Название | Der Krieg |
---|---|
Автор произведения | Ilja Steffelbauer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783710601385 |
„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“ ist ein hilfloser Aufruf zur Realitätsverweigerung. Doch wir sind keine Kinder mehr. Das Ungeheuer geht nicht weg, nur weil wir unsere Augen davor verschließen. Wir müssen Mars ins Angesicht schauen und sagen: „Ich kenne dich, alter Mann! Ich kenne deine Tricks und deine Fallstricke. Du wirst mich nicht mehr überlisten!“ Indem wir anhand des Lehrbuchs, das uns die Geschichte eröffnet, lernen, weshalb Kriege geführt werden, welchen Nutzen und welche Risiken sie bergen, können wir das Ungeheuer domestizieren. Wir sollten vielleicht nicht vorschnell hoffen, dass wir es endgültig wegsperren können. Beizeiten wird es uns noch dienen müssen.
Ilja Steffelbauer
Im abgeschiedenen Hochland von Neuguinea sitzt ein Mann mit einer Kamera und filmt Krieg. Es ist der ethnographische Filmemacher Robert Gardner. Wir schreiben das Jahr 1961. West-Neuguinea ist der letzte Rest des holländischen Kolonialreiches, an den sich die ferne Metropole noch klammert. Im dschungelbedeckten Hinterland der Insel befindet sich in diesen Jahren so etwas wie ein Eldorado für Ethnologen. Es sind die letzten weißen Flecken auf der ethnographischen Landkarte der Welt, die hier gerade beseitigt werden. Die Existenz der Völker im bergigen Inneren der Insel wurde erst in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg bekannt. Die Dani des Hochlandes, deren Kultur und Gesellschaft Gardner mit der Kamera einfangen möchte, wurden in den 1930ern zum ersten Mal gesichtet: von einem Flugzeug aus. Der Österreicher Heinrich Harrer wird ein Jahr nach Gardner das Gebiet auf dem Weg zur Besteigung des Puncak Jaya durchqueren. Auch er verzeichnet in seinen Erinnerungen, was der Filmer ebenfalls feststellt: Die Dani lebten effektiv in der Steinzeit; und sie waren extrem kriegerisch. Mehrmals musste der Bergsteiger auf seiner Expedition wegen abrupt ausgebrochener Stammesfehden seine Route ändern oder gar um sein Leben fürchten.
1963: Gardner ist zurück in den USA. An der Universität Harvard, wo er das Film Study Center leitet, das er begründet hat, schneidet er aus seinen Aufnahmen aus Neuguinea einen Film. Im intellektuellen Netzwerk der amerikanischen Ostküste, in deren Zentren die Ivy League Universitäten wie Harvard stehen, brodelt es. Die ersten
EINST WAREN WIR KRIEGER
Robert Gardner, Anthropologe
* 5. November 1925, Brookline, Massachusetts
T 21. Juni 2014, Cambridge, Massachuset
Vertreter der Friedensbewegung formieren sich. Der 1960 gewählte US-Präsident John F. Kennedy betreibt eine Politik der Eskalation im Kalten Krieg. Die Kubakrise bringt die Welt an den Rand der nuklearen Vernichtung. In Vietnam sieht der junge Präsident seine Chance, frühere Rückschläge wie die desaströse Invasion in der Schweinebucht wieder auszubügeln. Am 22. November 1963 stirbt er in Dallas durch die Kugeln eines Attentäters. Sein Nachfolger Lyndon B. Johnson setzt auf eine noch härtere Gangart in Südostasien. Binnen Jahresfrist werden amerikanische Soldaten auf dem Weg nach Vietnam sein und Ende des Jahres gibt es die ersten landesweiten Proteste gegen den Krieg in Vietnam. Junge Männer, meist an den liberalen Universitäten Kaliforniens und der Ostküste, zerreißen ihre Einberufungsbefehle. In diesem Klima stellt Gardner seinen Film über die Dani fertig. Er nennt ihn „Dead Birds“. Der Film reflektiert die Sinnlosigkeit und Unerklärlichkeit des Kriegs scheinbar in einem fernen Spiegel am anderen Ende der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Es ist ein Film für eine Generation, die nicht bereit ist, sich in den absurden Riten ihrer Häuptlinge abschlachten zu lassen: „Why war?“ werden sie auf ihre Transparente schreiben.
Als Gardner die Dani filmt, herrscht in der Anthropologie – der Wissenschaft, die hierzulande meist immer noch altväterlich „Völkerkunde“ genannt wird – die Ansicht, dass die Hochlandstämme Neuguineas und anderen mehr oder weniger isolierte Ethnien, die zur selben Zeit in entlegenen Regionen des Globus entdeckt werden, sozusagen lebende Fossilien sind: Menschen, deren Gesellschaft und Technologie sich seit der Steinzeit nicht verändert haben. Sie boten damit sozusagen Fenster in unser aller ferne Vergangenheit. Und durch dieses Fenster sieht Gardner, ähnlich wie Napoleon Chagnon, der etwa zeitgleich ein anderes isoliertes Volk, die Yanomami im brasilianischen Urwald, untersucht, vor allem eines: Krieg. Die gesamte Kultur und Gesellschaftsordnung dieser steinzeitlichen Gesellschaften schien sich um Krieg und Gewalt zu drehen, was Chagnon dazu veranlasst, sein 1968 erschienenes Buch über die Yanomami „The Fierce People“ – etwa das „grimmige“ oder „kämpferische“ Volk – zu nennen. Seine Betonung der brutalen und gewalttätigen Seiten dieser indigenen Kultur bringt ihm viel Kritik ein, genauso wie Gardner in der Zunft vorgeworfen wird, dass er die Menschen Neuguineas, die er gefilmt hat, nicht zu Wort kommen lässt und sie seiner eigenen großen Erzählung von Gewalt und Krieg unterordnet. Die Faszination der amerikanischen Ethnologie der 1960er mit der kriegerischen und gewalttätigen Seite dieser Völker kann aber auch im Kontext der Zeitgeschichte gelesen werden: Eine Gesellschaft, die innerlich zerrissen ist durch ihre Rolle in einem höchst kontroversen Krieg, suchte am fernstmöglichen Ort nach Versicherung; nach einer Antwort auf die bange Frage, ob menschliches Dasein immer von Krieg und Gewalt bestimmt war. In einer Zeit, in der die Möglichkeit der völligen Vernichtung der Spezies und eines großen Teils der irdischen Biosphäre durch den nächsten großen Krieg in greifbare Nähe rückte, schien ein wenig Introspektion dringend angeraten:
Wilde Krieger: Die Dani im Hochland Neuguineas leben in einer Welt ständiger Kämpfe zwischen benachbarten Dorfgemeinschaften.
War der nackte Affe, der jetzt am roten Knopf saß, seiner Natur nach kriegerisch oder friedlich?
Jede Antwort auf diese Frage ist dazu geeignet, einen Teil der Fragenden zu enttäuschen.
Eden
Nach übereinstimmender Ansicht der Paläontologen tritt der moderne Mensch – Homo sapiens – vor ca. 200.000 Jahren in Afrika in Erscheinung. Von dort verbreitet er sich in einem einzigartigen Siegeszug über die ganze Welt. Kaum eine Spezies von Säugetieren erweist sich als so anpassungsfähig wie der aufrecht gehende Affe aus der Savanne Ostafrikas. Vor 100.000 Jahren erreicht er den Nahen Osten, vor 70.000 Jahren Indien und Südostasien, Australien vor 50.000, Europa vor 40.000 Jahren und kurz danach dringt er in das Innere Asiens und von dort über die eiszeitliche Landbrücke nach Amerika vor. Die Arktis und einige abgelegene Inseln wie Madagaskar und Neuseeland wird er „erst“ in den letzten paar tausend Jahren erreichen. 190.000 dieser 200.000 Jahre seiner Existenz als Spezies verbringt der Homo sapiens als Sammler und Jäger in kleinen Wandergruppen von selten mehr als 20 Mitgliedern mit einem recht bescheidenen kulturellen Inventar, welches er zu einem erklecklichen Teil von seinen protomenschlichen Vorfahren übernommen hat. Neben dem Feuer als wichtigster Errungenschaft beinhaltet es Speere, Steinklingen, und wo nötig, schützende Kleidung aus Fell. Selbst Pfeil und Bogen fügt er seiner Ausstattung erst vor etwa 60.000 Jahren hinzu. Vor ca. 40.000 Jahren beschleunigt sich der kulturelle Fortschritt und mit der Entwicklung von Sesshaftigkeit und