Öffne mir das Tor zur Welt. Helen Waite

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Название Öffne mir das Tor zur Welt
Автор произведения Helen Waite
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783772541476



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jederzeit nur zu gern bereit. Jede Möglichkeit, das Crockersche Wohnzimmer zu betreten, war wie eine Belohnung!

      Annie fühlte jedes Mal eine leise Scheu, wenn sie über die Schwelle dieses Zimmers trat. Zunächst lief sie sorgsam und vorsichtig über den kostbaren Teppich (Teppiche oder Läufer gab es in der Schule nicht), ging zum Fenster, um einige Schlitze des Fensterladens zu öffnen, dann aber geradewegs zu der Etagere, die ihre Lieblingsschätze enthielt: chinesische Porzellanfiguren, zierliche Spieluhren und Elefanten aus glatt poliertem Elfenbein. Von alledem war sie wie verzaubert. An einer anderen Stelle des Zimmers befand sich ein Meer von blauem Porzellan aus Holland, auf dessen einzelnen Teilen man Abbildungen eines Hafens und einer Stadt betrachten konnte, und vorzüglich gearbeitete silberne Kelche aus Portugal sowie ein wunderbarer Kronleuchter. Annies allerliebste Stücke aber standen auf dem Kaminsims: zwei zierliche Porzellanpuppen, die beide einen mit Früchten und Blumen gefüllten Korb trugen. Jedes andere Mädchen hätte von Tante Crocker ermahnt werden müssen, diese Kostbarkeiten nicht unachtsam oder unnötig zu berühren, aber für Annie Sullivan war das bloße Sehenkönnen noch ein solches Wunder, dass es ihr völlig genügte, nur dazustehen und ihre Augen an diesen Schätzen zu weiden. Und wenn sie sie tatsächlich abstaubte, dann berührte sie sie mit der Behutsamkeit eines blinden Kindes, das sie einst gewesen war.

      Ihre Eigenwilligkeit aber verlor Annie auch in Brewster nicht. Kurz nach ihrer Ankunft hatte Mrs. Hopkins ihr einen schmalen Pfad gezeigt und ihr gesagt, dass er zu einer schmutzigen Höhle führe, in der ein verrückter alter Einsiedler hause. Diese Ermahnung hätte genügt, um jedes andere fügsame und wohlerzogene Mädchen von jenem Pfad fernzuhalten, aber Fügsamkeit und Vorsicht waren Annies Stärke nicht. Von Neugier wie verhext, folgte sie sobald als möglich diesem Pfad, der sich durch hohes, stacheliges Gras wand, bis er schließlich am glatten Strand einer weit geschwungenen Bucht endete. Dort erblickte sie einen sonderbaren Holzschuppen und einen alten, sehr gepflegten Mann, der sie an Rip van Winkle erinnerte. «Hallo», sagte Annie so lässig wie möglich. Aus seinem Dösen aufgeschreckt, war der Alte nicht gerade überschwänglich herzlich. Er warf ihr einen finsteren Blick zu und erklärte, dass er keinen Besuch brauche und Gesellschaft verabscheue – besonders «Weibervolk». Aber vielleicht spürte er ihre unkomplizierte, aufrichtige Unerschrockenheit, denn er brummte etwas vor sich hin und forderte sie schließlich auf, sich zu setzen. Unter seinen struppigen, grauen Augenbrauen betrachtete er sie neugierig.

      «Hast du denn keine Angst vor mir?»

      Annie schüttelte den Kopf. «Nein, jetzt nicht mehr, nur zuerst. Aber Sie sind ja gar nicht verrückt.»

      «Na so was, besten Dank!» Der Alte machte eine Verbeugung. «Ich weiß zwar nicht, woher du das wissen willst, aber es stimmt schon. Du hast mehr Grips als die anderen. Du bist wohl nicht aus Brewster?»

      Annie bekannte, dass das nicht der Fall sei, und der Alte kicherte befriedigt. «’türlich nich’! Hast zu viel Grips!»

      Er bot einen malerischen Anblick in seinem verblichenen blauen Overall, mit einem Kranz feiner Falten um seine blauen Augen, dem schneeweißen Bart und nackten, braun gebrannten Füßen. Annies freimütige Bemerkung schien ihn für sie eingenommen zu haben, denn als sie sich verabschiedete, forderte er sie geradezu herzlich auf wiederzukommen.

      Und das tat sie. Irgendwie gelang es ihr, Mrs. Hopkins zu überzeugen, dass der Alte zweifellos ein Einsiedler und etwas sonderbar, aber ganz gewiss nicht verrückt sei.

      Also durfte Annie trotz Tante Crockers klar und deutlich geäußerter Missbilligung den «Einsiedler von Brewster» besuchen, und nicht nur einmal, sondern viele Male während dieses und des nächsten Sommers. So entwickelte sich eine Freundschaft, an die Annie ihr ganzes Leben dachte – eine Freundschaft zwischen dem jungen Mädchen und dem alten Mann, der wahrscheinlich einsamer war, als er zugeben mochte. Er erzählte ihr Geschichten aus den Tagen seines abenteuerlichen Lebens als Seemann, doch der Frage nach seinem Namen wich er immer aus. Schließlich nannte Annie ihn «Captain Dad», und er sagte «Tochter» zu ihr. Er erwies ihr die Ehre, sie in seinem kleinen Boot mit hinaus aufs Meer zu nehmen, entweder zum Fischen oder um die Felsenhöhlen der Steilküste zu erforschen. Aber das Bild, das ihr am lebhaftesten in Erinnerung blieb, war das von Captain Dad mit seinen «Freunden».

      Sie war neugierig, warum jemand, der so intelligent, wach und humorvoll war wie Captain Dad, durchaus als Einsiedler leben wollte. Das fragte sie ihn eines Tages ganz offen. Captain Dad brummte: «Zu viel Geschwätz überall. Zu viele Leute. Weibervolk!» Angewidert stieß er das letzte Wort hervor.

      «Aber fühlen Sie sich denn nie einsam?», bohrte das Mädchen weiter. «Brauchen Sie denn keine Freunde?»

      «Hab Freunde. Viele. Die haben Federn. Und sind nich’ unzuverlässig wie die menschlichen Freunde. Sind sie nich’, danke! Kommen immer, wenn ich’s will. Brauch’ nur rufen – und sie kommen.»

      Annie fühlte, wie ihr Herz vor Aufregung heftig klopfte. Sie ahnte, dass das etwas Einzigartiges sein musste. Eifrig beugte sie sich vor. «Oh, bitte, ich möchte sie sehen, Captain Dad! Können Sie sie nicht mal rufen, wenn ich hier bin?»

      Entschieden schüttelte der Alte seinen weißen Kopf. «Nein, sie würden sich vor dir fürchten! Sie sind nich’ an Besuch gewöhnt, vor allem nich’ an Weibervolk. Sie würden sich vor dir zu Tode fürchten!»

      «Woher wollen Sie das denn wissen?», fuhr Annie auf, «die haben mich doch noch nie gesehen?»

      Captain Dad zog an seiner Pfeife und blickte sie grimmig an. Dann blinzelte er nachdenklich zum Himmel und lachte leise. Wahrscheinlich imponierte ihm ihre Beherztheit, und sie war so ein reizendes kleines Ding, wie sie da auf dem Sand saß mit ihrem vor Eifer leuchtenden Gesicht. Er klopfte seine Pfeife an der hölzernen Bank aus und stand auf.

      «Bleib ganz still sitzen, hörst du, was auch immer geschieht. So wie wenn wir fischen!» Annie nickte stumm, ihr Kinn auf die Hände gestützt. Der Alte verschwand in seinem Schuppen und tauchte mit einem Eimer auf, in dem, wie er sagte, «Leckerbissen für seine Freunde» waren, und die bestanden aus Seetang, grobem Mehl und Fisch. Annie erzählte später, wie er dann «seltsam gurrende Laute von sich gab, erstaunlich laut, aber nicht misstönend». Captain Dad brauchte nicht zu befürchten, dass sie sich bewegen würde, denn Annie saß da wie gebannt und beobachtete fasziniert, wie schon beim ersten Laut Tausende von Möwen aus allen Richtungen erschienen, wie sie über ihm ihre Kreise zogen, sich drehten und wendeten, herabstießen und ihm mit ihrem hohen, schrillen Geschrei antworteten; immer weitere kamen herbei, sie ließen sich auf seinem Kopf, seinen Händen, seinen Schultern nieder und suchten seine Aufmerksamkeit zu erringen.

      «Wie viele mögen das wohl sein?», flüsterte Annie vor sich hin. Es schien, als seien es viele Tausende. Der ganze Strand war dunkel von ihnen. Captain Dad redete mit ihnen, schalt sie, wenn sie zu gierig waren, und ermunterte die kleineren und schwächeren Möwen, bis schließlich das ausgestreute Futter aufgepickt war und auch die letzte Möwe zögernd ihre Schwingen ausbreitete und über das Meer davonflog.

      Noch einige Male danach war es Annie vergönnt, dieses Schauspiel zu sehen, und jedes Mal war sie ergriffen von der Schönheit und Majestät des Anblicks.

      Wie Glanzlichter hoben sich die Nachmittage, die Annie mit Captain Dad verbrachte, aus ihren Ferien heraus, obwohl alles, was mit Brewster zusammenhing, sich tief in ihr Herz eingeprägt hatte.

      Und dies war nun ihr dritter (und vielleicht letzter!) Sommer am Cape. Als sie eines Nachmittags im August nach ihrem einsamen Bad eilig den Strand entlanglief, wurde sich Annie klar darüber, dass ihr gerade in diesem Jahr der Aufenthalt hier besonders gut getan hatte. Brewster war ein sehr heilsamer Ort für jemanden, dessen Gemüt ein einziges wirres Knäuel aus Fragen und Zweifeln, Furcht und Ehrgeiz darstellte. Nicht dass sie eine Antwort gefunden hätte auf die Frage, was sie tun könnte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber ihre Gedanken wirbelten nicht mehr wie in einem Kaleidoskop herum; es fiel ihr leichter, Mut zu fassen und ihre Gedanken in den Griff zu bekommen, besonders hier am Meeresstrand.

      Das Meer! Sie fühlte sich dieser Naturgewalt verwandt, die immer in Bewegung war, immer ruhelos, immer von Neuem schön. Sie betrachtete das Gekräusel der Brandungswellen mit ihrem ständig aufgischtenden weißen