Название | Coltrane |
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Автор произведения | Ben Ratliff |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | Hannibal-Jazz |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783854456384 |
Damit will ich sagen will, dass es bis 1989 so viele Zugangsmöglichkeiten zum Jazz gab, dass ich mich nicht unbedingt mit dem ernsthaftesten, unbequemsten, aber vielleicht auch notwendigsten Zugang befassen wollte: der Beschäftigung mit den Aufnahmen von John Coltrane. Ein Teil dieser Unlust rührte wohl davon, dass es mir inzwischen vollkommen unklar war, was ich von ihnen halten sollte. Sie wiesen einen Weg, aber war es ein Weg zu einer neuen Sprache oder einfach nur Unsinn?
Der Trompeter Wynton Marsalis, der künstlerische Leiter der Reihe Jazz at Lincoln Center, war ebenso wie seine Brüder Branford (der Saxofonist) und Delfayo (der Posaunist) sowie der Kritiker Stanley Crouch (der viele streitlustige Artikel über die drei verfasst hat) damals zu einem extrem kenntnisreichen Kulturkommentator geworden. Wynton hatte es sich zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, was in der gesamten Geschichte des Jazz gut und von Bedeutung war. Da er hier sozusagen als Chef einer Interessengruppe fungierte, sprach er sehr überzeugend davon, was im Jazz alles vergessen oder verloren gegangen war: der Vierviertelswing, Balladen, der konstruktive Wettbewerb, ein Sinn für Grenzen und Exklusivität. Er diskutierte gern, und stets ging es im Kern seiner Argumentation um die Verantwortung: Man konnte der Musik schaden oder ihr nutzen (und zwar nicht nur dem Jazz, sondern damit auch der gesamten amerikanischen Kultur). Er sprach über Jazz, als wäre er ein Patient auf dem OP-Tisch. Er verordnete die notwendigen Maßnahmen, die Musiker ergreifen sollten, wenn sie denn wollten, dass der Jazz eine Überlebenschance hatte.
Plötzlich konnte Coltranes Lebenswerk, das sich immer mehr in Richtung Nicht-Swing, Nicht-Balladen, Nicht-Wettbewerb und grenzenlose Stilanleihen bewegt hatte, gefährlich erscheinen. Dies ließ jedoch eine Tatsache unberührt: Wenn man es ertrug, das Stück „Spiritual“ oder den Rest von Live A The Village Vanguard zu hören und dabei wirklich genau hinhörte, erschienen beide Positionen unhaltbar und von außenstehenden Parteien aufgezwungen, die damit einen bestimmten Zweck verfolgten. Eine Platte wie diese deutete darauf hin, dass der Gemeinschaftsraum des Jazz paradoxerweise gleichzeitig auch sein dunkelster und geheimnisvollster Ort war.
Das rhetorische Umfeld des Jazz hat sich seit Coltranes Tagen stark verändert. Die Auffassung, Jazz sei die Begleitmusik zur Befreiung der Unterdrückten und durch und durch radikal, findet sich in den meisten ernsthaften Diskussionen zum Thema Jazz heute nicht mehr. Dies gilt inzwischen als eine Philosophie der damaligen Zeit, die man mit den Sechzigern und frühen Siebzigern assoziiert.
Die beste Jazzmusik (und die beste Jazzkritik) hat der Auffassung Platz gemacht, dass die Bedeutung dieser Musik nicht von aufgepfropften politischen oder intellektuellen Konzepten abhängt. Man akzeptiert, dass sie sich langsam aber stetig weiterentwickelt und dabei immer wieder um sich selbst kreist, um sich selbst besser zu verstehen und zu verfeinern. Neue Strukturen und neue Genres sind nicht unbedingt das, wonach wir suchen. Uns geht es um den individuellen Ausdruck des Musikers: Halte die Vergangenheit in Ehren, aber sei du selbst. Wenn ein wirklich individueller Ausdruck in einer vertraut klingenden Verpackung daherkommt, sollte das seinen Wert nicht schmälern.
Was aber ist mit dem Hippiemythos, in dem der Jazz für alle Zeit als die „Musik von morgen“ festgeschrieben ist, als Ergebnis eines radikalen Prozesses? Die strukturellen Innovationen des Jazz kamen nach Coltrane ziemlich abrupt ins Stocken. Die den Jazz umgebende Rhetorik jedoch setzte ihre Reise immer weiter fort, abgekoppelt von ihrem Kontext, wie ein Reiter, der kopfüber von einem Pferd abgeworfen wurde. Es ist eine Art von Zukunftsbeschwörung, wie man sie besonders von jungen Musikern und all jenen hört, die sich für die verschiedenen extravaganten Freejazzkulturen rund um den Globus begeistern. Es wäre leicht zu sagen, dass dies damit zusammenhängt, dass Coltrane so früh und unerwartet an Leberkrebs starb. Er war gerade vierzig, und nicht einmal jene, die ihm nahe standen, wussten, wie krank er war. Er starb als eine Art Märtyrer, als ein Seher – und für all jene, die das so sehen, muss wohl in der Tat alles, was irgendwie von Coltrane stammt, heilig und in gewisser Weise unantastbar wahr sein.
Aber das wäre immer noch zu eng gefasst. Wenn wir Coltrane als Triebfeder für den gesamten Jazz betrachten, der nach ihm kam (sowohl im weiten Feld des Mainstreamjazz als auch in seinen abstrakten, abgelegenen Bereichen), dann müssen wir wohl die Antwort in seinen letzten zehn Lebensjahren suchen, nicht nur in seinem Ende.
Niemand im Jazz ist innerhalb einer so kurzen Zeitspanne in einem messbaren, linearen Sinne weiter und wirkungsvoller gereist als Coltrane. Miles Davis ist der berühmteste Veränderer der Paradigmen des Jazz, doch die Umgestaltung seiner Musik alle fünf Jahre hat viel mit seinem unermüdlichen Ehrgeiz und seiner Selbsteinschätzung zu tun. Seine Veränderungen zu verstehen, war leichter, da Davis sein persönliches Umfeld und sein Publikum schockieren und herausfordern wollte. Bei Coltrane indes schien der Antrieb zur Veränderung mehr von innen heraus zu kommen.
Soviel jedenfalls scheint sicher: Hätte Coltrane seine Musik klar und verständlich weiter entwickelt und dabei die Straße hinter sich wie auch den Weg vor sich im Blick behalten (wie er es auf beispielhafte Weise von 1957 bis, sagen wir, Transition im Jahr 1965 getan hat), dann hätte dieser Fortschritt tiefe und praktische Konsequenzen für den Jazz gehabt. Stattdessen jedoch vergrub er sich in seinen letzten zweieinhalb Jahren in sich selbst. Man konnte dorthin vordringen, wenn man wollte. Dabei musste man jedoch entweder einige grundlegende musikalische Konzepte über Bord werfen oder sich damit abfinden, einer unmäßigen Vorstellung von Perfektion zu begegnen, von der man sich später vielleicht lieber wieder distanzierte. Alben wie Interstellar Regions oder Live In Seattle, die aus dieser späten Periode nach Transition stammen, sind Ausdruck einer alles dominierenden Egozentrik. Sie drücken aus, was der Dichter Robert Lowell, ein Zeitgenosse von Coltrane, einmal als „die Monotonie des Erhabenen“ bezeichnet hat. Lowell stammte jedoch aus einer Bostoner Brahmanen-Familie: Er lebte in einer historisch strikt definierten Welt. Coltrane indes war ganz offensichtlich auf der Suche nach einer Musik abseits der Geschichte. Angesichts solcher Bestrebungen versagt in der Regel die herkömmliche Kritik. Man akzeptiert es entweder nicht nur als Musik, sondern als eine Art ästhetischer Philosophie, oder man hört es einmal und sagt „nie wieder“.
Wer in den Bahnen des traditionellen westlichen Rationalismus denkt, dem kann es so vorkommen, als wäre Coltrane 1965 in eine böse Falle geraten – eine historisch relevante Falle zwar, aber nichtsdestotrotz eine Falle; die Falle eines Zeitalters, in dem Platten und Konzerte nur insoweit von Bedeutung erscheinen, als sie mit den vielen anderen Dingen zusammenfallen, die um sie herum passieren. Unter diesen „Dingen“ befanden sich: die Weltmeisterschaft im Boxen, die der erfolgreiche Titelverteidiger Muhammad Ali gewann, woraufhin er zu einem neuen Kulturheld wurde; die afrikanische Unabhängigkeitsbewegung (während Coltranes Lebensspanne wurden in Afrika sechsunddreißig unabhängige Republiken gegründet, beinahe alle in seinen letzten zehn Lebensjahren); das Entstehen eines neuen Bewusstseins für schwarzes Kulturerbe in diesen Gebieten und anderen ehemaligen Kolonien mit schwarzer Bevölkerung und schließlich der Niedergang des amerikanischen Sozial- und Schulsystems, der mit einem Siegeszug billiger Straßendrogen in den Jahren nach dem Attentat auf Malcolm X im Audubon Ballroom einher ging. Und doch – selbst wenn man all dies verinnerlicht hat, selbst wenn man sogar alles miterlebt hat, möchte man vielleicht trotzdem vor der Strenge und Härte der Musik die Augen verschließen.
In seinen letzten drei Jahren zeigte Coltrane einen neuen Weg auf, über Musik zu denken, der kein Weg für jedermann war. Das typische Beispiel dafür, wie sich Coltranes Publikum von ihm abwendet, stammt aus dem Jahr 1966, als sein Quintett im Soldier Field in Chicago spielte. Die Musik war hart und aggressiv, und ein guter Teil des Publikums verließ während des Auftritts den Saal – und das geschah einem Mann, der es gewohnt war, dass ihm das Publikum in den Jazzclubs die Bude einrannte. Wenn man Coltranes Bedeutung erfassen will, stolpert man zuweilen über seltsame Tatsachen: Seine Auftritte in Detroit 1961, im Augenblick seines größten nationalen Erfolgs, waren nur dünn besucht, wohingegen seine letzten Konzerte im Olatunji Center of African Culture in Harlem, als seine neueste Musik kreischte, pulsierte und so schwer zugänglich wie nie zuvor war, dreitausend Menschen anzogen. Wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass Coltrane in seiner späten „freien“ Phase mit dem, was er hatte, weiterarbeitete, und die Instinkte seiner Gegenwart mit dem Handwerkszeug seiner Vergangenheit verband. Er kam nicht mehr