Öffne mir das Tor zur Welt. Helen Waite

Читать онлайн.
Название Öffne mir das Tor zur Welt
Автор произведения Helen Waite
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783772541476



Скачать книгу

dann wieder grau und von erbarmungslosem Zorn. Und wie herrlich war es, die Wogen an ihren Körper branden zu spüren! Das verlieh ihr wie sonst nichts ein Gefühl von Stärke und Selbstvertrauen.

      Und starken Mut und Selbstvertrauen hatte sie jetzt nötig, wenn sie daran dachte, dass zwar das Ende des Augusts in Sicht war, nicht aber eine Lösung für Annie Sullivans Zukunft!

      Oh, sie hatte «verschiedene Fische am Köder», wie Captain Dad es genannt hätte. Einer der Lehrer von Perkins hatte geschrieben, er habe von einer Dame gehört, die vielleicht ein Kindermädchen für ihre zwei Kinder brauche, aber das war ganz unsicher. Jemand anderes hatte gehört, dass ein Bostoner Hotel eine Tellerwäscherin suche – bei dem Gedanken daran schüttelte sich Annie! Miss Mary Moore schrieb, dass sie hoffte, Annie könne sich dazu entschließen, Lehrerin an einer normalen Schule zu werden; und Mr. Anagnos hatte hinzugefügt, er wolle versuchen, für diese Ausbildung eine finanzielle Unterstützung zu bekommen. Annie verabscheute die Vorstellung, ihr ganzes Leben ABC-Schützen zu unterrichten, und der Gedanke, Geld borgen zu müssen, war ihr verhasst. Sie hatte schon daran gedacht, von Haus zu Haus zu gehen und Bücher zu verkaufen, aber eine ihrer Mitschülerinnen, die das versucht hatte, überzeugte sie davon, dass dies das Schlimmste sei, was man tun könnte.

      Es war ein sehr ernüchtertes Mädchen, das da durch den Garten auf Tante Crockers Haus zuging. Mrs. Hopkins rief ihr von der Küche her zu:

      «Hier ist ein Brief für dich, Annie. Ich habe ihn auf den Schreibtisch gelegt. Von Mr. Anagnos.»

      Ein Brief von Mr. Anagnos? Aus einem ihr nicht erklärlichen Grund zitterten ihre Hände, als sie den ungewöhnlich dicken Umschlag erblickte. Mit unbeholfenen Fingern öffnete sie den Brief. Zwei weitere Umschläge fielen heraus, die, wie sie sah, an Mr. Anagnos adressiert waren. Endlich gelang es ihr, den beigefügten einzelnen Bogen zu entfalten, aber vor Aufregung konnte sie nur verschwommen sehen, sodass ein paar Minuten vergingen, ehe sie in der Lage war, ihn zu lesen. Ihr Atem flog.

      26. August 1886

      «Meine liebe Annie,

      bitte lies die beiden beiliegenden Briefe sehr sorgfältig und lass mich sobald wie möglich wissen, ob du geneigt bist, das Angebot der Familie Keller, als Erzieherin ihrer kleinen taubstummen und blinden Tochter zu kommen, wohlwollend in Erwägung zu ziehen. Über Ruf und Vertrauenswürdigkeit des Mannes ist mir nichts Weiteres bekannt, als was er selbst von sich schreibt: Aber wenn du dich entschließen würdest, dich um diese Stellung zu bewerben, wird es ein Leichtes sein, nähere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen.

      Ich bin, liebe Annie, mit freundlichen Empfehlungen an Mrs. Hopkins,

      und besten Grüßen,

      M. Anagnos»

      Annies Herz schlug wie ein Hammer. Ihre Finger fühlten sich taub an, als sie die beiden Briefe in der Hand hielt, die unterzeichnet waren mit «Arthur Keller, Tuscumbia, Alabama». Sie las sie zweimal. Und als sie sie wieder in die Umschläge steckte, waren die Ängste, die sie seit dem Juni niedergedrückt hatten, und die innere Last verschwunden. Annie hatte ihre Lebensaufgabe gefunden.

      Hier kam etwas Neues auf sie zu, etwas Andersartiges, eine Herausforderung!

      Aufgeregt wirbelte Annie durch das Haus, in die Küche und in die Arme von Mrs. Hopkins. Sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nur den Brief von Mr. Anagnos vor Mrs. Hopkins’ erstaunte Augen halten. Dann plötzlich lachten und weinten beide gleichzeitig, und Annie sagte immer wieder und wieder: «Das ist etwas, was ich tun kann. Ich weiß, dass ich das kann. Ich weiß es.»

      Die Reise nach Tuscumbia

      So angestrengt sie auch umherspähte, Annies kurzsichtige Augen konnten Mr. Anagnos’ freundliches, bärtiges Antlitz oder Mrs. Hopkins’ flatterndes Taschentuch inmitten der vielen verschwimmenden Gesichter, die sich da auf dem schneebedeckten Bostoner Bahnsteig befanden, nicht ausmachen; aber sie wusste, dass sie noch da waren und warten würden, bis der Zug abfuhr. Fest umklammerte sie die Armlehnen ihres roten Plüschsitzes und wehrte sich mit aller Gewalt gegen den schier unwiderstehlichen Drang aufzuspringen, durch den Wagen zu eilen, die Trittbretter hinunterzuspringen und zu rufen: «Wartet! Wartet doch! Ich will nicht nach Alabama! Bitte helft mir doch, etwas in Boston zu finden!»

      Und dann ruckte der Zug an, und der erste Abschnitt von Annies langer Reise, die sie ihrem Schicksal entgegentrug, hatte begonnen. Plötzlich erschauerte sie trotz ihrer dicken grauen Wollkleidung. Alle Mädchen ihrer Gruppe sowie die gesamte Lehrerschaft hatten sich heute Morgen um sie gedrängt, hatten ihren Mut bewundert und das Abenteuer bestaunt, das vor ihr lag, ebenso wie das – wie Mr. Anagnos sagte – «großzügige Gehalt», das sie bekommen würde, ganze fünfundzwanzig Dollar im Monat! Und Annie hatte mitten unter ihnen gestanden, in ihren neuen grauen Kleidern, mit leuchtend roten Bändern an der grauen Haube, und hatte aufgeregt gelacht. Eine strahlende Vision schwebte vor ihr: Annie Sullivan, die tapfere, junge Kreuzfahrerin, die auszieht, um ein scheues, ängstliches kleines Mädchen aus dem Kerker seines tauben und blinden Daseins, aus seiner Unwissenheit zu befreien. Und dieses strahlende Bild hatte sie weiter vor Augen, während Mrs. Hopkins sie zum Fahrkartenschalter begleitete, um ihr beim Kauf der verwirrend großen Anzahl von Fahrscheinen nach Tuscumbia, Alabama, zu helfen, und Mr. Anagnos den geheimnisvollen Vorgang der Gepäckaufgabe überwachte.

      Diese Vision dauerte an, bis sie ihren Platz eingenommen hatte und der Augenblick des Abschieds von den beiden Menschen gekommen war, die Annie die erste Freundlichkeit erwiesen hatten, die ihr in dieser Welt widerfahren war. Dann aber begann Mrs. Hopkins zu weinen, als sie das Mädchen umarmte, und Mr. Anagnos’ Stimme wurde plötzlich verdächtig heiser.

      In diesem Moment erst kam ihr zu Bewusstsein, dass sie ja wegging! – über tausend Meilen weit weg von allem, was sie kannte – und dass sie darüber hinaus noch das kühne Versprechen gegeben hatte, etwas in Angriff zu nehmen, was bisher überhaupt nur ein- oder zweimal gelungen war: das innere Wesen eines Kindes zu erreichen, ihm die Welt zu erschließen, von der es durch seine Augen und Ohren keine Eindrücke empfangen konnte. Hätte ihr in diesem Augenblick die Stimme gehorcht, so hätte sie gefleht: «Lasst mich zurückkommen!», aber sie konnte kein Wort hervorbringen. Und Mrs. Hopkins und der Direktor waren verschwunden, noch ehe sie ihre Tränen zurückdrängen konnte. Jetzt blieb ihr nichts weiter übrig, als sich an dem steifen Plüsch festzuhalten und zuzusehen, wie die vertraute Stadt Boston an den Wagenfenstern vorbeiglitt.

      Verschwunden war der Traum von einem glanzvollen Abenteuer, das sie in die Ferne lockte, verschwunden auch die hochfliegende Überzeugung, dass sie ihre wahre Aufgabe gefunden habe. An diese Überzeugung hatte sie sich geklammert seit jenem Augustnachmittag im letzten Sommer, an dem sie den Brief von Mr. Anagnos erhalten hatte. Der Überschwang allerdings, mit dem sie ausgerufen hatte: «Ich weiß, ich kann das tun!», war so rasch verschwunden, wie er gekommen war. Annies scharfer Verstand ließ sie durchaus klar sehen, dass ihre Vertrautheit und ihre Freundschaft mit Laura Bridgman, die ihr in vieler Hinsicht für ihre Aufgabe bei Kellers zugute kommen mochte, sie noch lange nicht dazu befähigten, ein Kind wie die kleine Helen Keller zu erziehen.

      Schön und gut – sie konnte zwar Laura Bridgman in die Hand buchstabieren und ihre Fingersprache verstehen, wie aber musste man vorgehen bei einem Kind, das zunächst einmal in einer dunklen, lautlosen Welt gefangen war? Und doch hatte sie es nicht gewagt, diese Chance ungenützt verstreichen zu lassen. Annie dachte daran, wie sie in jener warmen Augustnacht wach gelegen und sich den Kopf zerbrochen hatte, auf welche Weise sie sich für diese Aufgabe vorbereiten könnte. Bis ihr plötzlich eingefallen war, wie ihre Lehrer voller Bewunderung von den erstaunlich genauen Berichten und Aufzeichnungen gesprochen hatten, die Dr. Samuel Howe und seine Assistenten über ihre Unterrichtserfahrungen bei den Schülern der Blindenschule, insbesondere bei Laura Bridgman, geführt hatten … Die Berichte! Das war der Schlüssel! Aus ihnen würde sie bestimmt erfahren, was sie wissen müsste.

      Annie hatte Mr. Anagnos in einem begeisterten Brief geantwortet – gewiss würde sie die Stellung bei den Kellers gerne in Betracht ziehen, doch habe sie den Eindruck, für diese Aufgabe zurzeit noch nicht genügend qualifiziert zu sein. Ob der Vorstand des Perkins-Instituts ihr wohl gestattete zurückzukommen, um sich durch das Studium der Berichte über Laura Bridgmans