Der Kolonisator und der Kolonisierte. Albert Memmi

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Название Der Kolonisator und der Kolonisierte
Автор произведения Albert Memmi
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783863935764



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und Rohstoffe billig ans Mutterland und kauft dafür teure Fertigprodukte. Dieser sonderbare Handel ist nur dann für beide Teile profitabel, wenn der Eingeborene für nichts oder fast nichts arbeitet. Das ländliche Subproletariat kann nicht einmal auf die Benachteiligtesten unter den Europäern als Verbündete zählen: alle leben von ihm, selbst noch die »kleinen Kolonisatoren«, die, obwohl von den Großgrundbesitzern ausgebeutet, im Vergleich zu den Algeriern noch Privilegierte sind: das Durchschnittseinkommen der Algerienfranzosen ist zehnmal so groß wie das der Araber. Daher die Spannung. Damit Löhne und Lebenshaltungskosten möglichst niedrig bleiben, bedarf es einer heftigen Konkurrenz der eingeborenen Arbeiter untereinander, also einer Steigerung der Geburtenrate; da aber die Ressourcen des Landes durch die koloniale Usurpation begrenzt sind, sinkt bei gleichbleibenden Löhnen der Lebensstandard des Moslems unablässig, und die Bevölkerung lebt im Zustand permanenter Unterernährung. Die Eroberung geschah durch Gewalt; die Überausbeutung und die Unterdrückung erfordern die Aufrechterhaltung der Gewalt, also die Anwesenheit der Armee. Nun gäbe es da keinen Widerspruch, wenn überall auf der Welt der Terror herrschte: aber der Kolonisator erfreut sich drüben im Mutterland der demokratischen Rechte, die das Kolonialsystem den Kolonisierten verweigert: tatsächlich ist es das System, das das Anwachsen der Bevölkerung begünstigt, um den Preis der Arbeitskraft zu senken, und das System ist es auch, das die Assimilierung der Eingeborenen verbietet: hätten sie das Wahlrecht, würde ihre zahlenmäßige Überlegenheit das System augenblicklich sprengen. Der Kolonialismus verweigert die Menschenrechte Menschen, die er gewaltsam in Elend und Unwissenheit, also, wie Marx sagen würde, im Zustande des »Untermenschentums« hält. Den Fakten selbst, den Institutionen, der Art des Tausches und der Produktion ist der Rassismus immanent; der politische und der soziale Status stärken einander wechselseitig: da der Eingeborene ein Untermensch ist, betrifft die Erklärung der Menschenrechte ihn nicht; umgekehrt ist er, da er die Rechte nicht hat, schutzlos den unmenschlichen Kräften der Natur ausgesetzt, den »ehernen Gesetzen« der Wirtschaft. Der Rassismus ist bereits da, getragen von der kolonialistischen Praxis, in jedem Augenblick erzeugt durch den kolonialen Apparat und unterhalten durch Produktionsverhältnisse, die zwei Arten von Individuen unterscheiden: für die einen bilden das Privileg und das Menschsein eine Einheit; sie werden Menschen durch den freien Gebrauch ihrer Rechte; bei den anderen wird durch die Rechtlosigkeit ihr Elend, ihr chronischer Hunger, ihre Unwissenheit, kurz, das Untermenschentum sanktioniert. Ich habe immer gedacht, dass die Ideen sich in den Dingen abzeichnen und dass sie schon im Menschen sind, wenn er ihnen Form gibt, um sich seine Situation zu erklären. Der »Konservatismus« des Kolonisators, sein »Rassismus«, die ambivalenten Beziehungen zum Mutterland, all das ist im Voraus gegeben, schon ehe es sich im »Nero-Komplex« manifestiert. Memmi würde mir wahrscheinlich erwidern, er sage nichts anderes – das weiß ich*; im übrigen ist möglicherweise er es, der recht hat: indem er seine Ideen in der Reihenfolge ihrer Entdeckung, das heißt ausgehend von menschlichen Intentionen und gelebten Beziehungen darstellt, gewährleistet er die Authentizität seiner Erfahrungen: er hat zuerst in seinen Beziehungen zu den anderen, in seinen Beziehungen zu sich selbst gelitten; er ist, indem er den Widerspruch, der ihn zerriss, vertiefte, auf die objektive Struktur gestoßen; und er liefert sie uns ohne Zutaten, roh, noch ganz durchdrungen von seiner Subjektivität.

      Doch lassen wir die Krittelei. Das Werk etabliert einige zwingende Wahrheiten. Zunächst die, dass es weder gute noch böse Kolonisatoren gibt: es gibt Kolonisatoren. Einige von ihnen verneinen ihre objektive Realität: durch den kolonialen Apparat trainiert, führen sie täglich in der Tat aus, was sie im Traum verdammen, und jede ihrer Handlungen trägt dazu bei, die Unterdrückung aufrechtzuerhalten; sie werden nichts ändern, niemandem nutzen und in der Malaise moralischen Trost finden, das ist alles.

      Die anderen – und das ist die Mehrzahl – beginnen oder enden damit, sich selbst zu bejahen.

      Memmi hat die Folge der Schritte, die zur »Selbst-Absolution« führen, hervorragend beschrieben. Der Konservatismus hat die Auslese der Mittelmäßigen zur Folge. Wie kann sie ihre Privilegien begründen, diese ihrer Mittelmäßigkeit bewusste Elite von Usurpatoren? Einziges Mittel: den Kolonisierten erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen; den Eingeborenen den Status von Menschen absprechen, sie als bloße Privationen definieren. Das wird nicht schwerfallen, da ja gerade das System ihnen alles vorenthält; die kolonialistische Praxis hat die koloniale Idee den Dingen selbst aufgeprägt; es ist der Lauf der Dinge, der zugleich den Kolonisator und den Kolonisierten hervorbringt. So rechtfertigt sich die Unterdrückung durch sich selbst: die Unterdrücker schaffen und erhalten mit Gewalt die Übel, die in ihren Augen den Unterdrückten mehr und mehr zu dem machen, was er sein müsste, um sein Schicksal zu verdienen. Der Kolonisator kann sich die Absolution nur erteilen, wenn er systematisch die «Entmenschlichung« des Kolonisierten betreibt, das heißt, wenn er sich jeden Tag etwas mehr mit dem Kolonialapparat identifiziert. Der Terror und die Ausbeutung entmenschlichen, und der Ausbeuter ermächtigt sich selbst zu dieser Entmenschlichung, um weiter ausbeuten zu können. Die Maschine dreht sich im Kreis; unmöglich, die Idee von der Praxis und die Praxis von der objektiven Notwendigkeit zu unterscheiden. Diese Momente des Kolonialismus bedingen sich bald gegenseitig, bald gehen sie ineinander auf. Die Unterdrückung, das ist zunächst der Hass des Unterdrückers gegen den Unterdrückten. Nur eins steht dessen leibhaftiger Vernichtung im Wege: der Kolonialismus selbst. Hier stößt der Kolonisator auf seine eigene Widersprüchlichkeit: mit dem Kolonisierten würde die Kolonialherrschaft verschwinden, der Kolonisator inbegriffen. Wo es kein Subproletariat mehr gibt, da gibt es keine Überausbeutung mehr: man würde in die gewöhnlichen Formen der kapitalistischen Ausbeutung zurücksinken; die Löhne und Preise würden sich nach denen des Mutterlandes richten: es wäre der Ruin. Das System erfordert gleichzeitig den Tod und die Vermehrung seiner Opfer; jede Veränderung träfe es tödlich: ob man die Eingeborenen assimiliert oder massakriert, der Preis der Arbeitskraft wird fortwährend ansteigen. Die schwerfällige Maschine hält diejenigen, die gezwungen werden, sie in Gang zu halten, zwischen Leben und Tod – immer näher am Tod als am Leben; eine versteinerte Ideologie bemüht sich, Menschen als sprechende Tiere zu betrachten. Vergeblich: um ihnen Befehle geben zu können, und seien sie noch so hart, noch so beleidigend, muss man sie zuvor anerkennen; und da man sie nicht ununterbrochen bewachen kann, muss man sich wohl oder übel entschließen, ihnen zu vertrauen: niemand kann einen Menschen »wie einen Hund« behandeln, wenn er ihn nicht zuvor als Menschen anerkannt hat. Die unmögliche Entmenschlichung des Unterdrückten verkehrt sich in die Selbstentfremdung des Unterdrückers: er ist es, er selbst, der durch seine geringste Geste das Menschsein wieder hervorruft, das er zerstören möchte; und da er es bei den anderen verneint, muss er sich selbst versteinern, muss die Trägheit und Undurchdringlichkeit eines Felsblocks annehmen, muss, kurzum, sich seinerseits »entmenschlichen«.

      Eine unerbittliche Wechselseitigkeit fesselt den Kolonisator an den Kolonisierten, sein Produkt und sein Los. Memmi hat das deutlich herausgestellt; wir entdecken mit ihm, dass das Kolonialsystem eine gegen die vorige Jahrhundertmitte entstandene Bewegung ist, die ihre eigene Zerstörung von selbst bewerkstelligen wird: lange schon kostet sie die Mutterländer mehr als sie ihnen einbringt: Frankreich wird erdrückt von der Last Algerien, und wir wissen jetzt, dass wir den Krieg aufgeben werden, ohne Sieg oder Niederlage, wenn wir zu arm sein werden, um ihn zu bezahlen. Aber vor allem anderen ist es die mechanische Starre des Apparats, die im Begriff ist, diesen zu zerstören: die alten Gesellschaftsstrukturen sind pulverisiert, die Eingeborenen »atomisiert«, und die koloniale Gesellschaft kann sie nicht integrieren, ohne sich selbst zu zerstören; sie werden also ihre Einheit gegen sie wiedergewinnen müssen. Diese Ausgeschlossenen werden ihren Ausschluss im Namen des nationalen Selbstbewusstseins fordern: es ist der Kolonialismus, der den Patriotismus der Kolonisierten hervorbringt. Diesen von einem Unterdrückungssystem auf dem Niveau von Tieren gehaltenen Menschen gewährt man keinerlei Recht, nicht einmal das Recht zu leben, und ihre Lebensbedingungen verschlechtern sich mit jedem Tag: wenn einem Volk nichts mehr bleibt als die Wahl seiner Todesart, wenn es von seinen Unterdrückern nur ein einziges Geschenk bekommen hat, die Verzweiflung –was hat es dann noch zu verlieren? Gerade aus seinem Unglück wird ihm sein Mut kommen; die ewige Zurückweisung, die die Kolonisation ihm entgegensetzt, wird es mit der absoluten Zurückweisung der Kolonialherrschaft erwidern. Das Geheimnis des Proletariats, hat Marx einmal gesagt, liegt