Название | Gonzo |
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Автор произведения | Matthias Röhr |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783854456803 |
Wenn er ein paar Stunden für sich war, die Mutter zum Einkaufen fuhr und seine Brüder die einzige Gesellschaft ausmachten, drehte er gern extra laut. Auch mal gegen Mittag. Nein, besonders gegen Mittag, direkt nach der Schule.
Spätestens jetzt hatte ihn ohnehin die Rockmusik gepackt. Nicht, dass er sich nicht schon seit längerem intensiv mit ihr beschäftigte, aber nun wollte er sie auch erlernen und leben. Das Bespielen der verschiedensten Gitarren bestimmte fortan sein Denken und Handeln. Nichts und niemand konnte dem einen Strich durch die Rechnung machen. Kein Lehrer, kein Vater, erst recht keine Nachbarn von nebenan. Entwickelte Matthias Interesse an einem Thema, wollte er darüber alles wissen, schon damals. Wurde aus dem Interesse eine waschechte Leidenschaft, gab er fortan alles dafür und ordnete ihr alles unter, setzte alle Kraft und jede freie Kapazität ein, um sein Ziel zu erreichen.
Matthias, Helmuth T., Oliver und Sebastian W. (den alle nur „Graf Porno“ nannten) waren seit der neunten Klasse gute Freunde. Graf Pornos liebstes Hobby und schulischer Zeitvertreib war es, eine gut sortierte, frivole Sammlung feinster Wichsheftchen zu besitzen, die er immer dann aus dem Ranzen fischte, sobald Algebra oder Englisch auf dem Stundenplan standen.
Zusammen teilten die fünf nicht nur die Liebe zum RockʼnʼRoll, sondern auch das Schicksal, allesamt in der Neunten sitzengeblieben zu sein. Die fünf waren zu der Zeit echte Mofa-Rocker. Man konnte sie schon von weitem mit ihren Zweitaktern hören, noch bevor sie am Horizont in Erscheinung traten. Fuchsschwanz, Jeans, oben eng und unten weit, lange Haare und alles weitere verschafften auf der einen Seite Respekt und weckten auf der anderen Seite die Aufmerksamkeit der Mädchen.
Sebastian, dessen Eltern bei der Höchst AG arbeiteten und nach Australien versetzt wurden, sollte noch die Realschule fertigmachen, bevor er ebenfalls zu den Eltern umzog. Er lebte in der Zeit bis zu seinem Abschluss in einem Wohnheim der Höchst AG, in dem die Auszubildenden der Firma untergebracht waren.
Als Matthias von der Schule geflogen war (was seine Eltern erst etwas später mitbekamen, da er die entsprechenden Briefe der Schule abgefangen hatte), verließ er morgens sein Elternhaus zur gewohnten Uhrzeit, begab sich aber nicht zum Schulbus, sondern in das Wohnheim zu Sebastian und dessen Bruder, wo er sich erst noch einmal gemütlich hinlegte.
Gegen zehn verließen Matthias und Sebastians Bruder dann gemeinsam die Herberge und trafen sich mit Helmuth, Oliver und den anderen von der Schule Geflogenen sowie „Graf Porno“ im Elternhaus Helmuths. Dort probte die Bande den ganzen Tag im Keller, was wiederum die dortigen Nachbarn alarmierte und auf den Plan rief.
Das Ende des Nachkriegsbooms war auch gleichzeitig das Ende der Selbstständigkeit von Joachim Röhr. Die Industrie in und um Frankfurt zog sich zurück und reduzierte sich auf das Wesentlichste. Das hatte unmittelbar zur Folge, dass kaum noch Gäste in die von Röhr Senior geführte Gaststätte kamen, die er einige Jahre zuvor übernommen hatte.
Wegen der plötzlich einbrechenden Einnahmen sah er sich gezwungen, sein Lebenswerk zu verkaufen. Deutlich unter Wert, von dem ideellen ganz zu schweigen. Der Familie fehlten fortan die Einnahmen des Vaters. Von diesem Zeitpunkt an war die schöne Doppelhaushälfte im Fasanenweg finanziell nicht mehr zu stemmen, und ein Umzug stand an. Nach einigen Überlegungen fiel die Wahl Anfang des Jahres 1981 schließlich auf Bonames, einen berüchtigten Stadtteil im Norden Frankfurts.
Der Name des Viertels ging auf das alte Rom zurück und bedeutete, dass dort, an der Nidda, eine „bona mansio“ („Gute Gaststätte“) gewesen sein musste. Die Struktur des Stadtteils wandelte sich damals entsprechend der generellen Stimmung im Land.
Nun war schon allein die Idee, aus dem beschaulichen Oberliederbach nach Frankfurt-Bonames zu ziehen, wenig vielversprechend. Als sich herauskristallisierte, dass Bonames immer wahrscheinlicher und irgendwann unausweichlich wurde, ging ein großes Raunen durch die Familie.
Dieser Unmut war allerdings nichts im Vergleich zum Gefühl der Trostlosigkeit, das Matthias und seine Brüder verspürten, als feststand, dass sie – von allen beschissenen Ecken dieser beschissenen Gegend – ausgerechnet in die allerbeschissenste Straße ziehen mussten. Der Ben-Gurion-Ring, eine Hochhaussiedlung mit absurd hohem Migrantenanteil, der bis heute für seine weitreichenden sozialen Probleme bekannt ist, wurde das neue „traute Heim“ der Röhrs.
Dort standen Hochhäuser, die schweigend Zeugnis vom Größenwahn der Städteplaner abgaben. Bis zu zwanzig Stockwerke hoch, grau in graue Tristesse. Mini-Balkone, die, mit einem kleinen Grill und einem Wäscheständer verstellt, keinen weiteren Platz mehr boten.
Der größte Irrsinn war jedoch die zutiefst fragwürdige architektonische Bauweise der Plattenbauten. Alle Häuser wurden zu einem fast geschlossenen Kreis angeordnet, dessen Mitte ein nur aus Beton bestehender Innenhof bildete. Wegen Anordnung und Höhe der Häuser fiel nur sehr wenig Licht in die Durchgänge. Hier herrschte an 365 Tagen im Jahr das Regiment der Schatten.
Selbst dann, wenn es über zwanzig Grad warm war, fror man dort. Die soziale Kälte, die durch diese Wohnungen kroch, spürte jeder Besucher oder Anwohner direkt am ganzen Leib. Man musste sich nur lange genug in dieser Gegend aufhalten, um den schleichenden Wahnsinn zu teilen, der dort von Hochhaus zu Hochhaus zog und den Menschen ins Hirn krabbelte.
Wen die Hoffnung endgültig verließ, konnte durch einen Sprung über die viel zu klein gehaltene Brüstung seinem Dasein ein Ende setzen. Das passierte immer wieder. Der Aufschlag der Selbstmörder hinterließ sodann, wenn auch nur für kurze Zeit, etwas Farbe in den Innenhöfen.
Retrospektiv betrachtet war die Entscheidung seiner Eltern, nach Bonames zu ziehen, aus vielerlei Hinsicht eine folgenschwere. Sah man von dem Kontrast zwischen der Reihenhaus-Idylle im Fasanenweg und dem brutalen, einem Ghetto nicht unähnlichen Leben am Ben-Gurion-Ring mal ab, war die Frage, ob es überhaupt eine andere Wahl gegeben hatte, nicht leicht zu beantworten. Bonames schien der unausweichliche Kompromiss aus finanzieller Machbarkeit und räumlicher Notwendigkeit zu sein.
Matthias sah man kaum noch zuhause. Wenn überhaupt, dann nur zum Schlafen. Er hielt es nicht lange dort aus. Er musste raus. Raus aus diesem Moloch, in dem man sich nur oberflächlich umzugucken brauchte, um zu verstehen, dass es eigentlich ziemlich schlecht um die Mittelschicht in Deutschland bestellt war. Dass dieses Land – wenn man weiter so wirtschaftete und den Menschen ins Gesicht spuckte – irgendwann nur noch zwischen zwei Kasten unterscheiden würde: bettelarm und superreich.
Röhr nutzte jede freie Minute, um auszureißen. Frankfurt war nicht nur Bonames oder der Frankfurter Berg, sondern eben auch Sachsenhausen, das West- und Nordend. Gegenden, in denen man sich deutlich besser aufhalten konnte und die über ein stattliches Nachtleben verfügten.
Der Rausschmiss von der Eichendorffschule und das damit einhergehende Verfehlen des Realschulabschlusses war für Matthias indes gut zu verkraften, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits einen Lehrvertrag in der Tasche hatte.
Es zog ihn damals immer mehr in die Nacht und damit auf die Konzerte, die es rund um Frankfurt zu erleben gab. Die bessere Mobilität hatte den Vorteil, dass sein Erlebnisradius nicht mehr nur auf Kelkheim beschränkt war, sondern Frankfurt und das gesamte Main-Taunus-Gebiet einschloss.
Karsten, sein kleinster Bruder, geriet in Bonames zunehmend, und schon sehr früh, in die falschen Kreise. Dort machte er schon mit dreizehn Jahren erste Erfahrungen mit Alkohol und Drogen. Die Krallen der Sucht packten ihn von Tag zu Tag mehr und rissen ihn in einen Strudel aus Rausch und Depression, denen er trotz aller Hilfe viele Jahre später, 2016, erliegen sollte.
Es war bei ihm genauso wie bei vielen anderen Menschen, deren Weg durch Drogen fremdbestimmt wurde. Das große Ziel am Ende der Rauschmittelkarriere schien unaufhaltsam auf ihn zu warten, er musste nur schnell genug laufen, um es pünktlich zu erreichen. Doch es waren keine Jubelschreie, keine Gratulanten und Medaillen, die auf der Ziellinie warteten, sondern ein knochiger Typ mit schwarzem Umhang und Sense. Karsten Röhrs Abstieg in die Sucht- und Drogenhölle begann mit dem Umzug der Familie nach Bonames.
Martin erinnert sich heute noch sehr gut an die vielen Verstrickungen,