Название | Orientierung finden |
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Автор произведения | David Steindl-Rast |
Жанр | Зарубежная психология |
Серия | |
Издательство | Зарубежная психология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783702239930 |
Wer aber je in den Bergen gewandert ist, das Schweigen des Waldes erfahren hat oder auch nur einen Baum im Park als Freund hat, weiß, dass die Natur mehr ist als nur Objekt. Sie steht uns zugleich auch als Subjekt gegenüber. Martin Buber beschreibt dies am Beispiel eines Baumes, den er nicht als Gegenstand, sondern als Gegenüber zu sehen beginnt.
Ich betrachte einen Baum. Ich kann ihn als Bild aufnehmen … Ich kann ihn als Bewegung verspüren … Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten … als Ausdruck der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen. Ich kann ihn … zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen … In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand …
Es kann aber auch geschehen, durch Entscheidung und Geschenk zugleich, dass ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefasst werde, und nun ist er kein Es mehr … Er hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm – nur anders … Beziehung ist Gegenseitigkeit. So hätte er denn ein Bewusstsein, der Baum, dem unsern ähnlich? Ich erfahre es nicht … Mir begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade (ein Baumgeist), sondern er selber.
Was hat sich hier ereignet? Hat der Philosoph Martin Buber einfach sein eigenes Bewusstsein auf diesen Baum projiziert und ihn so personifiziert? Auf die Frage nach dem Bewusstsein des Baumes antwortet Buber bescheiden: „Ich erfahre es nicht.“ Es geht gar nicht darum, was der Baum erfährt oder nicht erfährt: Es geht darum, was wir erfahren. Uns wird das Einbezogenwerden in eine Beziehung bewusst. Beziehung ist Gegenseitigkeit. Bei dieser Gegenseitigkeit spielt aber mehr mit als dieser einzelne Baum, so wie bei der Begegnung mit einem Menschen mehr mitspielt als dieses einzelne Du. So wie mir in dem Du eines andren das Ur-Du begegnet, so in der Gegenseitigkeit mit dem Es eines Baumes das Ur-Es, dem wir schon in dem Satz „Es gibt mich“ begegnet sind – jenes Es, das alles gibt, „was es gibt“. Diese Erfahrung kommt, wie Buber sagt, „durch Entscheidung und Geschenk zugleich“ zustande. Beides ist nötig: dass wir uns entscheiden, willig unser Herz dieser Erfahrung zu öffnen, und dass wir sie als Geschenk empfangen. „Alles ist Gnade“, sagt Augustinus, alles ist Geschenk des Lebens. Und das Leben ist die abenteuerliche Geschichte unsrer Begegnungen mit dem Geheimnis, von dem wir bisher nur von Robert Frost gehört haben, dass es in der Mitte des kosmischen Reigentanzes „sitzt“ und „weiß“. Unsre Beziehung zum großen Geheimnis können wir nicht nur als Beziehung zum Ur-Du erleben, sondern auch zum Ur-Es.
Begegnungen, wie Buber sie mit dem Baum erlebte, können wir nicht selten mit Tieren erleben. Wer jemals einem Hund oder einer Katze tief in die Augen geschaut hat, weiß dies. Manchmal wird uns sogar eine tiefere Beziehung zu Pflanzen bewusst – wie eben Buber zu seinem Baum. Wenn uns eine solche Begegnung geschenkt wird, heilt dadurch eine abgerissene Verbindung. Die Unterscheidung* zwischen der Ich-Du- und der Ich-Es-Welt wird nicht aufgehoben, aber die gewaltsame Trennung* zwischen den beiden Beziehungswelten beginnt zu heilen. In der ungebrochenen Welt, in der wir von da an leben dürfen, überschneiden sich die beiden Perspektiven und gehen allmählich ineinander über. Freilich dürfen wir nicht erwarten, dass wir ununterbrochen eine wache Ich-Du-Haltung zu Tieren, Pflanzen und Dingen beibehalten können. Das gelingt uns ja auch Mitmenschen gegenüber nicht ununterbrochen. Aber wir können immer wieder zur rechten Beziehung zurückfinden und so zur Heilung der klaffenden Wunde beitragen, die wir unsrer Umwelt zugefügt haben, weil wir sie nicht zugleich auch als Mitwelt behandelt haben.
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert
Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen
Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.
Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus …
und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen,
baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.
Um den ursprünglichen Zauber des Daseins, von dem Rilke hier spricht, wieder zu erfahren, müssen wir lernen, in unsren Ich-Es-Beziehungen nicht weniger als in unsren Ich-Du-Beziehungen das große Geheimnis zu erahnen und uns ihm „kniend“ – das heißt in Ehrfurcht und Staunen – zu nahen.
DAS SYSTEM – DIE MACHT, DIE LEBEN ZERSTÖRT
Das Gegenteil von ehrfürchtigem Umgang mit dem Es sehen wir heute, wo wir nur hinschauen. Die Ich-Es-Welt überwuchert in allen Bereichen die Ich-Du-Welt und gewinnt die Übermacht. Menschen werden heute immer weitgehender wie Dinge kontrolliert, manipuliert und ausgebeutet, ja als Ware verkauft.
Aldous Huxley beschwor schon 1932 ein Schreckgespenst dieser Art von Welt herauf. In seinem Zukunftsroman „Brave New World“, der auf Deutsch erstmals unter dem Titel „Welt – Wohin?“ erschien, ist Menschenwürde* genau das Gegenteil von dem, was die herrschende Gesellschaft – Weltstaat nennt Huxley sie – anerkennt. Ihre höchsten Werte sind kaltes Wissen, streng reglementiertes Verhalten und Effizienz der Produktion. Um den Kindern, die in einer Brutstätte durch selektives Klonen hergestellt werden, diese Werte so früh wie möglich einzuprägen, werden sie in einem Konditionierungszentrum aufgezogen, wo Eigenständigkeit, Gefühlsleben und jede herzliche persönliche Beziehung ausgemerzt werden. Die einzige Figur des Romans, die sich darüber empört und sich weigert, ein Zahnrad in diesem Mechanismus zu werden, flieht in die Einsamkeit, wird aber von Horden neugieriger Touristen entdeckt und von Hubschraubern aus beobachtet. Am Ende erhängt sich John aus Verzweiflung über eine Gesellschaft, in der Menschen wie Maschinen funktionieren sollen. Huxley scheint eine Vorahnung gehabt zu haben von jener Zerstörung der Ich-Du-Welt durch die Ich-Es-Welt, welche sich in unsren Tagen in schrecklichen Ausmaßen verwirklicht.
Welche Kraft treibt eigentlich diesen Verfallsprozess der Gesellschaft voran? Die Umgangssprache nennt diese lebenszerstörende Macht das „System“. Unzählige begeisterte junge Lehrer, Medizinstudenten und politische Kandidaten mit hohen Idealen kennen die Erbarmungslosigkeit des „Systems“ nur allzu gut. Täglich müssen sie sich damit herumschlagen, müssen ihre Lebendigkeit und ihren Idealismus gegen den aufreibenden Druck des „Systems“ verteidigen. Dabei ist es gar nicht so eindeutig, was der Begriff „System“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Hier heißt es vorsichtig sein. Wir dürfen das „System“ auf keinen Fall mit dem pädagogischen, medizinischen, politischen oder ähnlichen Systemen gleichsetzen. Alle diese Systeme können ja das Leben verbessern, wenn sie gut funktionieren. Sie werden nur dann schädlich, wenn das „System“ sich ihrer bemächtigt und sie vergiftet. Ist es nicht erstaunlich, wie blind wir sind für diese Unterscheidung zwischen den verschiedenen Systemen und dem „System“ im engeren Sinn, das sie befällt? Wir verwechseln hier den Patienten mit der Krankheit – ein erkranktes System mit dem „System“, das es zerstört. Dieses Missverständnis heißt es unbedingt zu vermeiden, da es unsre Handlungen fehlleiten muss. Wir dürfen doch nicht das kranke System beschuldigen und angreifen, sondern müssen versuchen, es von dem „System“ zu befreien, das es krankmacht.
Wir wollen aufmerksam unterscheiden. System im allgemeinen Sinne des Wortes bedeutet einfach „Struktur“ – das ist die wörtliche Übersetzung des griechischen sústēma = strukturierter Aufbau von etwas mit verschiedenen Teilen, Funktionen oder gegenseitigen Beziehungen. In diesem allgemeinen Sinn kann ein System positive oder negative Auswirkungen haben. Mit diesem Begriff ist kein Werturteil verbunden. Aber das „System“ in unsrem besonderen Sinn bedeutet immer eine Struktur mit negativen Auswirkungen. „Man kann dem System nicht trauen“, das ist ein Grundsatz, den wir wohl alle schon oft gehört haben. Er warnt vor der Gefahr, sich mit dem „System“ anzufreunden. Weil wir aber meist nicht zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes System unterscheiden, laufen wir immer wieder Gefahr, beispielsweise dem politischen System automatisch zu misstrauen, anstatt uns unsrer Verantwortung zu stellen, es zu verbessern und