Wir müssen reden. Susanne Schnabl

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Название Wir müssen reden
Автор произведения Susanne Schnabl
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783710602610



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weder in der Arbeit noch im Supermarkt, im Kindergarten, in der Schule unserer Kinder oder auf dem Fußballplatz. Jeder lebt in seiner eigenen Welt. Zwei völlig verschiedene Lebenswelten sind das in ein und derselben Stadt. Die viel zitierten Filterblasen, die gibt es eben nicht nur in den sozialen Medien, wo ich auf die zornig postende Frau aus Floridsdorf gestoßen bin, die gibt es auch im wirklichen Leben. Aber was ist, wenn diese Filterblasen viel größer sind, als wir uns eingestehen wollen? Und was geschieht, wenn wir auf jemanden aus einer ganz anderen Blase, einer ganz anderen Welt stoßen wie soeben Frau T. und ich? Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, dass wir in digitalen Echokammern leben, wo unsere persönliche Meinung dauernd aufs Neue bestätigt wird. So eine Art Schulterklopfen und klick, fertig ist das meist stromlinienförmig durch Algorithmen generierte Weltbild, ein immer wiederkehrendes Echo des eigenen Standpunktes.

      Was passiert aber, wenn jemand widerspricht? Geben wir dann Kontra, verteidigen uns und unsere Haltung oder sind wir beleidigt, vielleicht wehleidig, ziehen uns zurück, werden stumm und schweigen? Das hängt freilich ganz vom Thema und der Dringlichkeit ab, aber meistens scheuen wir die Diskussion, die Konfrontation, den Streit. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie begegne ich jener Frau aus dem Nagelstudio, die mich Wochen zuvor noch als Teil der „Lügenpresse“ bezeichnet hatte? Manchmal ist es Bequemlichkeit, manchmal das, was man als Wurschtigkeit bezeichnet, manchmal fehlt die Energie und manchmal kommt es einem sinnlos vor und vielleicht ist es das hin und wieder auch, sich auf eine Diskussion mit ungewissem Ausgang einzulassen. Zum Beispiel erst unlängst im Zug, wenn der unbekannte, gesprächige Sitznachbar sich anfangs noch über das Wetter beschwert und, immer mehr in Fahrt kommend, einen Skandal nach dem anderen ausmacht und die Welt vom Fernsehprogramm bis zur Politik kurz vor dem Abgrund stehen sieht. Selbst wenn man innerlich laut „Nein, früher war nicht alles besser!“ ruft, bequemt man sich dann nur zu einem leisen „Naja“, in der Hoffnung, den Redeschwall vielleicht so zu bremsen. Dafür ziehen wir dann ein anderes Mal zutiefst überzeugt in den Streit und kämpfen mitunter energisch für Nebensächlichkeiten, sodass uns für die wirklich großen Auseinandersetzungen die Energie und oft auch der Mut fehlen. Manchmal aber vermeiden wir den Streit und den Widerspruch aus Unsicherheit, dabei auf der richtigen Seite zu stehen, oder aus Angst vor der möglichen Wucht der Reaktion.

      So erklärt mir Frau T., dass sie eigentlich nicht mehr über Politik reden wolle. „Warum?“, frage ich sie. Damit habe sie „in diesem Facebook“ nur schlechte Erfahrungen gemacht. „Angepöbelt bin ich worden, weil ich anderer Meinung war. Ich sei eine Rassistin, weil ich meine, dass schon genug Menschen zu uns gekommen sind. Ich, eine Rassistin!? Ich lackier hier Nägel, wenn’s sein muss, auch mit mitgebrachtem Halal-Nagellack (ein wasserdurchlässiger Nagellack für praktizierende Musliminnen erfahre ich später – wieder etwas gelernt).“ Die Realität ist dann halt doch ein wenig komplexer und bunter als so manches Schwarz-Weiß-Posting. „Was haben Sie denn den Leuten geantwortet, die Sie beschimpft haben?“, will ich wissen. „Nichts. Warum soll ich mich rechtfertigen, mich beleidigen lassen?“, fragt sie, zündet sich die nächste Zigarette an und erklärt, dass sie es anfangs spannend fand, sich über Facebook mit anderen, zumeist Unbekannten auszutauschen. Nicht der übliche Smalltalk wie mit vielen ihrer Kundinnen hier im Nagelstudio. Und dennoch sei sie zu dem Schluss gekommen: „Das bringt nix. Soll ich herumstreiten? Ich weiß nicht. Das ist anstrengend. Ich habe ständig das Gefühl, mich für oder gegen etwas oder jemanden entscheiden zu müssen, um ja auf der richtigen Seite zu stehen. Mir ist das zu anstrengend“, seufzt sie und setzt fort, „mir ist das zu viel geworden und daher poste ich nichts mehr, wenn’s um Politik geht. Keine Kommentare mehr, nix.“ „Also Rückzug?“, schau ich sie fragend an. „Ja, kann man so sagen. Am Ende kommt dabei eh nix raus.“ Und tatsächlich: Auf ihrem Facebook-Profil sind alle Kommentare und Postings, in denen es um Politik geht, gelöscht. Zu lesen sind dort nur mehr Kalendersprüche und Werbung für ihr kleines Geschäft. Frau T. hat sich für den Rückzug ins digitale Biedermeier entschieden. Aber kann eine pluralistische Gesellschaft funktionieren, wenn wir aus Angst vor dem Shitstorm oder eben auch aus Bequemlichkeit oder gar Wehleidigkeit mit Andersdenkenden nicht mehr ins Gespräch kommen, weil wir uns mit Widerspruch erst gar nicht auseinandersetzen wollen? Lieber schweigen und nur noch dort mitreden, wo man sich ohnehin verstanden fühlt: zu Hause im Wohnzimmer, im Freundeskreis, in Chat-, in WhatsApp- oder Twitter-Gruppen, im Safe Space. Man bleibt lieber unter sich. So entstehen immer kleinere Gruppen und Stämme Gleichgesinnter und Ähnlichdenkender, zwischen denen Meinungsverschiedenheiten selten bis nie offen ausgetragen werden. Oft schwingt die Frage, die Sorge mit, ob dieses oder jenes womöglich Beifall von der falschen Seite provoziert. Dann schweigt man lieber gleich oder schnitzt seine Aussagen im Kopf so zurecht, dass sie erst gar nicht anecken. Bloß nicht provozieren, widersprechen oder gar quer denken. Um den Inhalt geht es dabei nicht, sondern vielmehr darum, auf der richtigen Seite zu stehen. Es geht um Allianzen, die eigene Person und um Inszenierung und dabei nur selten um die Sache.

      Aber wie sieht eine Gesellschaft aus, in der vieles aus Angst vor der Reaktion gar nicht mehr gesagt und geschrieben wird? Dreht sich die „Schweigespirale“1 dann immer schneller und die Lauten geben ausnahmslos den Ton an? Frau T. gehört nicht zu den Lauten, sie hat sich verabschiedet. Politisiert wird zu Hause, im Netz postet sie nur mehr Unverfängliches: Kalendersprüche statt Politik.

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