Название | Black or White |
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Автор произведения | Hanspeter Künzler |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783854453154 |
Keiner der Söhne sagte je ein Wort zu Katherine, offenbar darum, weil sie die Mutter beschützen wollten. Es kann nicht einfach gewesen sein, sich durch diese Verheimlichung zum Mitläufer von Josephs parallelem Leben gemacht zu haben. Die dadurch aufgebrochenen Emotionen dürften für den achtjährigen Michael fast nicht zu bewältigen gewesen sein, zumal er als hingebungsvoller Sohn seiner Mutter in puncto religiöser Überzeugung mit kindlicher Inbrunst nacheiferte. Wie konnte es dieser Gott zulassen, dass gerade die lammfromme Katherine vom eigenen Mann so gnadenlos hintergangen wurde? Wie konnte es geschehen, dass sich gerade die Frau, die daran glaubte, dass außerehelicher Sexualverkehr des Teufels sei (wie die meisten Sexualpraktiken eigentlich, außer der Missionarsposition), ausgerechnet einem Lebenspartner ewige Treue geschworen hatte, der die Freuden des Fleisches in vollen Zügen zu genießen trachtete? Wenn die Verführungen, die uns in den Weg gelegt werden, Satans Versuch sind, uns vom Weg Gottes abzubringen – machte das Joseph nicht zum Abgesandten Satans? Es ist unmöglich, nicht an den Ödipus-Mythos zu denken. So drängt sich bei Josephs exhibitionistischen Casanova-Auftritten der Verdacht auf, er habe seinen Söhnen, die als Musiker so viel mehr Talent besaßen als er selber, zeigen müssen, dass er dort, wo es wirklich zählte, nämlich im Bett, noch immer der Platzhirsch war. Ebenfalls im Sinne des Ödipus-Mythos sind die heldenhaften Versuche der Söhne, Katherine zu beschützen vor dem Schmerz, den der Vater ihr zufügen könnte.
Nicht nur der Vater genoss das Leben „on the road“. Auch Michaels Brüder kamen bald auf den Geschmack. Der daheim so strenge Joseph ließ unterwegs die Zügel schleifen. Marlon und Michael hatten Order, sich schlafend zu stellen, wenn die älteren Brüder mit „Freundinnen“ ins Hotel zurückkehrten und sich in den anderen Betten mit ihnen vergnügten. Dann waren da auch noch die Clubs, in denen sie auftraten. Strip-Shows gehörten zum Alltag, und Joseph hatte nichts dagegen, wenn seine Sprösslinge sich die Shows zu Gemüte führten. Michael konnte es nicht verstehen, dass es Männer gab, die gierig an den Slips schnüffelten, welche die Stripperinnen auf dem Höhepunkt ihrer Show ins johlende Publikum warfen. In der Peppermint Lounge in Chicago hatte jemand ein Guckloch in die Wand gebohrt, auf der anderen Seite befand sich die Damentoilette. „Da sah ich Dinge, die ich nie vergessen habe“, heißt es in Michaels Memoiren. Unvergesslich geblieben ist ihm auch eine Show-Einlage im New Yorker Apollo Theater. „Ich hatte schon ziemlich viele Stripperinnen erlebt, aber dieses Mädchen hatte ganz besonders schöne Wimpern und lange Haare. Sie legte eine tolle Vorstellung aufs Parkett. Ganz plötzlich, ganz zum Schluss, da hat sie sich die Perücke vom Kopf gerissen und zwei große Orangen aus dem Büstenhalter gezogen.“
Es stellte sich heraus, dass hinter all dem Make-up ein hartes Männergesicht versteckt war. Das Publikum habe wild applaudiert. „Das hat mich umgehauen. Ich war ja bloß ein Kind. So was hätte ich nie im Leben erwartet.“ Die Jacksons waren imstande, den Ton ihrer Vorstellung dem des Lokales anzupassen. Wenn es Zeit war für die populäre Joe Tex-Nummer „Skinny Legs And All“, schickte Joseph Michael ins Publikum, wo dieser von Dame zu Dame sprintete, um ihnen unter den Rock zu gucken und dabei anzüglich mit den Augen zu rollen. Auch bei dieser Freak-Show kam Michael das Talent zugute, dass er eine Rolle perfekt spielen konnte, deren Sinn er so wenig verstand wie die Texte seiner Lieder. Michael hätte bei den sexuellen Erfahrungen seiner Brüder genug Gelegenheit gehabt, sich quasi am Bühnenrand „Bildung“ anzueignen, wie er es mit seinen Idolen im Theater getan hatte. Diese Art von aufgezwungener Lehre wirkte nur abstoßend auf ihn. Ein paar Jahre später, auf der Höhe ihres Erfolges, entdeckten die Jackson 5 in ihrer Garderobe in einem Londoner Theater wiederum ein Guckloch. Diesmal erlaubte es einen Blick auf die sich nackt erholende amerikanische Star-Schauspielerin Carol Channing. Vier Jacksons drängten sich aufgeregt um das Guckloch, der fünfte, Michael, wandte sich angewidert ab. Ist es bei einem derartigen Wirrwarr von widersprüchlichen Impulsen, unverständlichen Emotionen und überwältigenden Eindrücken ein Wunder, dass Michael sich mit Haut und Haar ins Show-Business stürzte? In ein Shangri-La, wo ein mit verblüffender Leichtigkeit hingeworfener Spagat wie ein Zaubertrick alle Sorgen und Komplikationen zum Verschwinden bringen konnte?
Jackie Jackson hatte unterdessen die Fahrprüfung bestanden und den Zündschlüssel für den VW-Bus in der Tasche. Ob man nicht besser ohne den Vater losfahren würde, witzelte Jermaine, denn Joseph kehrte verspätet von der Arbeit zurück. Es nahm ihn niemand ernst. Unterwegs nach Detroit, schreibt Michael, habe er gespürt, dass sich sein Leben mit dieser Fahrt grundlegend verändern werde. Im Radio liefen die Beatles. Motown Records hatte für die Band das Gotham Hotel gebucht, ein urbaner Kasten im Stil New York der 30er Jahre. Alle gingen früh zu Bett – außer Joseph: der ging zum Ausgang. Am nächsten Morgen um fünf Minuten vor zehn Uhr ließ Joseph seine Leute auf dem Parkplatz von Motown der Größe nach in einer Reihe zur Inspektion antreten. Punkt zehn Uhr schritt er ihnen voraus durch die Eingangspforte. Der Mann, der sie in Empfang nahm, begrüßte sie – sie konnten es nicht glauben – alle mit Namen. Im Studio gesellte sich Ralph Seltzer zu ihnen. Nun mussten sie allerdings einen argen Dämpfer hinnehmen. Label-Gründer und -Präsident Berry Gordy werde, so wurde ihnen eröffnet, nicht persönlich anwesend war. Gordy verbrachte zu diesem Zeitpunkt bereits die meiste Zeit in Los Angeles, wo er alles daransetzte, für seine On-/Off-Freundin Diana Ross eine Filmkarriere einzufädeln. Joseph fühlte sich in seinem Stolz verletzt und wollte abmarschieren: Die Jacksons kämen zurück, wenn es Gordy besser passe. Er wurde zum Bleiben überredet. Die Vorspielprobe werde auf Film gebannt, damit Gordy die Resultate in Ruhe begutachten könne, die Entscheidung werde er zu gegebener Zeit mitteilen. Zum Start legte die Jackson 5 eine furiose Version des brandneuen James Brown-Hits „I Got the Feeling“ hin, wobei Michael die Manierismen von JB bis hin zum Ausruf „Good God almighty!“ perfekt kopierte. Keiner der anwesenden Motown-Angestellten applaudierte, jeder kritzelte im Notizbuch. Irritiert stürzten sich die Jacksons in den nächsten Song, bezeichnenderweise eine Version von „Tobacco Road“: Komponiert vom Country & Western-Songschreiber John D. Loudermilk, war das Lied vier Jahre zuvor von der englischen „Beat-Gruppe“ Nashville Teens in die amerikanischen Pop-Charts getragen worden. Die Wahl zeigt, wie weitgefächert das Repertoire der Jackson 5 sein konnte, und ist symptomatisch dafür, dass Motown nicht im Ruf stand, bloß „schwarze“ Musik schätzen zu können. Zum Abschluss konnten es sich die Jacksons nicht verkneifen, mit einer Interpretation von „Who’s Loving You“ des Motown-Haus-Komponisten Smokey Robinson zusätzliche Sympathie-Punkte zu sammeln. Die erwartete Begeisterung blieb aber aus. Seltzer erhob sich, sagte ohne eine Miene zu verziehen ein kurzes Dankeschön, versprach eine Antwort in zwei Tagen und ging von dannen. Über die Interstate 94 fuhren die Jacksons zurück nach Gary. Die Stimmung war gedrückt. Zu Hause warteten die Schulaufgaben. Aber drei Tage später saßen