Briefe über den Yoga. Sri Aurobindo

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Название Briefe über den Yoga
Автор произведения Sri Aurobindo
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783963870583



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Zweifel zu befreien, besteht darin, Wahrheit und Falschheit mit Hilfe des Unterscheidungsvermögens ausfindig zu machen und unter seinem Schutz die Tür frei und mutig der Erfahrung zu öffnen.

      Gleichviel, ich habe zu schreiben begonnen, doch werde ich nicht mit dem Zweifel beginnen, sondern mit der Forderung nach dem Göttlichen als einer konkreten inneren Gewissheit, genauso konkret wie irgendein physisches Phänomen, das von den Sinnen aufgegriffen wird. Nun, natürlich muss das Göttliche eine derartige innere Gewissheit sein, nicht nur so konkret, sondern noch konkreter als irgend etwas, das von Ohr oder Auge oder beim Kontakt mit der Welt der Materie wahrgenommen wird; es ist jedoch nicht eine Gewissheit des mentalen Denkens, sondern die einer essentiellen Erfahrung. Wenn sich der Friede Gottes auf dich senkt, wenn die Göttliche Gegenwart in dir ist, wenn der Ananda dich überströmt wie ein Meer, wenn du vom Atem der Göttlichen Kraft getrieben wirst wie ein Blatt vor dem Wind, wenn die Liebe sich aus dir über der gesamten Schöpfung entfaltet, wenn das Göttliche Wissen dich mit einem Licht überflutet, in einem Augenblick alles erleuchtend und umwandelnd, was zuvor trüb und sorgenvoll und finster war, wenn alles Bestehende Teil der Einen Wirklichkeit wird, wenn diese Wirklichkeit ganz um dich ist, dann fühlst du, siehst du, berührst du allein das Göttliche, augenblicklich und überall, sei es durch spirituellen Kontakt, die innere Vision, durch das erleuchtete und erkennende Denken, sei es durch die vitale Empfindung und sogar durch die physischen Sinne selbst. Dann kannst du es kaum weniger bezweifeln oder leugnen als du das Tageslicht oder die Luft oder die Sonne am Himmel bezweifeln oder leugnen kannst; denn dieser physischen Dinge bist du nicht sicher, weil sie etwas sind, was deine Sinne dir widerspiegeln; doch in der konkreten Erfahrung des Göttlichen ist Zweifel nicht möglich.

      Was das Andauern anbelangt, so kannst du von einer anfänglichen spirituellen Erfahrung dieses nicht erwarten; nur wenigen gelingt dies, und selbst bei ihnen ist nicht immer die gleich hohe Intensität der Erfahrung vorhanden; meist kommt sie und zieht sich dann hinter den Schleier zurück, um zu warten, bis der menschliche Teil vorbereitet ist und reif wird und ihr Anwachsen und dann ihr Andauern ertragen und bewahren kann. Doch sie deswegen in Frage zu stellen, wäre in höchstem Maße vernunftwidrig. Man bezweifelt nicht das Vorhandensein der Luft, wenngleich nicht immer ein starker Wind weht, oder des Sonnenlichts, obwohl die Nacht zwischen Abend und Morgen liegt. Die Schwierigkeit liegt im normalen menschlichen Bewusstsein, zu dem die spirituelle Erfahrung als etwas Anormales kommt, und tatsächlich ist sie übernormal. Diese schwache, begrenzte Normalität hat anfangs Schwierigkeiten, von jener größeren und intensiveren übernormalen Erfahrung auch nur angerührt zu werden; oder sie wird mit dem dunkleren Stoff der eigenen mentalen oder vitalen Erfahrung verdünnt; und wenn dann die spirituelle [Erfahrung] in ihrer überwältigenden Macht tatsächlich herabkommt, kann sie diese oft nicht ertragen oder aber nicht halten und bewahren. Dennoch, ist einmal eine entscheidende Bresche in den Wall geschlagen worden, den das Mental gegen das Unendliche errichtet, dann wird sich die Bresche weiten, manchmal langsam, manchmal schnell, bis es keinen Wall mehr gibt – und dies bedeutet dann die Beständigkeit [der spirituellen Erfahrung].

      Doch können weder entscheidende Erfahrungen herbeigeführt werden, noch kann ein neuer Bewusstseinszustand, in dem diese normal sein werden, andauern, solange sich das Mental ständig mit seinen eigenen Vorbehalten, mit seinen Vorurteilen und unwissenden Phrasen einmischt oder darauf besteht, die göttliche Gewissheit – wie die relative Wahrheit einer mentalen Schlussfolgerung –, mit Hilfe der Argumentation zu erreichen, mit Hilfe des Zweifels, des Forschens und all dem anderen Rüstzeug der Unwissenheit, das um das Wissen herumtappt und -tastet; diese größeren Dinge können allein durch ein fortschreitendes Sich-Öffnen eines beruhigten Bewusstseins, das spiritueller Erfahrung immerfort zugewandt ist, herbeigeführt werden. Die Frage, warum das Göttliche es derart auf dieser höchst unbequemen Grundlage eingerichtet hat, ist müßig, denn es handelt sich um nichts anderes als ein psychologisches Erfordernis, das von der eigentlichen Natur der Dinge auferlegt wurde. Diese Erfahrungen des Göttlichen sind keine mentalen Konstruktionen, keine vitalen Bewegungen, es sind essentielle Dinge, es sind keine nur erdachten Dinge, es sind Realitäten, die nicht mental, sondern in der uns unmittelbar zugrundeliegenden Substanz und Essenz gefühlt werden. Das Mental ist immer bereit, sich einzumischen; es hat seine eigene Art, das Göttliche zu mentalisieren mit Hilfe von Gedanken, Meinungen, Gefühlen und mentalen Deutungen der spirituellen Wahrheit; es gibt sogar eine Art mentaler Verwirklichung, die, so gut sie kann, ein gewisses Bild der höheren Wahrheit wiedergibt – und all dies hat seinen Wert, doch ist es nicht konkret, wesenhaft und unbezweifelbar. Das Mental ist von sich aus einer höchsten Gewissheit nicht fähig; was immer es glaubt, kann es bezweifeln und bezweifelt es; was immer es bejaht, kann es verneinen; was immer es ergreift, kann es loslassen und lässt es los. Das ist, wenn du so willst, seine Freiheit, sein edles Recht, sein Privileg; doch dies ist alles, was du zu seinen Gunsten sagen kannst; du darfst nicht hoffen, mit Hilfe dieser Methoden des Mentals (außerhalb des Bereichs physischer Phänomene und selbst innerhalb dieser kaum) zu irgend etwas zu gelangen, das du die höchste Gewissheit nennen kannst. Aus diesem zwingenden Grund kann das Denken über das Göttliche oder das Forschen nach ihm nicht das Göttliche herbeiführen. Wenn das Bewusstsein immer mit kleinen mentalen Bewegungen erfüllt ist, die, begleitet von einer Schar vitaler Regungen, Begierden, Voreingenommenheiten und all dem Übrigen, das menschliche Denken beeinträchtigen, so wie es meist der Fall ist – ganz abgesehen von dem eigentlichen Ungenügen der Vernunft –, wo soll da Platz für eine neue Wissensordnung sein, für grundlegende Erfahrungen oder für jenes tiefe und gewaltige Emporwogen oder Herabkommen des Spirits? Allerdings besteht die Möglichkeit, dass das Mental inmitten seiner Aktivitäten plötzlich ergriffen, überwältigt, zur Seite geschwemmt und alles von einem plötzlichen Einbruch spiritueller Erfahrung überflutet wird. Doch wenn es nachher beginnt, in Frage zu stellen, zu zweifeln, zu theoretisieren, zu mutmaßen, was dies sein könnte, ob es wahr sei oder nicht, dann bleibt der spirituellen Macht nichts anderes übrig, als sich wieder zurückzuziehen und zu warten, bis das Schäumen des Mentals sich beruhigt hat.

      Ich möchte eine einfache Frage an jene richten, die das intellektuelle Mental zum Maßstab und Richter spiritueller Erfahrung machen. Ist das Göttliche etwas Geringeres oder ist es etwas Größeres als das Mental? Ist mentales Bewusstsein mit seinen tastenden Fragen, seinem endlosen Argumentieren, seinen unstillbaren Zweifeln, seiner starren und unbiegsamen Logik dem Göttlichen Bewusstsein überlegen oder ebenbürtig oder ist es seiner Tätigkeit und seinem Zustand nach etwas Geringeres? Ist es größer, dann gibt es keinen Grund, das Göttliche zu suchen. Ist es ihm ebenbürtig, dann ist spirituelle Erfahrung ziemlich überflüssig. Ist es aber geringer, wie vermag es dann anzuklagen, zu urteilen, das Göttliche zum Angeklagten oder Zeugen vor seinem Tribunal zu machen, es aufzufordern, als Kandidat vor einem Komitee von Prüfenden zu erscheinen oder es wie ein Insekt unter das untersuchende Mikroskop zu halten? Kann das vitale Tier die Ebene seiner vitalen Instinkte, Assoziationen und Impulse als unfehlbar betrachten und mit ihrer Hilfe das Mental des Menschen beurteilen, interpretieren und ergründen? Es kann das nicht, da das menschliche Mental eine größere Macht ist, die auf eine weitere, komplexere Weise arbeitet, der das tierisch-vitale Bewusstsein nicht zu folgen vermag. Sollte es daher so schwierig sein zu erkennen, dass in gleicher Weise das Göttliche Bewusstsein etwas unendlich Weiteres, Komplexeres als das menschliche Mental sein muss, erfüllt mit größerer Macht und größerem Licht, sich auf eine Weise bewegend, die das reine Mental mit dem Maßstab seines fehlbaren Verstandes und begrenzten Halbwissens weder beurteilen noch interpretieren noch ergründen kann? Es ist klar, dass Spirit und Mental nicht das Gleiche sind und dass es das spirituelle Bewusstsein ist, in das der Yogi eintreten muss (in all dem erwähne ich in keiner Weise das Supramental), wenn er in ständigem Kontakt oder der Einung mit dem Göttlichen sein will. Es ist daher keine Laune oder Tyrannei des Göttlichen, darauf zu bestehen, dass das Mental seine Begrenzungen erkennt, sich beruhigt, von seinen Forderungen ablässt, um sich einem größeren Licht als dem seiner eigenen dunkleren Ebene zu öffnen und hinzugeben.

      Dies bedeutet nicht, dass das Mental im spirituellen Leben keinen Platz hat; es bedeutet vielmehr, dass es nicht das Hauptinstrument sein kann, viel weniger die Autorität, deren Urteil sich alle, einschließlich des Göttlichen, unterwerfen müssen. Das Mental hat von dem größeren Bewusstsein, dem es sich nähert, zu lernen und ihm nicht seinen eigenen Maßstab aufzuerlegen; es muss die Erleuchtung empfangen, es muss sich einer höheren Wahrheit öffnen und eine