Die kälteste Stunde. Dirk Rühmann

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Название Die kälteste Stunde
Автор произведения Dirk Rühmann
Жанр Ужасы и Мистика
Серия
Издательство Ужасы и Мистика
Год выпуска 0
isbn 9783969010143



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sehr intensiv und ausdauernd. Der Pfarrer verspürte eine ausgedehnte Erregung und konnte sich sicher sein, trotz des fortgeschrittenen Alters nichts an Manneskraft eingebüßt zu haben, wenngleich der Beipackzettel seines Betablockers genau vor diesen unangenehmen Nebenwirkungen warnte.

      Da es für Ebeling keinen ersichtlichen Grund gab, nach Hause zu fahren, ließ er sein Auto im Parkhaus stehen und folgte seiner neuen Liebe in deren Goslarer Wohnung.

      Ihn überkam ein sehr vertrautes Gefühl aus Jugendzeiten. Es ließ diese Verunsicherung in ihm erwachen, wenn er das erste Mal die Wohnung einer Frau betrat, die ihm gefiel und die er haben wollte - und nun auch haben konnte. Er war aufgeregt, weil alles noch so fremd und ungewohnt für ihn war.

      So schaute er sich zunächst die einzelnen Zimmer ganz genau an, als müsse er das Revier abstecken, in das er gerade eingedrungen war. Ebeling betrachtete das Bild auf dem Wohnzimmerschrank. Es stand dort und hatte keinen Rahmen. Glas schützte das Foto, auf dem eine Frau und ein Mann mittleren Alters abgebildet waren.

      »Sind das deine Eltern?«, wollte der Pfarrer von Cora wissen.

      Sie nickte nur und er stellte bei genauerem Hinsehen eine Ähnlichkeit im Aussehen zwischen Cora und ihrer Mutter fest.

      »Manche Leute sagen, ich sei ihr wie aus dem Gesicht geschnitten«, bestätigte sie Jörgs Feststellung. »Aber leider sind beide schon tot«, fügte Cora mit trauriger Miene noch hinzu.

      Langsam begann er sich an die ihm noch fremde Umgebung zu gewöhnen und dadurch an Sicherheit zu gewinnen, sich seiner Angebeteten öffnen und hingeben zu können.

      Am nächsten Morgen fuhr er nach Leuterspring zurück. Seine Frau war bereits zum Schuldienst aufgebrochen und er war sich sicher, reinen Tisch machen zu wollen, sobald sie zurückkehrte. Er war der Lügen überdrüssig.

      Tee inspirierte Pfarrer Jörg Ebeling schon seit frühester Jugend. Natürlich trank er Kaffee zum Frühstück und manchmal zwischendurch. Wenn er jedoch Tee kochte und auf sein Stövchen stellte, genoss er die sich dann einstellende Atmosphäre. So weckte ein heißer Schluck aus der gefüllten dampfenden Porzellantasse an diesem Mittag nach der rauschenden Liebesnacht die scheinbar noch schlafenden Geister des 60-Jährigen.

      Er setzte sich seine Hornbrille auf und nahm das Foto zur Hand, das der Tote bei sich getragen hatte. Zusätzlich holte Ebeling noch eine Lupe aus dem Schrank und besah sich die Aufnahme, die durch die starke Vergrößerung für den Pfarrer die Lebendigkeit eines Films annahm.

      Er griff zur Teetasse und schlürfte daran. Das heiße Getränk verteilte sich im Magen und versprühte seine wohltuende Wirkung, durch die dem Geistlichen eine Idee kam. Er erhob sich aus seinem Sessel und ging mit dem Foto in der Hand in den Keller hinunter. Dort befand sich ein kleines Archiv seiner Kirchengemeinde, das einer seiner Amtsvorgänger angelegt hatte. Vielleicht war das Mädchen mit den Klapperlatschen ja aus dieser Gemeinde und hier irgendwann in der ersten Hälfte der Siebziger konfirmiert worden.

      Er wühlte eine Weile, bis er die Schwarz-Weiß-Fotos jener Tage fand und vorsichtig auspackte. Nacheinander betrachtete der Pfarrer die Bilder und glitt in Gedanken ab in jene ferne zurückliegende Zeit, in der auch er so jung gewesen war wie diese Jugendlichen auf den Fotos.

      Die Jungen trugen dunkle Anzüge und Krawatten, die Mädchen weiße Blusen und schwarze Röcke, Strümpfe und Lackschuhe. Es waren Bilder wie aus einer anderen Welt.

      Jedes Jahr am Sonntag nach Ostern, dem Weißen Sonntag, hatten die Konfirmationen stattgefunden, und anschließend hatte immer derselbe Fotograf die frisch Konfirmierten in stets gleicher Pose für die Ewigkeit ins Bild gesetzt.

      Da standen diese wild zusammengewürfelten jungen Menschen, die die Prozedur der Einsegnung über sich ergehen lassen hatten und nun hoffnungsfroh in die Kamera schauten, wohlwissend, wieder eine Etappe auf dem langen Weg des Erwachsenwerdens genommen zu haben. Hinter ihnen in der Mitte ragte das Kruzifix hervor und der Gekreuzigte betrachtete seine Schützlinge. Dessen Arme schienen die Mädchen und Jungen zu segnen. In Wahrheit entließ der Sterbende die Jugendlichen ins Leben. Die Bilder waren verblasst und verstaubt.

      Als Ebeling das Bild des Konfirmandenjahrgangs von 1974 genauer betrachtete, entdeckte er ein niedlich gekleidetes Mädchen, bei dem es sich um das fragliche auf dem Foto handeln könnte, das der Tote bei sich getragen hatte. Außerdem erkannte er in einem der Jungen Axel Süßkraut wieder, der sich schon im beruflichen Ruhestand befand und der Vorsitzende der Freiwilligen Feuerwehr von Leuterspring war.

      Der Pfarrer suchte nun nach den Namen, die auf der Rückseite der Konfirmandenfotos so aufgeschrieben waren, dass sie sich den Jugendlichen problemlos zuordnen ließen, wenn man das Bild umdrehte. Gabriele Börner war dort zu lesen. Zweifelsohne war das Mädchen aus dem Dorf. Wenn sie wirklich das Mädchen mit den Klapperlatschen sein sollte, gab es eine Verbindung zwischen dem Toten vor der Kirche, dem Foto in seiner Jackentasche und der dörflichen Gemeinde. Es schien sich um eine uralte Geschichte zu handeln, die möglicherweise hier in der Kirche ihren hoffnungsvollen Anfang genommen und nach all den Jahren am selben Ort ihr schreckliches Ende gefunden hatte. Ebeling war es gelungen, eine erste Spur ausfindig zu machen. Er war wie besessen. Dem Mädchen mit den Klapperlatschen hatte er nun einen Namen zuordnen können. Über diese inzwischen ebenfalls in die Jahre gekommene Frau würde er herausfinden, bei wem es sich um den namenlosen Toten gehandelt hatte. Dessen war er sich sicher. Und als Pfarrer wusste er, dass ein unumstößlicher Glaube all unserm menschlichen Handeln vorausging. Sein Glaube war größer als die ebenso berechtigten Zweifel, dass er sich verrennen könnte.

      Als er aus dem Keller wieder nach oben zurückkam, hörte er die Haustür ins Schloss fallen. Seine Frau musste aus der Schule zurückgekommen sein. Er wusste, welche Stunde schlug und fasste allen Mut zusammen. Dennoch zitterten seine Hände und fühlten sich offensichtlich nicht stark genug, um den Schlussstrich unter so viele Ehejahre gerade wie einen Schnitt zu ziehen. Er musste es trotzdem tun. Jetzt oder nie! Pfarrer Jörg Ebeling entschied sich für das Jetzt.

      »Wo bist du denn letzte Nacht gewesen?«, fragte ihn seine Frau vorwurfsvoll, während sie die Handtasche beiseitelegte und den Autoschlüssel auf die Anrichte im Flur schleuderte.

      Ebeling spürte die Aggression, die sich sofort ausbreitete, nachdem seine Frau das Haus betreten hatte.

      »Ich habe bei einem Freund in Goslar gepennt. Hatte zu viel getrunken, um noch mit dem Auto fahren zu können«, log er. Es war nicht der richtige Moment für die Wahrheit. Das spürte Ebeling sofort. Außerdem hatte ihn sein kurzzeitig aufgebrachter Mut in Windeseile wieder verlassen. In diesem Moment betrachtete er seine Frau und sie tat ihm leid. Sie hatte es nicht verdient, dass er sie belog und betrog. Ihre Treue zu ihm brauchte er hingegen nicht anzuzweifeln.

      Sie ging nicht weiter auf ihn ein und verschwand demonstrativ in der Küche. Er wusste, dass sie ihm damit ein schlechtes Gewissen machen wollte. In der Küche kannte sich der Pfarrer nicht aus. Einen Augenblick überlegte er, ob diese Tatsache nicht mit seiner Freundin zum Problem werden könnte. Sie war fünfzehn Jahre jünger. Frauen noch nicht so weit zurückliegender Geburtsjahrgänge verhielten sich im Regelfall emanzipierter und schlüpften nicht in die altertümliche Rolle, die sie jahrhundertelang ausgefüllt hatten.

      Ebeling beschloss kurzerhand, jeglicher Diskussion aus dem Weg zu gehen, und stieg noch einmal in den Keller hinab. Da verstaubten Aktenberge, für die sich im Regelfall nie wieder ein Mensch interessierte. Doch der Pfarrer hatte einen Grund gefunden, den Staub von ihnen zu schütteln und sie aufzuschlagen, um damit weit zurückliegende Vergangenheit aufzublättern und zu neuem Leben zu verhelfen.

      Wenn das Mädchen auf dem Foto in Leuterspring konfirmiert worden war, stammte es aus diesem Dorf. Dann hatte es ihre Eltern hierher verschlagen oder ihre Familien waren hier schon immer ansässig gewesen. Fiel die Konfirmation des Mädchens in das Jahr 1974, lag ihr Geburtstag vermutlich vierzehn oder fünfzehn Jahre zuvor.

      Ebeling nahm das Taufregister zur Hand. Tatsächlich fand er das Datum. Gabriele