Die kälteste Stunde. Dirk Rühmann

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Название Die kälteste Stunde
Автор произведения Dirk Rühmann
Жанр Ужасы и Мистика
Серия
Издательство Ужасы и Мистика
Год выпуска 0
isbn 9783969010143



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Als Taufpatin war Helga Ziegler eingetragen. Diese Frau lebte noch und besuchte den Seniorenkreis der Kirchengemeinde einmal im Monat montagnachmittags sowie den sonntäglichen Gottesdienst mit ziemlicher Regelmäßigkeit. Trotz ihrer 92 Jahre, die sie inzwischen auf dem Buckel hatte, fiel sie jedem durch ihren Scharfsinn sowie ihre körperliche Unversehrtheit auf. Sie marschierte noch immer ohne Gehhilfen in aufrechter Körperhaltung so durchs Dorf, als hätten die Anstrengungen der vielen Lebensjahre ihre Knochen vollständig in Ruhe gelassen. Obendrein war die alte Dame ein Ausbund an Freundlichkeit. Ebeling hatte die Patentante des Mädchens von einst gefunden.

      Die Eltern von Gabriele waren aber beide tot, wie er den Akten entnahm. Die Mutter war schon 1979 gestorben und den Vater hatte Ebeling selbst im Jahre 2009 beerdigt, ohne jedoch zu wissen, welche Bedeutung er plötzlich für ihn bekam.

      Nun blätterte er weit zurück und stöberte das Buch mit den Amtshandlungen der Jahre 1959, 1958 und 1957 durch. Da fand er sie: die Hochzeit von Gabrieles Eltern. Drei Jahre vor ihrer Geburt hatten sie sich in der Kirche von Leuterspring das Jawort gegeben. Benno Börner hatte Annegret Lachmann im Sommer 1957 geheiratet.

      Der Pfarrer war fest entschlossen, alles über diese Familie in Erfahrung zu bringen, da er sicher war, über diesen Weg Zugang zu dem namenlosen Toten vor seiner Kirche zu finden.

      Er verstaute die Akten im Keller wieder. Niemals würde irgendjemand all diese Daten digitalisieren, da sie praktisch ohne jegliches Interesse für alle Nachgeborenen waren. Vielleicht könnten sie einem Heimatpfleger dienlich sein, der eine Chronik über das Dorf oder seine Kirche schreiben wollte.

      Ebelings Frau wirbelte noch immer in der Küche herum, während er die Nummer von Helga Ziegler aus dem Telefonbuch heraussuchte, zum Hörer griff und sie wählte.

      Über Zeit schien die rüstige Rentnerin grenzenlos zu verfügen. So kam es, dass der Pfarrer nach vorheriger telefonischer Absprache noch am selben Tag an der Tür zu ihrem Einfamilienhaus klingelte, das am Dorfrand stand. Seit Jahr und Tag lebte Helga Ziegler allein in diesem Haus und hielt es noch immer ohne fremde Hilfe in Schuss. Dass es sich jemals anders verhalten und ein Mann an ihrer Seite gelebt hatte, daran konnte sich hier schon fast niemand mehr erinnern. Seit mehr als einer Generation war ihr Mann verstorben. Fotos von ihm hingen überall an den Wänden der einzelnen Zimmer. Um sie zu sehen und an den lange verstorbenen Herrn erinnert zu werden, musste ein Besucher allerdings die Eingangstür zu ihrem Haus durchschreiten. Ihren eigenen Angaben zufolge geschah das äußerst selten, da das Interesse an ihr seitens der noch im Dorf lebenden Personen augenscheinlich stark nachgelassen hatte.

      Über den Besuch des Pfarrers schien die alte Dame sehr erfreut und Ebeling fragte sich, warum er erst jetzt den Weg zu ihr gefunden hatte. Irgendwie hätte es doch zu seiner beruflichen Pflicht gehört, viel öfter einmal bei ihr vorbeizuschauen als nur zu runden Geburtstagen.

      Viele Fenster waren abgedunkelt und ein unangenehmer Geruch stach dem Besucher in die Nase, der sich durch das gesamte Haus zog. Zweifellos lüftete Frau Ziegler nicht mehr in der angemessenen Weise.

      Jörg Ebeling entschied sich für Tee, als sie ihn fragte, was er trinken wollte und vor die Alternative Tee oder Kaffee stellte. Hätte er geahnt, dass sie ihm Pfefferminztee servieren würde, wäre seine Wahl auf Kaffee gefallen. Pfefferminztee war so ziemlich die einzige Sorte, die er nicht mochte. In Kindertagen hatte er ihn trinken müssen, wenn er krank gewesen war und sich den Magen verdorben hatte. Aber er zwängte ihn in sich hinein.

      Helga Ziegler war neugierig geworden, warum der Pfarrer sie besuchen wollte und es so dringend gemacht hatte.

      »Dienstagmorgen ist doch ein Obdachloser vor unserer Kirche erfroren. Er hatte keinen Pass bei sich. Nur ein altes Foto mit einem jungen Mädchen darauf. Ich habe es mit Konfirmandenfotos aus den Siebzigerjahren verglichen und dadurch herausgefunden, dass es sich bei diesem Mädchen um Gabriele Börner handelt. Mittels unseres Taufregisters habe ich dann gesehen, dass Sie seinerzeit die Taufpatin waren.«

      »Das liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Im Mai 1960 fand die Taufe in unserer Dorfkirche statt. Aber wie kommt der Tote zu dem Bild mit meinem Patenkind darauf?«

      »Das eben weiß ich nicht. Die Staatsanwältin hat ein Foto des Toten an die Zeitungen gegeben. Doch es hat sich niemand gemeldet, der ihn gekannt haben will. Ich würde schon gerne wissen, wer dieser Mann gewesen ist und warum er sich meine Kirche zum Sterben ausgesucht hat. Vielleicht gelingt mir das über Ihr Patenkind. Lebt es noch?«

      »Ja natürlich. Gaby Schmuck, wie sie jetzt heißt, wohnt in Braunlage. Sie arbeitet dort als Schreibkraft in einer Rechtsanwaltspraxis. Eine Sozietät. Zu mehr hat es bei ihr nicht gereicht. Und wenn ihr Vater nicht dafür gesorgt hätte, dass Doktor Schmuck seine Tochter ehelichte, dann wäre gar nichts aus ihr geworden. So konnte sie wenigstens auf dem Standesamt promovieren. Durchs Abitur ist sie durchgefallen, obwohl sie die besten Voraussetzungen mitgebracht hat. Beide Elternteile hatten Abitur. Aber die Gaby hat ihren Eltern nichts als Kummer gemacht. Ein Enfant terrible. Ihre Mutter ist aus Kummer darüber sehr früh gestorben. Danach hat ihr Vater sie mit dem Arzt zusammengebracht. Sonst wäre sie verloren gewesen und es wäre gar nichts aus ihr geworden.«

      »Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«

      »Das ist schon sehr lange her. Jahrzehnte. Sie hat damals den Kontakt auch zu mir abgebrochen. Ein undankbares Gör in jeder Hinsicht. Schon in jungen Jahren hatte sie nur Kerle im Kopf. Manche Mädchen gehen aufs Ganze, wenn die Muschi zu jucken anfängt. Gaby war eine davon.«

      Donnerwetter! So einen Satz hätte Ebeling aus dem Mund der alten Dame nicht vermutet. In ihrem Gesicht fand er einen Ausdruck von Hass und Abscheu. Ihre Freundlichkeit, für die sie so bekannt war, hatte sich vollends verabschiedet.

      »Und Sie kennen den Toten vor unserer Kirche auch nicht?«

      »Nein, Herr Pfarrer. Ich habe sein Bild in der Zeitung gesehen. Wenn der Mann ein Foto von Gaby in seiner Tasche oder wo auch immer hatte, dann hat es sich vielleicht um einen ihrer Jugendfreunde gehandelt. Dann haben Sie jetzt eine Vorstellung davon, mit was für Gesindel sich Gaby eingelassen hat und warum ihre Mutter vor lauter Kummer so früh von uns gegangen ist.«

      Ein Jugendfreund! Eine Möglichkeit. Nicht ganz unwahrscheinlich.

      »Es ist besser so, dass sich diese Rotzgöre nie wieder bei mir gemeldet hat. Sie soll bleiben, wo der Pfeffer wächst.«

      Mit wem hatte denn Ebeling seinerzeit das Trauergespräch geführt, als der alte Börner beerdigt werden sollte? War da nicht eine jüngere Frau? Handelte es sich dabei nicht möglicherweise um dessen Tochter?

      »War Frau Schmuck bei der Beerdigung ihres Vaters?«

      »Das wäre ja wohl noch schöner, wenn sie nicht einmal das hinbekommen hätte! Zuzutrauen wäre es ihr gewesen. Aber ihr Mann, der Arzt, nicht sie, wird dafür gesorgt haben, dass der alte Herr anständig unter die Erde gekommen ist.«

      »Dann kenne ich Gaby Schmuck. Mit mir hat sie das Gespräch geführt, auf dessen Inhalt ich die Trauerrede aufgebaut habe. Jetzt erinnere ich mich wieder. Es ist ein Mann dabei gewesen. Ihr Mann. Ein Arzt. Ganz genau.«

      »Der Penner, der vor unserer schönen Dorfkirche verreckt ist, ist es nicht wert, dass man sich um ihn unnütze Gedanken macht. Glauben Sie mir, Herr Pfarrer!«, sagte sie unmissverständlich in einer unversöhnlichen Tonlage. Woher kam diese Hartherzigkeit? Offensichtlich musste Ebeling einen ganz wunden Punkt getroffen und thematisiert haben.

      »Vielleicht haben Sie recht. Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit so sehr in Anspruch genommen habe«, sagte der Pfarrer daraufhin freundlich lächelnd.

      »Aber das haben Sie ja gar nicht. Ist doch normal, dass Sie sich Gedanken machen und Antworten suchen. Schauen Sie bald mal wieder vorbei!«