Unbestreitbare Wahrheit. Mike Tyson

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Название Unbestreitbare Wahrheit
Автор произведения Mike Tyson
Жанр Зарубежная психология
Серия
Издательство Зарубежная психология
Год выпуска 0
isbn 9783854454427



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mich verhalten sollte, denn ich hatte noch nie einen Krebskranken erlebt. Aber ich hatte viele Filme gesehen, also erwartete ich so was zu hören wie: „Nun, ich liebe dich, aber ich muss jetzt gehen, Johnny.“ Ich hoffte, ich hätte die Chance, mit ihr zu reden und mich von ihr zu verabschieden. Aber sie war bewusstlos. Also zog ich mich zurück und besuchte sie nie wieder.

      Als ich an jenem Abend nach Hause kam, berichtete ich meiner Schwester, ich hätte Mommy gesehen und sie sehe gut aus. Ich wollte mich einfach nicht mit dem auseinandersetzen, was ich im Krankenhaus gesehen hatte, es war zu schmerzlich. Also machte ich bei einem Raubzug mit. Ich traf Barkim und ein paar andere Ganoven, die ich noch von früher kannte, und wir machten ein paar Brüche.

      Eines Nachts, bevor wir zu unserem Raubzug aufbrachen, zeigte ich Barkim ein Fotoalbum, das ich aus Catskill mitgebracht hatte, mit Fotos von Cus, Camille und mir mit den weißen Kids in der Schule.

      Barkim konnte nicht genug von diesen Fotos bekommen.

      „Mike, das verschlägt mir die Sprache. Piesacken sie dich dort, rufen sie dich Nigga?“

      „Nein, sie sind wie meine Familie. Cus würde dich umbringen, wenn du so über mich reden würdest“, erklärte ich ihm.

      Barkim schüttelte den Kopf.

      „Mike, was tust du denn hier?“, wollte er wissen. „Geh wieder zu deinen Weißen. Verdammt, Mann, sie lieben dich. Kannst du das denn nicht sehen, Nigga? Mann, ich wünschte mir, ich würde ein paar Weiße kennen, die mich so lieben. Kehr zurück. Hier ist kein Platz für dich.“

      Ich dachte über seine Worte nach. Jetzt war ich zum zweiten Mal Champion geworden, und ich brach immer noch in Häuser ein, weil man immer wieder zu seinen Wurzeln zurückkehrt. Jeden Abend betrank ich mich, rauchte Crystal, schnupfte Kokain und ging auf wilde Partys. Ich tat alles, um nicht an meine Mutter denken zu müssen.

      Meine Schwester redete ständig auf mich ein: „Du bist wegen Mom hergekommen. Lass dich nicht ablenken, du bist nicht zum Vergnügen hier.“

      Eines Abends holte Barkim seine Freundin ab, und wir schlenderten zu dritt durch Brownsville. Dabei trafen wir ein paar meiner alten Freunde, die Würfel spielten. Barkim war ebenfalls mit ihnen befreundet, aber er blieb nicht stehen, um mit ihnen zu reden, sondern ging einfach weiter. Aber ich begrüßte meine Freunde, und sie sagten: „Mike, wie geht’s?“, wirkten aber argwöhnisch. „Wir reden später mit dir“, meinten sie.

      Ich hatte ein ungutes Gefühl und spürte, dass hier etwas wirklich Übles gespielt wurde, es roch nach Tod oder sonstigem Bullshit.

      Später fand ich heraus, dass hier Machtkämpfe im Gange waren, und als ich wieder einen kühlen Kopf hatte, erkannte ich, dass sich alles um Barkim drehte. Er besaß all die Autos, Mädchen, Schmuck und die Waffen, weil er hier das Drogengeschäft beherrschte. Seit ich zu Cus gezogen war, hatte sich die ganze Straßenszene verändert. Drogen waren jetzt im Spiel, Menschen starben, und die Jungs, die ich noch von früher gekannt hatte, waren jetzt die großen Bosse. Jungs, mit denen wir früher rumgehangen hatten, brachten sich jetzt wegen Drogen und Geld gegenseitig um.

      Eines Tages kam meine Schwester heim. Als ich sie an der Tür hörte, öffnete ich. Sobald die Tür aufging, versetzte sie mir einen Fausthieb mitten ins Gesicht.

      „Warum hast du das getan?“

      „Warum hast du mir denn nicht gesagt, dass Mommy gestorben ist“, schluchzte sie.

      Ich wagte nicht zu sagen, dass ich nicht mehr in der Klinik war, denn sie hätte mich umgebracht. Es war zu schmerzhaft, weil Mom nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen war. Also sagte ich: „Nun, ich wollte dir nicht weh tun.“ Ich war zu schwach, um das zu verkraften. Meine Schwester war die Stärkste in der Familie. Sie konnte gut mit Tragödien umgehen. Ich schaffte es nicht einmal, mich von Moms Leichnam zu verabschieden. Mein Cousin Eric begleitete meine Schwester.

      Die Beerdigung meiner Mom war erbärmlich. Sie hatte etwas Geld gespart für ein Grab in Linden, New Jersey. Nur acht Personen nahmen an der Beerdigung teil – ich, mein Bruder und meine Schwester, mein Vater Jimmy, ihr Freund Eddie und drei Freundinnen meiner Mutter. Ich trug einen Anzug, den ich von gestohlenem Geld gekauft hatte. Wir konnten uns lediglich einen schmalen Pappkartonsarg leisten, für einen Grabstein hatten wir kein Geld. Vor ihrem Grab sagte ich: „Mom, ich verspreche dir, ein guter Mensch zu werden. Ich bin auf dem Weg, der beste Boxer aller Zeiten zu werden, und alle Welt wird meinen Namen kennen. Wenn man Tyson hört, dann denkt man nicht an Tyson Foods oder an die Schauspielerin Cicely Tyson, sondern an Mike Tyson.“ Das hatte mir Cus über unseren Familiennamen erzählt. Bis dahin hatten wir mit Ruhm nur insofern zu tun, dass wir denselben Nachnamen hatten wie Cicely. Meine Mutter mochte Cicely Tyson.

      Nach der Beerdigung blieb ich ein paar Wochen in Brownsville und pumpte mich mit Drogen voll. Eines Abends sah ich meine Freunde wieder, mit denen ich ein paar Abende zuvor gewürfelt hatte. Sie verhielten sich recht eigenartig und erzählten mir, dass Barkim umgebracht worden war.

      „Nun, man hat ihn erwischt“, erzählte mir einer von ihnen. „Ich dachte, man hätte dich ebenfalls erwischt, denn als ich dich das letzte Mal gesehen hatte, warst du mit ihm unterwegs, und seitdem habe ich dich nicht mehr gesehen.“

      Barkims Tod ging mir unter die Haut. Er hatte mich als seinen Sohn ausgegeben und in die Welt der Raubzüge eingeführt. Aber er hatte mich auch beschworen, diese Welt hinter mir zu lassen und zu meiner weißen Familie zurückzukehren. Und nicht nur er sagte das. Alle meine Freunde hier setzten große Hoffnungen auf Cus und mich. Cus eröffnete mir Chancen.

      „Mike, halte dich an den weißen Mann. Wir sind nichts, komm nicht mehr zurück. Ich will keinen Bullshit-Nigga hören. Du bist die einzige Hoffnung, die wir haben. Wir werden nirgendwohin gehen, Mike, sondern hier in Brownsville abkratzen. Bevor das passiert, müssen wir aller Welt verkünden, dass wir mit dir zusammen waren und du unser Nigga warst.“

      Wohin ich auch ging, immer hörte ich Ähnliches. Man nahm das sehr ernst. Für meine Freunde war Brownsville die pure Hölle. Alle wünschten sich, abhauen zu können wie ich. Sie konnten nicht verstehen, warum ich zurückkommen wollte, aber ich kam zurück, um herauszufinden, wer ich wirklich war. Meine beiden Leben waren total unterschiedlich, aber ich fühlte mich aus verschiedenen Gründen in beiden Welten zu Hause.

      Eines Tages klopfte es an der Tür. Es war Mrs. Coleman, meine Sozialarbeiterin. Sie war gekommen, damit ich meinen schwarzen Arsch wieder nach Catskill bewegte und nicht mehr Leute ausraubte und in Wohnungen einbrach. Mrs. Coleman war eine wirklich nette Dame, die zwei Stunden lang gefahren war, um von Catskill zu mir zu gelangen. Sie stand ganz auf Cus’ Seite und war der Ansicht, dass das Boxen mich auf den rechten Weg brächte. Doch ich erklärte ihr, dass ich nicht dorthin zurückkehren würde. Sie erwiderte, dass sie Papierkram für mich erledigen müsse und die Polizei mich in Gewahrsam nehmen und irgendwo in New York unterbringen würde, wenn ich in Brooklyn bleiben wolle. Damals war ich 16, also wusste ich, dass das Bullshit war. Vom Gesetz her brauchte ich niemanden mehr. Aber ich ging mit ihr zurück nach Catskill. Ich blickte mich ein letztes Mal in der Wohnung um, sah, dass meine Mutter in Armut und Chaos gelebt hatte und jämmerlich gestorben war, und das veränderte meinen Blick darauf, wie ich mein Leben verbringen wollte, grundlegend. Auch wenn mein Leben kurz sein würde, so sollte es doch wenigstens ruhmreich sein.

      Als ich wieder in Catskill war, half mir Cus dabei, über den Tod meiner Mutter hinwegzukommen. Er erzählte mir von dem Todestag seines Vaters. Cus war mit ihm zu Hause gewesen, und sein Vater hatte vor Schmerzen geschrien, aber Cus konnte ihm nicht helfen, weil er nicht wusste, was er tun sollte. Cus half mir, meine Stärke zurückzugewinnen.

      Damals gab es einen südafrikanischen Boxer, Charlie Weir, der einer der heißesten Anwärter auf den Titel im Junior-Mittelgewicht war. Er und sein Team kamen nach Catskill, um mit Cus zu trainieren. Damals herrschte in Südafrika noch Apartheid, und Cus erzählte ihnen: „Wir haben einen schwarzen Jungen hier, er gehört zur Familie. Behandelt ihn respektvoll, so wie ihr mich und Camille behandelt.“

      Das war ehrfurchtgebietend. Noch nie hatte sich jemand so für mich eingesetzt. Charlie und sein Team mussten dafür bezahlen, von Cus trainiert