Название | Sind wir uns wirklich einig? |
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Автор произведения | Ilka Wild |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783963115219 |
Überhaupt habe ich erst sehr viel später verstanden, dass sich die Berichterstattung im westdeutschen Fernsehen über die Ereignisse im Osten auch an die Zuschauer im Westen richtete. Sie war vor allem der Informationskanal für die Menschen im Osten.
Die verbotene Gewerkschaft Solidarność rief in Danzig zum Streik auf und auch andere sozialistische Staaten befanden sich in der Krise. Ob wir deshalb im Westen spüren konnten, dass sich durch Gorbatschow eine solche Veränderung abzeichnen würde? Eher nicht! Schließlich kam Lateinamerika damals mit dem Ende von Pinochet in Chile, der Wahl von Noriega in Panama und Aufständen in El Salvador auch nicht zur Ruhe und eine umfassende Erneuerung der Verhältnisse steht dort bis heute aus.
Wahnsinn! Der Mauerfall
Von Ilka Wild und Carolin Wilms
Ilka Wild
Pflicht-Demonstrationen sind das Brot- und Buttergeschäft einer sozialistischen Diktatur. So auch in der DDR: Sie hießen „Mai-Demonstration“ oder „Kampf-Demonstration zum Pfingstreffen“ und ihnen war eines gemein: Sie waren super organisiert. Man wusste genau, was einen erwartete. Und: Man musste teilnehmen. Die große Mai-Demonstration war jedes Jahr eine besonders lästige Pflichtübung. Bei meist nasskaltem Frühlingswetter mussten Eltern mit ihren Betrieben ebenso wie Kinder mit ihren Schulklassen stundenlang an Treffpunkten warten oder marschieren, bekamen Trageschilder, Transparente oder Fähnchen in die Hand gedrückt, mit denen sie nicht gegen, sondern für etwas demonstrierten, nämlich für die DDR, ihre führende Partei, ihre Lebensweise. Ich hasste diese Demonstrationen und ließ das Ganze über mich ergehen, da es bei Nichterscheinen ungemütlich werden konnte, der Staat bestand darauf, dass man ihm seine Ergebenheit demonstrierte.
Eine Demonstration der ganz anderen Art erlebte ich erstmals im Herbst 1989. Meine Mutter nahm mich mit. Ich wusste zunächst nicht so genau, wohin es ging. Oder was wir da tun sollen. Aber auf dem Weg von unserer Wohnung in die Innenstadt kamen immer mehr Menschen zusammen, die das gleiche Ziel hatten. Es waren Nachbarn, Bekannte, Menschen, die man aus dem Stadtbild kannte. Keine ausgewiesenen „Dissidenten“, sondern normale Leute. Wie sich später herausstellte, waren an diesem 29. Oktober 1989 auf dem Marktplatz von Gotha 20.000 Menschen versammelt. Die Thüringer Kleinstadt zählte in dieser Zeit knapp 60.000 Einwohner.
Auf der Demo selbst begriff ich lange Zeit nichts. Die Demonstranten waren schlecht ausgestattet, es gab wohl ein paar Transparente, auf Bettlaken und Tapeten standen Sprüche wie „Stasi in die Produktion“ oder „Von Schnitzler in den Ruhestand“. Die Menschen hielten Kerzen in der Hand. Geleitet und moderiert vom evangelischen Theologen Eckardt Hoffmann aus der Gothaer Augustinerkirche fand ein „Dialog“ statt: Bürger der Stadt stellten den Parteifunktionären der Stadt kritische Fragen und drangen auf Veränderung. Die hilflosen Sprechblasen der Noch-Elite, allesamt im DDR-Duktus, wurden von den Demonstranten mit Pfiffen und Buh-Rufen quittiert. Mir blieb der Mund offen. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Niemals hatte man vor einer so großen Menge von Leuten solch kritische Fragen gestellt, ohne dass sofort etwas passiert wäre. Man konnte die Angst der Menschen spüren, die Fragen stellten, aber auch die Angst derer, die antworten sollten. Es war eine aufgeladene Stimmung. Aber es blieb alles friedlich, was sicher der Moderation von Superintendent Hoffmann zu verdanken war.
Nach der Demo gingen wir nach Hause und fürchteten uns alle ein bisschen davor, dass uns im Nachgang etwas passierte. Aber es geschah: nichts. Bei 20.000 Menschen war wohl selbst die Stasi überfordert.
Carolin Wilms
Wie die Menschen in der DDR erfuhren wir durch das westdeutsche Fernsehen von diesen Demonstrationen: unscharfe Aufnahmen in der Dunkelheit, Transparente und Sprechchöre. Mit meinen 20 Jahren hat sich mir nicht annährend die Brisanz und die Außergewöhnlichkeit dieser Vorgänge erschlossen. Im Westen kannten wir Demos: gegen die Stationierung von Mittelstreckenwaffen, gegen „BAföG-Kahlschlag“, gegen die Atomkraft. Unsere Gesellschaft und unser politisches System waren gewohnt, dass wir unseren Unmut gegen die Politik auch auf der Straße ausdrückten. Dass es in der DDR besonderen Mut erforderte, sich diesen Demonstrationen anzuschließen, daran dachte ich überhaupt nicht, und wenn ich ganz ehrlich bin, es kümmerte mich auch nicht. Damals machte ich meine kaufmännische Ausbildung, musste frühmorgens aufstehen und da ich in der Zeit im Ersatzteillager eingeteilt war, musste ich viel stehen und laufen. Das war ich nicht gewohnt und so schaute ich mir todmüde die Fernsehbilder nur en passant an. Meinen Eltern ging es damit anders: Sie verfolgten die Geschehnisse gebannt und diskutierten, was das für Auswirkungen haben könnte.
Meist wurde aber nur über die Demos in den großen Städten wie Leipzig oder Berlin berichtet. Was das für die Menschen im Einzelnen bedeutete und dass sich auch in der Provinz Widerstand regte, war in der DDR und außerhalb zu diesem Zeitpunkt wenig bekannt.
Und es regte sich einiges, bereits ab Spätsommer 1989. Immer mehr Menschen verließen die DDR, besonders die jungen. Die Kirchen organisierten Friedensgebete und man sah nun viel öffentlicher, wie aktiv sie in der Veränderungsbewegung waren. Viele Menschen, auch normale Leute, wagten sich raus, wollten etwas verändern. Um den Sturz des Staatsapparates ging es damals noch nicht. Der saß vermeintlich noch viel zu sicher im Sattel. Verbreitung von Angst war ein Geschäft, das dieser Staat perfekt beherrschte. So begann das Aufbegehren der Ostdeutschen still und vorsichtig, die Kirchen waren ein guter Hort, da sie dort zumindest etwas Schutz genossen. Aus dieser Position und mit immer mehr Menschen, die sich beteiligten, wuchs der Widerstand, wurde lauter, deutlicher.
Die SED-Funktionäre versuchten noch immer, die Machtposition zu behalten. Besonders die militärischen Staatsorgane, die NVA und die Staatssicherheit, bauten weiterhin Drohkulissen auf. Ich hatte einen Freund, der in den letzten Wochen vor dem Mauerfall seinen Wehrdienst in der Nähe von Berlin leisten musste. Er hatte täglich Angst, zu den Berliner Demos ausrücken zu müssen. Im schlimmsten Fall hätte er auf die eigenen Leute schießen müssen. Er hatte noch monatelang Albträume.
Im Westen kamen immer mehr DDR-Flüchtlinge an und damit auch die Geschichten des Ostens. In den Notaufnahmelagern in Westdeutschland gab es viel Hilfe seitens der Bevölkerung. Viele Ostdeutsche fanden schnell einen Job und waren willkommene Fachkräfte. Wie lange die Zeit der Teilung noch dauern würde, wusste niemand. Wie viele Leute noch kommen würden, auch nicht.
Doch dann endlich und doch völlig unvermutet: der Mauerfall! Wir saßen am 9. November abends tatsächlich vorm Fernseher, als Günter Schabowski vom Blatt ablas, dass die Grenzen geöffnet werden sollten. Und zwar, so Schabowski: „… nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“
Dass das Ganze durch Zufall passiert war, dass ihm jemand diesen Zettel untergeschoben hatte, kam erst viel später heraus.
In Reportgen aus dieser Zeit, in der Ostdeutsche gleich nach der Maueröffnung etwas in die Kameras sagten, fällt fast immer das Wort „Wahnsinn“.
„Wahnsinn!“ – für mich das Wort des Jahres 1989. Das Wort kommt aus dem Mittelhochdeutschen, die Urform „wan“ bedeutet „leer, fehlend“. 1989 fehlten die Worte für das, was passiert war. Das Wort „Wahnsinn“ drückte für viele aus, was kaum auszudrücken war. Überraschung. Erleichterung. Freude. Erwartung. Man hörte es immer wieder. Wahnsinn.
Als die Mauer fiel, lag ich schon im Bett. Meine Mutter kam in mein Zimmer und berichtete mit tränenerstickter Stimme, was sie soeben im Fernsehen erfahren hatte. Ich glaube, dass ich nicht einmal aufgestanden bin, um mir die Bilder dieses historischen Moments im Fernsehen selbst anzuschauen. Scheinbar ging ich davon aus, dass dieses Ereignis nichts in meinem Leben ändern würde. Während in Berlin der Bär los war, schlief ich ein.
Bereits am 9. November machten sich DDR-Bürger auf den Weg in den Westen, einfach um mal zu sehen, wie es dort ist. Ungefähr