Sind wir uns wirklich einig?. Ilka Wild

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Название Sind wir uns wirklich einig?
Автор произведения Ilka Wild
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783963115219



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seit ein paar Jahren die großen Städte des Ostens für sich entdeckt. Viele ostdeutsche Städte wirken moderner und schicker als so manche westdeutsche Stadt.

       Erinnerungskulturen

       Von Carolin Wilms und llka Wild

       Carolin Wilms

      Denke ich an meine Kindheit, denke ich auch an Geschichten vom Krieg. Geschichten, die mir meine beiden Omas erzählt haben. Die eine erzählte gute Geschichten. Die andere erzählte gerne Geschichten. Ich brauchte nur zu sagen „Oma, erzähl doch mal vom Krieg“, dann nahm sie mich in den Arm und mein Blick richtete sich gen Zimmerdecke und ich bebilderte vor meinem inneren Auge die Szenen mit Episoden aus Fernsehfilmen: Mit Ausschnitten von „Michel aus Lönneberga“ entstanden in meinem Kopf Bilder, die zu den Geschichten meiner Lieblingsoma gehörten, in denen immer wieder das Milchkannen-tragende Mädchen Rosemarie mit stramm geflochtenen Zöpfen und Kittelschürze vorkam.

      Mit Sequenzen aus Indianerfilmen stellte ich mir die Flucht meiner Großmutter vor der Roten Armee vor. Mir kamen Pferdefuhrwerke aufregend romantisch vor und ich stellte Fragen nach Zaumzeug und Reitstiefeln. Die wahre Dramatik, die dahinterlag, hatte sich mir als Kind nicht erschlossen – wie sollte ich mich auch in eine Diktatur und in einen Krieg hineindenken? Die entsprechende Einordnung und Fakten zum Zweiten Weltkrieg habe ich später in der Schule gelernt.

       Ilka Wild

      In meiner Kindheit wurde wenig über die Zeit des Krieges gesprochen. Mein Opa väterlicherseits war Sanitäter, wurde mir erzählt; in einem alten Fotoalbum sah ich ihn in Wehrmachts-Uniform mit den untrüglichen Insignien der Nazis. Er hatte eine schwere Lungenverletzung davongetragen und litt unter den Spätfolgen bis zu seinem Tod. Über seine Krankheit wurde ab und zu geredet, sonst jedoch war die Nazi-Zeit Tabu. Schließlich war diese Zeit Dauerthema in der Schule, das Wort „Antifaschismus“ hörten wir dort täglich. Die Schule hatte das Monopol an der Geschichts- Deutung des Dritten Reiches, da war wenig Platz für persönliche Geschichten. Und mit Kindern wurde darüber erst gar nicht gesprochen. Erst viel später, als ich mich als Erwachsene für meine Familiengeschichte interessierte, erfuhr ich mehr darüber.

      In meiner Kindheit Anfang der 1970er Jahre waren Kriegsgeschichten allgegenwärtig. Ich hatte Zeitzeugen um mich, die das Schicksal zwar halbwegs verschont hatte, die aber die verlorenen Menschen und Jahre betrauerten.

      Solche Hintergrundmusik prägt. Die erdachten Bilder brannten sich in mein Gedächtnis.

      Nun hinkt der Vergleich der beiden deutschen Diktaturen in vielerlei Hinsicht. Dennoch frage ich mich heute, warum ich für die Geschichten meiner Großeltern mehr Interesse entwickeln konnte als für die DDR. Vielleicht, weil meine eigene Familie nicht betroffen war und ich niemanden aus der DDR kannte. Man könnte einwenden, dass ich mich trotzdem dafür hätte interessieren können, da es immerhin meine Gegenwart und mein Land war. Stimmt! Aber „tief im Westen“ – wie Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Bochum“ grölt – strahlte die DDR nicht aus.

      Sah man aber genau hin, kam die DDR an einigen Orten im Westen doch vor: Man hatte etwa den Straßen des Koblenzer Neubauviertels, in dem ich groß wurde, ausschließlich Namen ostdeutscher Städte gegeben (erst wohnte ich kurioserweise in der Leipziger Straße). Auf diese Weise sollten wohl die Menschen im Westen wenigstens diese Orte im Osten in Erinnerung behalten und Nachgeborene sie zumindest namentlich kennen.

      Das führte dazu, dass ich, als ich später in den Osten zog, die dortigen Städtenamen ausschließlich mit meinen früheren Schulkameraden in Verbindung brachte, die in Koblenz etwa in der Zwickauer oder Magdeburger Straße gewohnt hatten. Einen anderen Bezug hatte ich zu den Städten bis dahin nicht hergestellt.

      Im Osten jedoch schaute man permanent auf den Westen. Er war unsere Referenz für ein besseres Leben, auch wenn man dies nicht offen sagen durfte. Jeder wusste, wo Köln, Hamburg oder München lag, zumindest von der Wetterkarte der Tagesschau: Wir schauten (heimlich) Westfernsehen und fühlten uns bestens informiert über die Bundesrepublik. Und bundesdeutsche Fernsehserien brachten uns All-tags-Geschichten: Wir fieberten mit den Drombuschs, den Schumanns, den Ärzten der Schwarzwaldklinik und den Bewohnern der „Lindenstraße“.

      Wir hatten keine Familie im Osten, die wir hätten besuchen oder der wir Pakete zu Weihnachten hätten schicken können, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen in der BRD. Vor Kurzem las ich, dass allein im Jahr 1988 fast 28 Millionen solcher Postsendungen registriert wurden, mit einem geschätzten Gesamtwert von mehr als fünf Milliarden DDR-Mark. Freunde von mir bekamen von ihrem Onkel aus der DDR Listen mit Dingen, die er brauchte: darunter auch Jacobs Kaffee. Nun trank seine eigene Familie aus Kostengründen ausschließlich Aldi-Kaffee, schickte aber über Jahrzehnte die gewünschte Marke.

      So erreichen die heutige Generation von Kindern völlig unterschiedliche Narrative. Meine von West-Eltern erzogenen, allerdings im Osten aufgewachsenen Kinder kennen den entsprechenden Schulstoff zur deutsch-deutschen Teilung, haben mit uns brav Gedenkstätten besucht, die die „Macht und Banalität“ der Stasi etwa in Leipzigs „Runder Ecke“ zeigt, aber eigene Geschichten konnte ich ihnen kaum erzählen. Lediglich beim Passieren der früheren innerdeutschen Grenze auf der A4, erwähne ich jedes Mal, dass früher an dieser Stelle unsere Welt aufgehört hatte. Denn meine einzige Erfahrung mit der DDR beschränkt sich auf eine organisierte Reise durch Sachsen, zu der mich meine Mutter im Jahr 1986 angemeldet hatte und bei der ich alles merkwürdig verkrampft und grau gefunden hatte.

      Mein Sohn wird mit ganz anderen Geschichten groß. Mein Mann und ich erzählen ihm von den beiden Deutschlands. Auch seine Großeltern fingen schon im Vorschulalter damit an, so kindgerecht wie möglich auf sein Interesse und seine Nachfragen einzugehen. „Bei uns im Land war ne Mauer?“, fragte er dann. Es erschien ihm unglaublich.

      Andere Familien haben positive Erinnerungen an die Zeit in der DDR, wie eine entfernte Verwandte von mir, die es bei der NVA weit gebracht hatte und im wiedervereinigten Deutschland beruflich nicht mehr auf die Füße gekommen ist. „Früher ging es mir besser“, heißt es dann beim runden Geburtstag. Meine Eltern und deren Freunde haben schlechte Erinnerungen an die DDR, als sie mit ihrem Wanderverein Anträge stellen mussten, um mit ihrer Gruppe in den Ferien selbst im sozialistischen Ausland wandern zu gehen. Die Eliten hatten ihre Privilegien, aber die normalen Leute – zumal in Gruppen – wurden in ihren bürgerlichen Rechten beschnitten und mussten dem Eindruck vorbeugen, keine Republikflüchtlinge zu sein.

      Viele meiner engen Freunde, selbst meine Schwester sind vor und nach dem Mauerfall „in den Westen gegangen“. Falls sie geblieben sind, und das gilt für den überwiegenden Teil, haben sie im Westen eine neue Heimat gefunden, die nie zur DDR gehört hat. Folglich werden sie vor Ort nicht mit den Anpassungsschwierigkeiten konfrontiert, die es im Osten gibt. Wenn sie über den Osten reden, geht es meist um die DDR-Zeit. Nur bei Telefonaten mit den Verwanden im Osten oder bei Besuchen in der alten Heimat werden sie mit dem Wandel konfrontiert. Aber im Alltag steht das Ost-West-Thema nicht ständig auf dem Plan. Natürlich interessieren sich die Ex-Ossis noch für ihre alte Heimat, aber sie ist weit weg. Manche sprechen mit den eigenen Kindern darüber, wie sie aufgewachsen sind, andere nicht. Die Kinder selbst interessieren sich genauso viel für den Osten wie andere westdeutsche Kinder auch. Aber der Systemwechsel ist am Küchentisch nicht das bestimmende Thema wie bei vielen Familien im Osten. So kann es sein, dass die Familien-Geschichten aus dem Osten selbst in diesen Ost-Familien verblassen.

      Der fundamentalen, kollektiven Erfahrung des Systemzusammenbruchs der Ostdeutschen steht auf westdeutscher Seite nichts Vergleichbares gegenüber. Die meisten haben nicht den Hauch einer Ahnung, was das Leben in einer Diktatur und der Umbruch für die Menschen im Osten bedeutet hat. So nimmt es auch nicht Wunder, dass sie der Gedanke schmerzt, dass sich viele Westdeutsche nicht dafür interessiert haben und dies teilweise bis heute nicht tun.

      Die Erfahrung, die wir Ostdeutschen mit der friedlichen Selbstbefreiung, dem Zusammenbruch des Staates und unserer Welt gemacht haben, ist wie eine Klammer, die uns verbindet, egal ob wir den Wandel in der Form begrüßt oder abgelehnt haben. Diese Erfahrung haben wir den Westdeutschen