „Stille“ Raum geben, denn hier kann ich Gott begegnen, und das möchte ich, mehr als alles andere.

      Die Wüstenväter, die Propheten und auch Jesus von Nazareth sind bewusst in die Wüste gegangen, dort gibt es keine Ablenkung, keine akustischen und optischen Reize, die uns herausreißen aus der Stille.

      CB

      In uns ist ein Raum der Stille

      Gott wohnt in der Stille. In uns selbst – so sagen die frühen Mönche – ist ein Raum der Stille. Wir brauchen diese Stille gar nicht zu schaffen. Auf dem Grund unserer Seele, dort, wo Gott in uns wohnt, wo das Reich Gottes in uns ist, dort ist es still.

      Dort haben die Menschen mit ihren Erwartungen und Ansprüchen, mit ihren Urteilen und Verurteilungen keinen Zutritt.

      Dort hat auch der Lärm unserer eigenen Gedanken keinen Zutritt. Wir erleben uns in diesem Raum der Stille als ursprünglich und authentisch, als heil und ganz.

      Dort, wo Gott in uns wohnt, können wir nicht verletzt werden. Und dort lösen sich all die Bilder auf, die wir uns von uns selbst gemacht haben, die Bilder unserer Selbstentwertung und die Bilder unserer Selbstüberschätzung. Und all die Bilder weichen, die andere uns übergestülpt haben.

      Setze dich einmal bequem hin und kreuze die Arme über der Brust. Du schließt gleichsam die Tür und schützt diesen inneren Raum der Stille. Stelle dir vor, dass dort kein Mensch dich verletzen oder verurteilen kann. Dort wohnt Gott in dir. Dort bist du ganz du selbst. Und weil Gott, das Geheimnis, in dir wohnt, kannst du bei dir selbst daheim sein.

      AG

      Genieße die Stille – sie führt dich zur Freiheit

      Wie wir das Schweigen erleben, das hängt immer von unserer inneren Verfassung ab.

      Wenn ich mich im Schweigen verlassen fühle, übersehen, wertlos, isoliert, einsam, dann liegt es an mir, mich meiner Einsamkeit zu stellen. Das Alleinsein gehört zu mir. Wenn ich es annehme, dann kann es sich für mich verwandeln in eine beglückende Erfahrung des „All-Eins-Seins“. Indem ich allein bin, bin ich mit allem, was ist, eins: mit mir selbst, mit Gott, mit den Menschen, mit der ganzen Schöpfung. Dann wird das Schweigen zu einer Erfahrung von Liebe und Einssein, von Fülle und Erfüllung.

      Wenn ich schweige, spüre ich die Stille um mich herum und die Stille in mir selbst. Stille ist in ihrem Wesen etwas Absichtsloses. Sie ist nur Sein. Stille verträgt kein Ego. Das Ich muss losgelassen werden, damit ich wirklich Stille erfahren kann. Stille entsteht, wenn ich mich selbst vergesse, wenn ich mich auf etwas einlassen kann, ohne sofort zu fragen, was es mir bringt und welche Gefühle es in mir hervorruft.

      Setze dich einmal still hin. Du brauchst gar nichts zu tun, gar nichts zu denken. Versuche, einfach nur da zu sein, ohne Absicht, ohne Druck, irgendetwas erfahren zu müssen. Wenn du nur einfach da bist, dann erlebst du auch, dass Gott da ist, dass Gott einfach der Seiende ist. Alle Absichten und Nebenabsichten fallen ab. Du bist reines Sein und hast Anteil an dem Gott, der das Sein ist. Da erlebst du wahre Freiheit, wahre Präsenz. Da bist du ganz du selbst.

      AG

      In der Stille spricht Gott zu mir durch sein Wort

      „Man hat mir gesagt, in der Stille würde ich Gott finden … aber ich habe ihn nicht gefunden“, hörte ich neulich jemanden sagen. „Je stiller es wurde, desto lauter wurde es in mir!“

      Deshalb ist es so wichtig, dass ich mir wirklich Zeit nehme, das, was in mir hochkommt, ernst nehme und registriere und manches vielleicht auch aufschreibe. Wenn ich diese erste Chance der Stille genutzt habe, stelle ich fest, dass ich ruhiger werde.

      Die zweite Chance der Stille ist, dass ich mich selbst wahrnehme und meinen eigenen Rhythmus finde – frei, ohne irgendetwas zu müssen.

      Dann kann ich beginnen, in diese Stille hinein ein Gebet zu formulieren: „Du guter Vater, hier bin ich, wie ein offenes Buch liege ich vor dir, bitte erfülle mein Herz und stärke mich mit deiner Kraft!“ Das tue ich leise, innerlich, mit dem Herzen – wie ein Parabolspiegel richte ich meine Seele auf die Gegenwart Gottes aus.

      Ich lese einen Abschnitt aus der Bibel und lasse ihn durch die Stille zu mir sprechen, gehe den Gedanken nach, die mir dazu kommen.

      Und dann wage ich sie wieder: die Stille. Ich werde Gott begegnen, denn er spricht zu mir durch sein Wort.

      Das ist die dritte Chance der Stille: Ich lasse Gott zu Wort kommen.

      Dazu brauche ich Mut, denn manches, was ER mir zu sagen hat, wird mir nicht gefallen.

      Die vierte Chance der Stille: Ich wende mich dem Papierstapel mit meinen Sorgen und Fragen zu und bringe sie vor Gott: „Bitte hilf mir zu leben und schenke mir neue Kraft! Amen.“

      CB

Wachheit

      Bewache die Tür deines Herzens

      Jesus erzählt uns im Markusevangelium ein Gleichnis von einem Mann, der auf Reisen ging. Er überträgt seinen Dienern die Verantwortung für sein Haus: „Dem Türhüter befahl er, wachsam zu sein“ (Markus 13,34). Dieses Wort hat Evagrius Ponticus aufgegriffen und uns eingeladen, als Christen sollten wir wachsame Türhüter sein. Wir sollen das Tor unseres Herzens beachten und alle Gedanken befragen, die an die Tür klopfen. Wir sollen sie fragen, ob sie uns freundlich gesinnt sind oder