SONNENBRAND. Peter Mathys

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Название SONNENBRAND
Автор произведения Peter Mathys
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957658593



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eine gedeihliche Ernte erfüllt, Der Schwarm beschließt, sofort Richtung Titan zu fliegen, hrr …, hrr …

      Der Voraustrupp muss rasch umdenken. Seine Speerspitze, die vorderste Milliarde Viren, ist verschwunden. Der Voraustrupp meldet dazu: »Wir haben keine Bewegung festgestellt, sie sind einfach in einem Mikroklick von einer hunderttausendstel Sekunde verschwunden.«

      Der Schwarm, dessen Angehörige alles hören, was gesprochen wird, antwortet: »Zweite Speerspitze hinschicken. Gleiche Größe, gleiche Formation.«

      Der Voraustrupp trifft die erforderlichen Anordnungen, aber die zweite Speerspitze verschwindet trotzdem, ebenso wie die erste. Der Schwarm nimmt alles zur Kenntnis. Dann folgt ein Befehl von bedeutender Tragweite.

      Schwarm: »Verschiebung nach Titan abbrechen. Über mögliche Ursachen nachdenken. Dann entscheiden.«

      Ohne weitere Abklärung schwirren die Viren des Schwarms zwischen Jupiter und den Asteroiden hin und her. Bei der Suche nach Ursachen des merkwürdigen Verschwindens zweier Speerspitzen des Voraustrupps kommt nichts Brauchbares zutage. Sie haben mitten im Weltall keine unerwartete Nahrungsquelle gefunden. Der Sonne Sol sind sie nicht nahe genug gekommen, um sich zu verbrennen. Ebenso wenig hat sie ein Wurmloch verschluckt. Nachdem die Abklärungen nichts erbringen, greift der Schwarm nach einem sehr selten gebrauchten Mittel: Zehn Viren, sie werden hier Pfadfinder genannt, werden allein zum Saturnmond Titan geschickt, um wenn möglich die Informationen zu finden, welche dem ganzen Schwarm vorenthalten geblieben sind. Zehn Viren sind so unendlich klein, dass sie niemandem auffallen. Ohne Elektronenmikroskop sind sie schlicht nicht zu erkennen; deshalb können sie bedenkenlos rekognoszieren, was bei Titan und seinem Umfeld los ist!

      »Wir müssen etwas unternehmen«, bestätigt Emil Wetter.

      Degenhart: »Ja, aber was schwebt dir vor?«

      Wetter, fantasielos: »Das ist die Frage.«

      Oskar Bauer: »Ich komme zurück auf Wolfgangs Kommentar zu meinem Traum. Ich will euch nicht schon wieder nerven, aber in meinem Kopf rumort es ständig.«

      »Bis jetzt nervst du nicht«, grinst Degenhart. »Schildere dein Rumoren.«

      »Eine Stimme, sie spricht nicht, sie ist einfach vorhanden, will mir befehlen.«

      Wolfgang: »Was befehlen?«

      »Luft. In meinem Traum ist mir die Luft knapp geworden. Die Stimme erscheint wieder. Ich soll die Luft untersuchen.«

      Jetzt fangen die drei, Telefon in der Hand, unwillkürlich an zu schnuppern. Sie wollen wissen, ob mit der Atemluft etwas nicht in Ordnung ist.

      »Ich spüre nichts«, erklärt Bauer.

      Wetter: »Ich auch nicht.«

      Degenhart sagt: »Klar spüren wir so nichts. Aber die Frau in Oskars Traum hat vielleicht etwas gespürt. Bloß, das ist wieder reine Spekulation. Man weiß auch nicht, ob die Traumfrau ein natürliches Ebenbild hat oder je gehabt hat. Und ich bin nicht sicher, ob wir unsere Regierungen wegen eines Traums in Aufruhr versetzen dürfen.«

      »Nein, bitte nicht!« Oskars Stimme steigert sich ins Falsett. »Ich würde mich unmöglich machen. Ich werde nicht mehr träumen.«

      Die drei Ärzte kommen nicht weiter. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten, was die Forschung der Pharma- und Chemiefirmen erbringt. Sie sind frustriert, weil sie die Heilung ihrer Patienten nicht beschleunigen können. Auch der wundersame Krankheitsverlauf von Anita Berger, den Oskar Bauer seinen Kollegen ausführlich geschildert hat, bringt nichts. Wieder zurück in seinem Arbeitszimmer, grübelt Wolfgang Degenhart über der Frage, warum sich Atemnot so prominent in Bauers Gehirn als Albtraum eingenistet hat. Ob sie überhaupt mit den n-Viren in Verbindung steht? Immerhin ist Atemnot eines der wichtigsten Symptome vieler am n-Virus erkrankten Patienten. Oder kaut Kollege Bauer in wachen Stunden an einem ganz anderen, unbewältigten Problem herum? Nein, das führt bloß noch mehr in die Irre. Und Bauer ist europaweit eine Kapazität seines Fachs. Aber angenommen, sein Traum ist die Vorstufe einer Erkrankung. Angenommen, der Traum will ihn warnen. Woher kommt er? Warum sollte Bauer gewarnt werden? Warum nicht Kollege Emil Wetter?

      Die Viren fliegen durch den Weltraum, aber sie erkennen seine Schönheit nicht. Sie kennen auch kein Gefühl. Der Weltraum interessiert sie nicht. Jegliche Anteilnahme am Geschick ihrer Kollegen ist ihnen fremd. Insofern sind sie keine Lebewesen sondern eher Sachen. Aber sie haben so etwas wie Freude empfunden, als sie den Planeten Erde und seinen fast unerschöpflichen Reichtum an zweckmäßiger Nahrung entdeckt haben. Und sie kommunizieren miteinander!

      Nachdem der Voraustrupp zwei Speerspitzen verloren hat, ruft ihn der Schwarm mit Ausnahme der Pfadfinder in seine Reihen zurück. Auf der Höhe von Jupiter ist er wieder komplett. Der Voraustrupp meldet, dass einige einsame Viren, etwa fünfundzwanzigtausend, seine Flugbahn gekreuzt haben. Ob sie von den Speerspitzen bei deren Verschwinden verloren gegangen oder abgesprungen sind, lässt sich nicht eruieren. Die einzelnen Viren sind sich zu ähnlich, und eine Kontaktaufnahme hat nicht stattgefunden; der Schwarm will sich so lange wie möglich bedeckt halten.

      Dies gilt nicht für die Pfadfinder. Ihr Ziel ist Titan, ihre Aufgabe abklären, was mit dem Voraustrupp und den Speerspitzen geschehen ist. Aber auf dem Landeanflug zu Titan geraten sie an einen unbekannten Virenschwarm, etwa von der Größe dreier Voraustrupps. Die Pfadfinder sind zu klein und werden nicht entdeckt. Es gelingt ihnen, sich diesem Schwarm anzuschließen und mitzufliegen. Jetzt unterscheiden sie sich in nichts mehr von den Viren im unbekannten Schwarm, und der Flug geht eindeutig in Richtung Mars. Dass dies ein Fehler war, entdecken sie zu spät. Kontakt aufnehmen geht nicht, sie würden sofort als Fremdlinge erkannt und vernichtet. Was ihnen bleibt, ist zuhören, was im Schwarm gesprochen wird. Und da vernehmen sie, dass die Anderen Titan ebenfalls entdeckt haben, und dass sie vorhaben, den großen Schwarm, dem auch die Pfadfinder angehören, anzugreifen und zu vernichten und so die Nahrungsquelle von Titan für sich zu sichern.

      Die Pfadfinder schaffen es, sich vom fremden Schwarm zu entfernen und zu ihrem Schwarm zurückzukehren. Dieser nimmt die Information zur Kenntnis.

      Schwarm fragt: »Wie groß sind sie?«

      Schwarm antwortet: »Was wir gesehen haben, war etwa dreimal so groß wie unser Voraustrupp.«

      Schwarm: »Zwei gleich große Abteilungen bilden. Wenn sie uns angreifen, können wir sie umklammern. Ziel: vernichten.«

      Für die Ausführung dieses Befehls braucht der Schwarm siebenundzwanzig Sekunden. Die Pfadfinder stellen überdies fest, dass der feindliche Schwarm massiv gewachsen ist. Die Zahl seiner Viren entspricht nun beinahe derjenigen des anderen Schwarms. Es zeichnet sich ab, dass die beiden Schwärme einander irgendwo zwischen Mars und den nächsten Asteroiden gegenüberstehen werden. Stehen bedeutet hier schwirren. In der Weltraumnacht sind die Schwärme von bloßem Auge klarerweise nicht zu erkennen. Würde man jedoch die Finsternis mit raumtauglichen Scheinwerfern aufhellen, so wäre die Anwesenheit der Viren in Form von winzigen Lichtspritzern erkennbar. Die Viren lösen das Problem auf einfachere Art: Die Natur hat sie mit einem ultrafeinen Geruchssinn ausgestattet, der nur von anderen Artgenossen wahrgenommen werden kann.

      Bald ist es so weit. Die beiden Schwärme riechen sich und schwirren aufeinander zu. Die vordersten Einheiten verhaken sich und verschwinden mit einem Geräusch, das an einen Staubsauger erinnert. Beim Kampf der Schwärme geht es darum, dass einer von ihnen eine möglichst große Gruppe des Gegners einschlürft und vernichtet, bevor dieser ebenfalls in Aktion tritt. Das Kampfgeschehen ist ausgeglichen; einmal liegt der erdnahe Schwarm vorne, dann der titannahe. Nach kurzer Zeit ist mehr als die Hälfte der Viren vernichtet. Der Kampf tobt weiter, lautlos und unsichtbar. Er entwickelt sich zu einem kleinen Drama ohne Publikum und ohne Siegerehrung, wie es im All immer wieder vorkommt. Hier haben sich unterdessen die erdnahen Viren einen satten Vorsprung erkämpft, und das nahe Ende der Auseinandersetzung zeichnet sich immer deutlicher ab. Nach einem weiteren Austausch ist der Kampf entschieden. Der Rest des unterlegenen Schwarms, etwa zehn Prozent der ursprünglichen Größe, zieht sich zurück, über Saturn hinaus ins All auf der Suche nach einer neuen Nahrungsquelle. Der Sieger, reduziert auf die Hälfte seines ursprünglichen Bestandes,