Im Gespräch mit Morrissey. Len Brown

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Название Im Gespräch mit Morrissey
Автор произведения Len Brown
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854454878



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zwei Jahre waren ziemlich schlimm. Es war sehr ärgerlich. Die Lehrer waren zum Kotzen. Diese ganze schmuddelige Schule. Man hatte ja sowieso keine Zukunft. Es gab Anfang der Siebziger viele Streiks, Stromausfälle, keine Elektrizität, keine Kohle, also dachte ich: Was soll’s? Ich saß zu Hause und plante die Werbekampagne für The Queen Is Dead.“

      In Ihren Texten kommen Sie immer wieder auf diese Zeit zurück.

      „Ja, es war eine Zeit, die sich sehr stark eingeprägt hat. Es war, als hätte man einen Krieg mitgemacht, und Leute, die einen Krieg mitgemacht haben, können das nie ganz vergessen. Es war furchtbar und ermutigend zugleich und formte den Charakter. Aber es war auch tragisch. Es war bestimmt interessant, in dieser Zeit ein Teenager zu sein, aber trotzdem war das Leben weder leicht noch finanziell sorgenfrei. Alle, die ich kannte, waren bettelarm.“

      „Weißt Du, es gibt noch mehr im Leben als Bücher, aber so viel mehr auch nicht“, sang Morrissey in dem frühen Smiths-Stück „Handsome Devil“. Angesichts der unvorteilhaften äußeren Umstände seiner Kindheit scheint es kaum verwunderlich, dass die Arbeit seiner Mutter als Bibliothekarin und ihre Liebe zu Büchern auf den schüchternen jungen Steven abfärbten.

      „Als Kind war ich von Büchern umgeben, was mir ab einem bestimmten Punkt zum Verhängnis wurde. Es kommt so weit, dass man nicht mehr an die Haustüre gehen kann, ohne das Ganze gleich fürchterlich analytisch zu betrachten.“

      Schon früh regten die Werke von Thomas Hardy und ganz besonders Charles Dickens seine Fantasie an. „Dickens finde ich sehr aufregend, weil er ein entsetzlich grüblerischer Mensch war, schrecklich verbittert und ziemlich depressiv … Ich liebe diese harte, trostlose Beschreibung des East End, diese schmutzigen, gewundenen Gassen voller verlorener Menschen … wie unser Freund Fagin.“ Bei anderer Gelegenheit, als er sich gegen die häufige Darstellung seiner Person in den Medien verwandte, erklärte er: „Die Leute denken immer, ich sitze angestaubt in der Ecke und lese Harte Zeiten.“

      Daneben begeisterte sich der junge Morrissey für die Theaterstücke der ebenfalls in Manchester lebenden Shelagh Delaney, deren Bitterer Honig er ungemein inspirierend fand und die später auf mehreren Smiths-Covers zu besonderen Ehren kam (insbesondere auf „Louder Than Bombs“ und „Girlfriend In A Coma“). Die Verfilmung, bei der Tony Richardson Regie führte, fing die raue, industrielle und im Verschwinden begriffene Stadtlandschaft von Salford und Manchester ein, mit ihrem Kanal und den „schmutzigen Kindern“. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen der Hauptfigur Jo zu Jimmy (einem schwarzen Seemann, von dem sie schwanger wird) und Geoffrey, einem jungen Schwulen aus Manchester – „Ich wollte schon immer einmal wissen, wie Leute wie du sind“, sagt Jo zu Geoffrey. Für das damalige Kinopublikum war so etwas inhaltlicher Sprengstoff.

      Viele von Delaneys Zeilen sollten sich später in Morrissey Texten wieder finden. An einer Stelle etwa sagt Jimmy zu Jo: „I dreamt about you last night, fell out of bed twice (Letzte Nacht träumte ich von dir und fiel zweimal aus dem Bett).“ Als Jo erfährt, dass das Baby im November zur Welt kommen wird, fürchtet sie: „This baby’ll be born dead or daft … dieses Baby wird tot oder blöd geboren“, weil ihr Vater „lived in the land of the daft – im Land der Blöden lebte“. Geoffrey bringt Jo, die von Jimmy verlassen wurde, auf den Boden der Tatsachen zurück und sagt: „The dream’s gone but baby’s real enough – der Traum ist vorbei, aber das Baby ist wirklich genug“ (siehe Morrisseys „This Night Has Opened My Eyes“).

      Auf Morrisseys Leseliste standen noch andere, im Hinblick auf das Thema Sexualität sogar noch eigenwilligere Schriftstellerinnen, darunter Radclyffe Hall, Germaine Greer und Djuna Barnes. Halls Hauptfigur in Quell der Einsamkeit ist ein verwirrtes Mädchen, die von ihrem Vater Stephen genannt wird, weil er sich einen Jungen gewünscht hatte. Barnes’ 1936 erschienener zweiter Roman Nightwood gilt heute als früher Klassiker der lesbischen Literatur. Als Morrissey heranwuchs, hatten bekennend schwule Autoren wie Edmund White (Abschiedssymphonie, Selbstbildnis eines jungen Künstlers, Gebrauchsanweisung für Paris …) ebenfalls Einfluss auf ihn. Der wichtigste Schriftsteller während seiner prägenden Jahre war und blieb jedoch Oscar Wilde.

      Von seinem achten Lebensjahr an, ermuntert von seiner Mutter, verschlang Steven die Kindergeschichten von Oscar Wilde. Später jedoch gestand er: „Es ist ein Riesennachteil, wenn man sich für Oscar Wilde interessiert, insbesondere, wenn man aus dem Arbeitermilieu stammt. Es geht fast bis zur Selbstzerstörung.“

      Es war Wilde, der einmal sagte: „Ich werde Dichter, Schriftsteller und Dramatiker werden. Irgendwie werde ich berühmt, und wenn nicht berühmt, dann wenigstens berüchtigt.“ Morrissey scheint dieses Credo gelesen zu haben. Da er in Hulme lebte, einem trostlosen Vorort Manchesters, beschloss er, seine ganze Energie und seinen ganzen Enthusiasmus dem Streben nach Ruhm zu opfern. „Ich dachte immer, berühmt zu werden, wäre das Einzige, wofür es sich zu leben lohnt, und dass alles andere nur pro forma wäre. Anonymität war einfach, fand ich; es war einfach, ein simples, nickendes Wesen zu sein, das den Bus besteigt. In der Masse unterzugehen lag mir aber nicht besonders.“ Dieser wachsende Appetit auf Berühmtheit äußerte sich in seinen mittleren Teenagerjahren, als er schrieb: „Ich habe es satt, ein unentdecktes Genie zu sein. Ich will jetzt berühmt sein und nicht erst, wenn ich tot bin.“

      Trotzdem war der Weg vom nicht gesellschaftsfähigen Heranwachsenden – „Hätte ich meine soziale Stellung als Teenager nicht also so amüsant empfunden, hätte ich mich aufgehängt“ – zum international berüchtigten Rockstar weit und steinig.

      Besaßen Sie in Ihrer Jugend denn gar keinen Optimismus?

      Morrissey lacht gequält, als würde ihn die Frage überraschen. „Ich war noch nie optimistisch. In den späten Siebzigern wurde es immer schlimmer, und ich kam jahrelang buchstäblich nicht aus dem Bett. Ich empfand es als ziemlich beängstigend, dass mein zwanzigster Geburtstag bald bevorstand, und hatte keine Ahnung, was passieren würde. Wenn ich abends zu Bett ging, bekam ich schreckliches Herzrasen, weil ich mir solche Sorgen machte. Dann wachte ich um drei Uhr in der Frühe auf und ging in meinem Zimmer auf und ab. Damals ging es mit der massenhaften Arbeitslosigkeit erst richtig los, und die Menschen glaubten tatsächlich noch, dass jemand, der nicht arbeitete, verlottert und faul wäre. Sie dachten noch eine Menge anderer interessanter Sachen und tun es heute noch, aber sie sind weniger aggressiv, weil mittlerweile alle von der weltweiten Krise gehört haben. Damals jedoch war es wie eine schlimme Krankheit, wenn man zu Hause blieb … und sich schminkte.“

      Haben Sie nie in Betracht gezogen, aufs College oder an die Universität zu gehen?

      „An höherer Bildung war ich nicht interessiert, weil mich Bildung insgesamt nie interessiert hatte. Die ganze Schule hat mich noch nie interessiert! Alle nützlichen Dinge, die ich weiß, habe ich mir durch Zufall oder durch eigene Beobachtung angeeignet. Informationen, die man mir vorsetzte, konnte ich nie behalten und kann es eigentlich immer noch nicht. Die Aussicht darauf, eine Arbeit zu finden, die mir Spaß machte, war gleich null. Es war ziemlich schwierig, weil damals die Arbeitslosenzahlen rapide anstiegen.“

      Bedauern Sie es, keine höhere Bildung genossen zu haben?

      „Nein, denn ich finde, es geht mir nicht schlecht. Freilich habe ich keine Aktien von British Gas oder teure Fußballschuhe, aber im Großen und Ganzen kann ich doch zufrieden sein. Ich habe einen schönen Mantel und sitze im Hotel Cadogan. Was will man mehr?“

      Selbst außerhalb der Schule war das Leben für den Teenager Morrissey nicht gerade leicht. Er erzählte mir einmal, ihm sei die außergewöhnlich Ehre zuteil geworden, von den Jungpfadfindern der Stretford Cubs ausgeschlossen