Mein großes Geheimnis. Buzz Bissinger

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Название Mein großes Geheimnis
Автор произведения Buzz Bissinger
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия Fernsehen
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854456377



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Sportler geboren wurden. Sicher, ich gewann gerne, aber ich war nicht nur auf Wettbewerb gepolt. Eine gewisse Unbeschwertheit blieb mir, sogar so sehr, dass ich nach dem Sieg im landesweiten Leichtathletik-Wettbewerb vergaß, meine Sportschuhe zu einem Fototermin der Lokalzeitung mitzubringen, sodass ich in Halbschuhen zwischen den anderen Athleten stand.

      Nein, ich war wirklich nicht der Typ, dem eine große Sportlerkarriere vorherbestimmt war. Allerdings hatte ich Selbstdisziplin. Und ich konnte Dinge ausblenden, beispielsweise das Gender-Problem. Es war zwar unterschwellig immer da, aber in der High School hatte ich die Lage recht gut im Griff. Ja gut, wenn sich die Möglichkeit sich bot, zog ich immer noch Frauenkleider an. Aber das ergab sich nicht mehr so häufig. Da mir Moms Sachen inzwischen viel zu klein waren, ging ich jetzt an Pams Kleiderschrank. Ich bewunderte Frauen, und gleichzeitig war ich neidisch auf sie – nicht auf ihr Aussehen an sich, sondern darauf, wie sie in ihrem Frausein ruhten und mit sich eins waren, wo ich doch wusste, dass ich dieses Gefühl nie kennenlernen würde. Mit Männern war das genauso, auch sie waren zufrieden mit sich, auf eine Art, die ich niemals spüren würde. Mir kam es so vor, als hätte ich gar kein Geschlecht, als sei ich in der schlimmsten Position überhaupt gefangen – zwischen allen Stühlen.

      Ella, die später auch regelmäßig in I Am Cait zu sehen war, hat andere Erfahrungen in ihrer High-School-Zeit gemacht. Sie hatte nie versucht, sich anzupassen, oder darauf geachtet, nicht aufzufallen. Sie färbte sich das Haar lila. Sie trug manchmal Kleider. Sie machte von Anfang an deutlich, dass sie ihre männliche Haut abstreifte. Sie feierte sich selbst, egal, was die anderen Schüler dachten.

      Ihre Furchtlosigkeit habe ich immer unglaublich bewundert. Sie hat ihre wahre Gender-Identität nicht als Fluch, sondern als Segen und Befreiung verstanden. Manchmal frage ich mich, wieso ich das nicht auch getan habe, warum ich auf der High School nicht auch einfach gesagt habe, Scheiß drauf, ich mache mein Ding. Es gab dafür natürlich Gründe – die Zeiten waren anders, und nicht nur in meiner unmittelbaren Umgebung, sondern in ganz Amerika war die Gesellschaft sehr konservativ. Man hätte mich zu Seelenklempnern geschickt, die noch immer glaubten, dass es sich bei Genderdysphorie genau wie bei Homosexualität um eine Krankheit handele, die man mit barbarischen Methoden heilen könne, indem man den „Patienten“ mit Elektroschocks behandelt oder ihn dazu bringt, sich zu übergeben, während er sich homoerotische Bilder ansieht. Sicher hätte ich keinen Leistungssport mehr treiben dürfen. Wahrscheinlich hätte man mich auch von der Schule verwiesen. Aber vielleicht gab es davon abgesehen noch einen anderen, entscheidenderen Grund.

      Ich hatte einfach nicht den Mut. Deswegen habe ich so lange gebraucht.

      Ich wollte einfach nur dazugehören.

      Als mein Schulabschluss näher rückte, wusste ich immer noch nicht wirklich, was ich einmal machen wollte, außer erst einmal zu studieren – unter anderem, weil das bedeutete, dass ich vom Kriegsdienst in Vietnam zurückgestellt würde. Obwohl ich in den fünf Semestern an der Newtown High in allen Sportarten, in denen ich dort aktiv war (Basketball, Football und Leichtathletik), immer wieder als herausragender Spieler ausgezeichnet wurde, rissen sich die Colleges nicht um mich.

      Nur das Graceland College in Lamoni, Iowa, zeigte echtes Interesse. Ich wiederum fand Graceland nicht so prickelnd. Von Iowa wusste ich nur, dass die Winter dort kalt und die Landschaft flach sein sollen. Die Schule stand in enger Verbindung mit der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, heute bekannt als Gemeinschaft Christi. Auch über sie wusste ich nicht viel, außer, dass sie es mit der Religion verdammt ernst meinte.

      Bis dahin war ich noch nie weiter im Westen gewesen als in Ohio. Und ich war auch erst einmal in meinem Leben geflogen. New York City erschien mir noch so weit weg wie die dunkle Seite des Mondes. Mit den Hippies hatte ich nichts am Hut, ich war so obrigkeitshörig und konservativ wie meine Eltern. Mein Plan sah daher zunächst vor, weiter daheim zu wohnen, um die Kosten gering zu halten, mir ein Junior College in der Nähe zu suchen, um meine Zensuren zu verbessern, schließlich einen vierjährigen Studiengang anzufangen und am Wochenende für die Baumschnitt-Firma meines Vaters zu arbeiten, um mir ein bisschen was nebenbei zu verdienen. Eigentlich hatte ich gar kein richtiges Ziel. Vielleicht war technisches Zeichnen was für mich. Ich wusste es einfach nicht so recht.

      Als ich am ersten Tag von meinem Junior College zurückkam, erhielt ich einen Anruf.

      „Hallo?“

      „Können Sie morgen hier sein und für uns Football spielen?“

      „Wer ist denn dran?“

      „L.D. Weldon. Ich bin Trainer am Graceland College.“

      „Äh … ich weiß nicht.“

      „Wissen Sie, eigentlich hatten wir einen Quarterback von einem Junior College angeheuert, aber der kommt nicht auf die erforderliche Punktzahl für seinen Abschluss und steht uns daher nicht zur Verfügung. Wir haben nur noch einen Quarterback auf der Reservebank, also brauchen wir noch jemand anderen.“

      „Okay.“ Football machte mir immer noch Spaß. „Rufen Sie mich doch morgen noch einmal an, dann sage ich Ihnen, ob es klappt.“

      Am Abend sprach ich mit meinen Eltern. Sie konnten es sich nicht leisten, mich aufs College zu schicken, also ging ich am nächsten Tag zur Bank und beantragte einen Ausbildungskredit, da das Stipendium nicht alle Kosten abdeckte. Als Weldon mich anrief, teilte ich ihm meine Entscheidung mit.

      „Okay, dann bin ich morgen da.“

      Er legte auf.

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      Mein erster öffentlicher Auftritt als Caitlyn findet in Los Angeles statt. Das weiße Abendkleid, das ich trage, ist maßgeschneidert von Donatella Versace. Zwar habe ich sie nicht persönlich kennengelernt, aber sie hat mehrere Male ein paar Mitarbeiterinnen zu mir geschickt, um sicherzustellen, dass es genau passt. Nur eine von ihnen spricht Englisch, aber eins habe ich in Keeping Up With The Kardashians gelernt: Die Sprache der Mode ist universell.

      Ich möchte schön und umwerfend aussehen. Nein: Ich muss schön und umwerfend aussehen. Wenn ich auf die Bühne gehe und das nicht tue, dann wird hinter meinem Rücken noch gehässiger über mich geredet, als das sonst schon der Fall ist. Falls jemand wissen will, wie sich gnadenloser Spott anfühlt oder welchen Einfluss so etwas auf das Leben hat, wenn das eigene Selbstbild ohnehin schon schwer durcheinander geraten ist, dann muss man nur einen Schwarm Paparazzi anheuern, damit sie einen zehn Jahre lang von morgens bis abends verfolgen.

      Lange Kleider sind ziemlich tückisch, wenn man das Tragen nicht gewöhnt ist. Womöglich tritt man auf den Saum und stürzt. Glücklicherweise habe ich mich für ein paar Schuhe mit niedrigem Absatz entschieden, um das Risiko zu verringern. Da man meine Füße sowieso nicht sieht, hätte ich vielleicht am besten sogar meine alten Kugelstoßer-Schuhe anziehen sollen.

      Bitte, lieber Gott, du hast mir sowieso schon ein ziemlich verwirrendes Leben gegeben.

      Bitte, lieber Gott, lass mich bloß nicht stolpern.

      Ich kann an nichts anderes denken, während ich darauf warte, das kleine Treppchen zur Bühne des Microsoft Theaters in Los Angeles hinaufzugehen, um dort einen der renommiertesten Preise der Sportwelt in Empfang zu nehmen.

      Wenn ich stolpere, wird das Foto davon größere Bekanntheit erlangen als das von Annie Leibovitz, die mich vor eineinhalb Monaten in einem cremefarbenen Mieder für das Cover von Vanity Fair abgelichtet hat. So möchte ich einfach nicht in Erinnerung bleiben. Diese Genugtuung will ich den Paparazzi nicht geben. Das würde einen Wirbelsturm in den sozialen Medien auslösen.

      Außerdem habe ich eine Menge zu sagen. Für mich ist es ein ganz wichtiger Augenblick, vielleicht der wichtigste in meinem Leben, sieht man von der Geburt meiner Kinder ab. Der letzte Tag des Zehnkampfs in Montreal, als sich entschied, ob ich entweder die Goldmedaille gewinnen oder als Nichts und ohne Gold nach Hause zurückkehren würde, ohne etwas für die zwölf Jahre harten Trainings vorweisen zu können, verblasst im Vergleich. Das hier ist mein Leben, kein Sport­ereignis.

      Die Trans-Community hat mit