Название | Gregorsbriefe |
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Автор произведения | Gregor Schorberger |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957712844 |
Gregor Schorberger
Gregorsbriefe
Ein schwuler Seelsorger im Dialog
mit seinem Vater
Autobiografie
Widmung
Für
Burkhard Cramer
Elisabeth Schorberger, geb. Ruhl
Johann Schorberger, geb. Skorupa
Brief über den Anlass meines Schreibens
Frankfurt am Main, 1. Februar 2016
Lieber Papa,
heute, am 1. Februar 2016, würdest Du 108 Jahre alt. Würdest Du in Frankfurt wohnen und noch leben, wärest Du einer von 240 Hundertjährigen, die Oberbürgermeister Peter Feldmann diesen Monat in den Römer eingeladen hat. Diesen freudigen Anlass nehme ich gerne wahr, um Dir nach langer Zeit wieder einmal zu schreiben. Du selbst hast ja gerne lange Briefe an uns geschrieben, wenn Deine reiselustige Ehefrau Lieb, wie Du sie zärtlich nanntest, mit uns drei Kindern irgendwo in Holland, Frankreich oder Deutschland in Urlaub war. Nun habe ich das gleiche Alter von 68 Jahren erreicht, in dem Du am 10. Juli 1976 in meinen Armen zu Hause in Essen-Karnap gestorben bist. Grund genug, auf unsere gemeinsame Zeit und, mich in Dir spiegelnd, auf die Jahre nach Deinem Tod bis heute zurückzublicken. Bestimmt bist Du, Papa, auch gespannt zu hören, was aus Deinem »Stammhalter« geworden ist, dieser damals wie heute phlegmatischen Person. Ich höre Dich noch am Küchentisch schimpfen: »Schon hundertmal habe ich Dir gesagt: Gregor, sitz gerade! Geistesabwesend wie Du wieder bist, ist alles vergebliche Mühe, Dir etwas zu sagen.«
Übrigens feiere ich heute auch das 23½jährige Zusammensein mit Burkhard, meinem Lebenspartner. Ja, Papa, Du hast am 12. Juli 1992 einen neuen Schwiegersohn erhalten. Du bist bestimmt völlig überrascht, diese Nachricht zu hören, dass Dein Sohn einen Mann in einem Standesamt und in einer katholischen Kirche geheiratet hat, bestand doch zu Deiner Zeit in der Bundesrepublik noch der von den Nazis verschärfte Strafparagraph 175a. Du hast als Polizist an der Hauptwache in Essen eher dienstlich mit homosexuellen Menschen zu tun gehabt. Hätte ich Dir Burkhard jedoch 1992, im ersten Jahr unserer Liebe, vorgestellt, Du hättest ihn genauso gastfreundlich aufgenommen, wie es Mama, Deine Töchter Christiane und Marlene sowie ihr Mann Karlheinz mit ihren drei Kindern getan haben.
Du siehst, ich habe Dir aus meiner Lebensgeschichte viel zu erzählen, Freudiges, Leidvolles und Dramatisches. Ja, es gibt eine ganze Palette gefühlvoller Lebensereignisse, voller bunter Farben, die zwischen Sonnen- und Schattenseiten stehen. Du selbst scheutest Dich nicht, Deine Gefühle zu zeigen, seien es Tränen der Freude bei der Weihnachtsbescherung oder Tränen der Trauer angesichts eines längeren Abschieds eines Deiner Kinder. Viele Erlebnisse, die ich Dir aus meiner Kindheit und Jugendzeit erzähle, sind Dir bekannt. Andererseits ist auch einiges für Dich neu, da ich Vergangenes vor allem unter homoerotischen und spirituellen Zusammenhängen aufspüren und aus der Perspektive des neuen Jahrtausends wiedergeben werde. Meine Briefe an Dich erzählen von der alten und der neuen Heimat, von Erinnerungen aus der Kindheit, Jugend- und Erwachsenenzeit, von familiären, wohngemeinschaftlichen, partnerschaftlichen, kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Ereignissen. Dabei hoffe ich, mir beim Erinnern klarer zu werden über mich, wer ich bin und warum ich gerade in dieser Zeit und an diesem Ort auf die Welt gekommen bin.
Eingedenk Eurer gerade überstandenen grauenhaften Kriegserlebnisse frage ich mich, ob Du, Papa, und Mama, als Ihr mich im Oktober 1946 gezeugt habt, noch ein Kind wolltet. An meinem Geburtstag, dem 13. August 1947, waren meine Schwestern Marlene eineinhalb und Christiane fünf Jahre alt. Im Januar 1944 hatte Mama – gut ein Jahr nach Christianes Geburt –, während der Bombenkrieg tobte, sehr früh ein Kind im Mutterleib verloren. Wer war eigentlich dieses mein Geschwisterkind? Wäre es ein Bruder oder eine Schwester geworden?
Ich wurde im Wohnhaus der Polizei in Essen-Karnap geboren, Karnaper Straße 87, mitten im Ruhrpott und umgeben von vielen Zechen. Mama wollte immer drei Kinder, und Du warst überglücklich, nach zwei Töchtern nun einen Stammhalter, wie es damals hieß, zu haben. Eure erste Zweizimmerwohnung lag direkt neben der Polizeiwache oberhalb einer Gefängniszelle. Sofort nach meiner Geburt im Sommer 1947 gab es heftigen Krach. Nicht aus der Polizeiwache kam der Lärm, sondern von Deinen Geschwistern, die extra aus Essen-Altenessen angereist waren, um an meiner Namensgebung mitzuwirken. Dein cholerischer Bruder Konrad wollte, dass ich seinen Namen bekomme, Deine stolze Schwester Hedwig unbedingt den Namen ihres Mannes Heinrich in mir verewigt sehen. So wurde ich einige Tage nach meiner Geburt auf den Namen Heinz-Gregor Konrad in der katholischen St. Marien-Kirche zu Karnap getauft. Ob Dir und Mama damals bewusst war, dass die Taufe ein großes Geschenk an jedes Neugeborene ist? Entsprechend dem gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen habe ich als Getaufter und damit als eigenständige Person Teilhabe am priesterlichen, prophetischen und königlichen Dienst Christi. Im Gegensatz dazu sahst Du, Papa, mich als Deinen Besitz an. An Mama schriebst Du in einem Deiner täglichen Briefe aus dem Polizeieinsatz während der Jahre von 1942 bis 1945 in Polen: »Was soll es mal geben, wenn wir das zweite und dritte Engelchen besitzen?« Von Dir, Mama und anderen Familienangehörigen mit Liebe überschüttet, wollte ich aus heutiger Sicht dennoch nicht von Euch bestimmt und abhängig bleiben.
Eigentlich müsste ich Heinz-Gregor Konrad Guste Paul heißen, da Deine anderen beiden Geschwister, ebenfalls sehr dominierende, temperamentvolle Personen, ihren Vornamen auch gerne bei mir verankert gesehen hätten. Du und Mama riefen mich glücklicherweise nur mit Gregor, dem Namen Deines jüngsten, viel zu früh verstorbenen Bruders. Als begabter junger Musiker besuchte er Ende der 1930er Jahre die Folkwang-Schule. Onkel Gregor war einer der vielen jugendlichen Kriegstoten des deutschen Volkes. Ob Du und Oma angesichts des Einberufungsbefehls mal daran gedacht habt, ihn zu verstecken? Ich selbst sah mir manchmal heimlich ein Foto von meinem Namensgeber an und fragte mich, wer er wohl als Kind und Jugendlicher gewesen sein mochte und ob er noch andere Hobbys außer Musik hatte. Heimlich deshalb, weil Du mir nie von Deiner Trauer über seinen Verlust erzählt hast, als wäre es ein Tabu. So weiß ich nicht einmal das Datum seines Geburtstages. Wen könnte ich da noch fragen? Gerade spüre ich, Papa, dass Onkel Gregor in mir heute wieder ganz lebendig geworden ist, so als gäbe es keine Trennlinie zwischen Toten und Lebenden.
Bist Du nicht ebenso überrascht wie ich, dass niemand von Mamas elf Geschwistern seinen Vornamen in mir verewigt gesehen haben wollte? Es lag wohl nicht nur an der demutsvollen katholischen Erziehung durch Mamas Eltern in Kamp-Lintfort. Immerhin stand Mamas jüngster, stets humorvoller Bruder Franz neben Deiner Schwester Hedwig als mein Pate am Taufbrunnen. Bemerkenswerterweise ist zwischen mir und meinen Paten zeitlebens keine nähere Beziehung entstanden. Was meinst Du, Papa, lag es an mir oder an den Paten? Spiegelbildlich muss ich eingestehen, dass ich mich um meine Patenkinder Birgit, Norbert, Fabian, Titus und Jonas nur wenig gekümmert habe.
Deine überschwängliche Freude darüber, nun einen Sohn zu haben, hatte die tragische Folge, dass Deine Tochter Christiane, die bis dato Deine Prinzessin war, »unbewusst gewollt« mich ab und an vom Fußbänkchen fallen ließ. Es war außer ein paar blauen Flecken und lautem Geschrei nichts passiert. Einige Wochen später hustete mich Christiane dermaßen an, dass ich sofort Stickhusten bekam und erstmals sechs Wochen von zu Hause fortmusste, um in der Lungenheilanstalt Essen-Heidhausen behandelt zu werden. Heute frage ich mich, ob nicht diese unbewussten Vereinnahmungen des winzig kleinen Gregors durch Dich, Mama, Tante und Onkel schon früh dazu geführt haben, dass ich von zu Hause wegwollte. Was meinst Du, Papa? Es war dann ja so, dass ich wegen der vielen Krankheiten – Stickhusten, Mandelentzündung, Blinddarm, chronische Innenohrentzündung, Halspusteln und Gelenkrheumatismus – öfters in Heilanstalten sein musste. Erstaunlicherweise bin ich bis zu meinem Rentenbeginn im Oktober 2012 als Klinikseelsorger im Krankenhaus geblieben. Papa, Deine Mutter sagte sehr früh nach meinem ersten Krankenhausaufenthalt: »Aus dem Jungen wird nichts mehr!« Doch Du und Mama habt an mich geglaubt.
Auch wenn mein endgültiger Weggang von zu Hause durch meinen Eintritt in die Ordensgemeinschaft der