Die erste Bahn. Markus Veith

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Название Die erste Bahn
Автор произведения Markus Veith
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783942672894



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eine Hysterie mitschwingt, die manchem eine Gänsehaut bescheren würde. „Pech biblischen Ausmaßes“, japst er, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hat und sich die tränenden Augen reibt. „Gleich wird es noch Frösche und Heuschrecken regnen.“ Als er erneut auf die Uhr blickt, wird ihm gewahr, dass diese erst 00:20 Uhr anzeigt, was sein Lachen erneut aufpeitscht. Atemlos kramt er schließlich in der Innentasche seiner Lederjacke, friemelt einen kleinen Schreibblock und einen Kugelschreiber heraus und notiert:

      Ihm gefällt der Satz. Irgendwie entspricht er seiner Stimmung.

      Hiob … eine biblische Gestalt, das weiß er. Aber was es mit der nach ihm benannten, Unglück vermittelnden Botschaft auf sich hat, müsste er nochmal nachschlagen. In seinem Kopfkino rattert der Projektor. Wer könnte diesen Satz denken, sagen, verzweifelt herausbrüllen? ‚Ein Typ, der an einem Punkt ist, an dem es gar nicht schlimmer werden kann. Der klitschnass, betrunken, frustriert und allein in einer U-Bahn-Station steht. Oder inmitten von leblosen Körpern. Mit einer rauchenden Uzi oder einem triefenden Katana in Händen. Womöglich aus mehr Körperöffnungen blutend, als er haben sollte. Der hysterisch zu lachen beginnt, da er sich fragt, welche perverse Gottheit er so verärgert haben mochte, dass sie ihm dermaßen auf den Kopf scheißt.‘

      Solcherlei Gedanken, Szenerien und Beschreibungen notiert Kai möglichst sofort. Manchmal kommt es vor, dass er Zettel und Stift nicht parat hat oder sich die Situation nicht eignet, etwas aufzukritzeln. Zum Beispiel, wenn er als Sargträger über den Friedhof wandelt. Befindet sich das Grab weit genug von der Trauerhalle entfernt, steht ihm oft eine Menge Schleichstrecke zur Verfügung, um Tagträumen hinterherzujagen und im Trüffelfeld seines Kopfes nach prosalyrischen Delikatessen zu wühlen. Nach einer Beerdigung haften dann oft Dutzende geistige Notizen an seinem Hirn wie an einer chaotischen Pinnwand.

      Kai rupft den Zettel ab. Block und Kuli verstaut er wieder in der Jacke, die Notiz stopft er in die Gesäßtasche. Er muss nicht noch mehr dazuschreiben. Der Satz dürfte auch so alle Gedanken wieder zurückbringen. Morgen will er schauen, was sich aus der Zeile machen lässt.

      ‚Heute‘, verbessert er sich. ‚Irgendwann.‘

      Er wohnt in einem Vorort. Wenn er um 4:45 Uhr in die erste Bahn steigt, liegt vor ihm noch eine halbstündige Fahrt zu seiner Zielhaltestelle. ‚Sofern ich sie nicht verschlafe.‘ Dann nochmal zwanzig Minuten Fußweg zu seiner Wohnadresse. Dann endlich würde er in sein Bett sinken und schlafen, schlafen, schlafen, bis …

      Nein, Moment. Nur etwa zwei Stunden. ‚Verflucht!‘ Läge er sich hin, müsste er sich zehn und mehr Alarme stellen, um wieder wach zu werden. Nein, da wird es sicherer sein, wenn er sich einen Kaffee kocht, der Tote zu reanimieren vermag. Am besten gleich eine Kanne. Mindestens. Dann muss er sich wieder zur Haltestelle schleppen, zweimal umsteigen, und um neun Uhr vor der Trauerhalle des Hauptfriedhofs parat stehen. Nach der Koffeindröhnung hoffentlich aufrecht, schlimmstenfalls schlurfend, bestenfalls brummkreiselnd. Dann eine lahme Trauerfeier. Pastor Lübke, dieser verschnarchte Messdiener, predigt immer länger als erträglich. Mit einer Stimme, als müsse er jedes Wort mühsam aufklauben. Und Kai wird in der Kammer nebenan sitzen, die sicher wieder völlig überheizt ist. Gemeinsam mit den anderen Sargträgern. Diesen Greisen, die wie Fabrikschlote rauchen und sich mit ihren Wehwehchen übertrumpfen. Dann der Marsch ans Grab. Nur nicht zu schnell, damit die Gehbehinderten auch mithalten können. Und all das für lumpige 30 Euro.

      Kai Trollmann stöhnt verbittert. Erst in hundert Jahren oder so, käme er wieder nach Hause, um endlich in einen komatösen Schlaf zu fallen.

      Er blickt skeptisch neben sich. Mit seinem Siegelring klackert er auf eine der Sitzschalen, die einzeln nebeneinander montiert sind. Sie haben keine Rückenlehnen, damit man von beiden Seiten auf ihnen Platz nehmen kann. Hier zu liegen dürfte nicht sonderlich bequem sein. Den Gedanken, sich auf dem versifften Boden niederzulassen, verwirft er sofort. ‚So weit bin ich nun doch noch nicht.‘

      Kai stellt die Flasche auf den Boden und probiert, sich über die Sitzschalen lang auszustrecken. Erst auf der Seite. Dann auf dem Rücken. Er versucht sich irgendwie zurechtzuschieben, verschränkt die Arme über der Brust, belässt einen Fuß auf dem Boden, den anderen legt er hoch. Eine Sitzkante drückt gegen seine Lende, eine andere gegen seine Wirbelsäule, sein Kopf sackt nach hinten in eine der Sitzmulden. ‚Als läge man auf der Behandlungsliege eines sadistischen Chiropraktikers.‘ Und obwohl ihm klar ist, dass er nicht länger als eine Minute so aushalten, geschweige denn schlafen können würde, bleibt er für eine Weile so liegen. ‚Nur kurz; nur für einen Moment …‘

      Er schließt die Augen und lässt die Abfolge des Tages durch seine Gedanken laufen. Wie die Zusammenfassung vor einer Serienepisode, wenn eine dramatische Stimme ankündigt: ‚Was bisher geschah, … 14. November 2004: Der mieseste Tag im Leben des Kai Trollmann, des größten Losers der Stadt.‘ Seine Miene bewölkt sich bis in die Nachmittagsstunden der Collage, als ziehe eine Unwetterfront über sie hinweg. Aber während ihm die Schnittfolge die Szenen der Folgestunden zeigt, klart sein Antlitz auf. Irgendwann greift er mit geschlossenen Augen in die Außentasche seiner Lederjacke und zieht ein Stoffknäuel heraus: ein Halstuch, rot, mit weißen Punkten. Er legt es sich aufs Gesicht, atmet den Duft tief ein und grinst breit. ‚Nun, es war nicht alles schlecht.‘

      Fordere man von ihm eine Selbsteinschätzung zum äußeren Erscheinungsbild, würde Kai Trollmann sich als gesundes Mittelmaß, publik vorzeigbar einstufen. Offiziell. Insgeheim hinzufügen würde er: Irgendwo zwischen mindestens Matt Damon und nicht ganz Leo di Caprio. Und er wüsste um die Richtigkeit seiner Bewertung. Hinzu kommt noch sein Talent, um welches ihn viele Geschlechtsgenossen beneiden. Unter Alkoholeinfluss verfeinert sich Kais Sprachbegabung. Statt in plumpes Lallen zu verfallen, vermag er weiterhin geschliffen zu artikulieren und geistreiche Rhetorik zu liefern. „Du privilegierter Bastard!“, hat Holger ihn mehr als einmal verflucht. „Du knallst dir die Promille rein und redest immer noch wie ein Philosophie-Professor im Casanova-Modus. Und ich sitz daneben wie ein Honk und merke, wie du die Mädels unten abzapfen könntest.“

      Holger ist Webdesigner und als solcher wirklich gut und begehrt. Er arbeitet daheim und wenn er will, kann er ziemlich fleißig sein. Allerdings richtet er nicht sein Privatleben nach seinem Arbeitspensum aus, sondern umgekehrt. Er nimmt einen neuen Auftrag nur an, wenn er besonders lukrativ ist oder von einem wichtigen Kunden kommt oder es bei ihm finanziell eng geworden ist. Während einer solchen Arbeitsphase kommt es vor, dass er sich in seiner Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses verkriecht, um den Job möglichst schnell zu erledigen. Dann mutiert er zu einem Wesen, das etwa zu gleichen Teilen Ähnlichkeit mit The ‚Dude‘ Lebowski und dem Big Foot hat. Doch auch, wenn er mit Kai loszieht, ist sein Erscheinungsbild nicht unbedingt von der Art, die Frauenherzen höherschlagen lässt. Eigentlich ist Holger sogar ein recht ansehnlicher Bursche, nur leider gefangen im Körper eines tapsig wirkenden Hünen, dessen Haarwuchs sich nicht auf die üblichen Bereiche beschränkt. Er trägt Klamotten auf, bis sie kapitulieren. Gerne T-Shirts mit Aufdrucken aus Kultfilmen auf der Front, meist so verwaschen, dass sie nur noch bröckelig zu erkennen sind. Frauen, mit denen er ins Gespräch kommt, lassen daher oft nur mäßiges Interesse erkennen. Zumal die sehr spezifischen Themen, über die Holger begeistert zu referieren vermag, Damen bestenfalls ein geduldiges Lächeln entlocken.

      Von all dem abgesehen ist er ein intelligenter und vielseitig interessierter Mensch, herzensgut, gesellig und stets hilfsbereit, wann immer seine üppige Freizeit es zulässt. Ist er jedoch mit Kai unterwegs, kommt Holger sich oft vor wie ein Wookie neben einem souveränen Han Solo. (Was besonders absurd erscheint, wenn er tatsächlich eines seiner Lieblings-Shirts trägt, das den Star-Wars-Riesenaffen zeigt.) „Unglaublich!“, äußerte er schon manches Mal ratlos. „Ich rede mich um Kopf und Kragen und du sagst drei Sätze und könntest sie einfach abschleppen.“

      Könnte und kann er, richtig. Und beizeiten tut es Kai auch. Denn grundsätzlich stellt dies kein Problem dar. Eigentlich nicht …

      Kais Miene verfinstert sich, als ihm seine derzeitige Situation zu Bewusstsein kommt. – Nein, er will nicht daran denken! Er rupft sich das Tuch vom