Reformierte Theologie weltweit. Группа авторов

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Название Reformierte Theologie weltweit
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783290177355



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angesehen ist, es ist aber das, was im Begriff der Tradition enthalten ist. Will man heutzutage die reformierte Tradition aufrechterhalten, dann bedeutet dies Achtung |51| vor den Aposteln und Kirchenvätern. Dieses Kennzeichen zeigt an, dass wir etwas empfangen haben. Es macht bescheiden, wir sind nicht besser als unsere Vorväter (vgl. 1Kön 19,4). Achtung vor der Tradition bedeutet jedoch nicht nur Achtung vor dem, was in historischen Büchern steht. Die richtige Achtung entsteht erst dann, wenn man sich auch zu den Ausagen verhält, mit ihnen in ein Gespräch eintritt. Dieses Kennzeichen ist zudem eine Aufforderung, nicht nur die neuesten Bücher im Blick zu haben und zu lesen, sondern auch die alten Quellen. Es gibt keine wirkliche Achtung vor einem Theologen wie zum Beispiel Karl Barth, wenn man dessen Quellen nicht auch gelesen hat. Wenn wir diese Achtung vor den alten Quellen verlieren, können wir laut Gerrish «genausogut zumachen und die Gebäude jemandem verkaufen, der sie sinnvoller verwenden kann».8

      2. Das zweite von Gerrish erwähnte Kennzeichen ist die kritische Hal­tung gegenüber der theologischen Erbschaft der Vergangenheit. Dies ist für den Reformierten genauso wesentlich wie die Achtung. Es gilt «zu­gleich ehrfürchtig und kritisch zu sein!»9 Dass gerade hierbei Spannungen auftreten, merke man beispielsweise bei Calvin. Einerseits wurde er, Gerrish, inspiriert durch Calvins Vision der väterlichen Güte Gottes, andererseits stört er sich an Calvins «angeekelter Rede über die conditio humana».10 Im Umgang mit der Tradition ist es schwer, sich dem Spannungsfeld zwischen Anziehung und Abstossung zu entziehen. Da­r­um ist es so wichtig, das richtige Gespräch mit der Tradition zu lernen: Wir sollen sie nicht ignorieren, sie aber auch nicht nur passiv aufnehmen. Lerne dich zur Tradition zu verhalten! Calvin selbst hat es uns vorge­macht. Er schreibt einem katholischen Gegner (Pighius): «Wir arbeiten Tag und Nacht daran, die Tradition nicht nur auf das Treueste zu bewah­ren, sondern sie auch in die bestmögliche Form zu überführen.»11 Ohne Kritik an der Tradition hätte es keine Reformation der Kirche gegeben. Jetzt gibt es eine reformierte Tradition, aber diese kann nicht ohne konti­nuierliche Selbstkritik fortbestehen. Darum gilt: ecclesia reformata semper reformanda. Das ist nach Gerrish eine Geisteshaltung und kein leeres Motto. Sonst reduzieren wir die lebendige Tradition auf die beschränkten Grenzen unserer Lieblingsthemen. |52|

      3. Das dritte Kennzeichen einer reformierten Geisteshaltung ist die Offenheit: Offen zu sein für Weisheit und Einsicht, wo immer sie gefunden werden können. Sich gute Gedanken zu leihen, ist kein Problem. Calvin selbst stützte sich neben Luther auch auf die Humanisten. Gott säe auch bei weltlichen Autoren Einsichten, schreibt Calvin in sei­nem Kommentar zu Joh 4,36.12 Er schreibt nicht nur sein erstes Buch über den römischen Philosophen Seneca, sondern liest auch weiterhin seine klassischen Autoren, trotz der turbulenten 40er Jahre des 16. Jahrhunderts in Genf. Es gehört zur reformierten Haltung, Offenheit dem Weltlichen gegenüber zu lernen und zu zeigen. Theologische Bildung darf in der reformierten Tradition per definitionem keine Insel inmitten anderer Wis­senschaften sein.

      4. Das vierte Kennzeichen der reformierten Geisteshaltung ist Gerrish zufolge ihre Zuwendung zur Praxis, ihre Ausrichtung auf Öffentlichkeit. Theologische Wahrheit ist grundsätzlich mit guten Werken verbunden. Die guten Werke des theologischen Geistes sind nicht nur wahre Ge­dan­ken, Gerrish bezeichnet sie als «wohldurchdachte Handlungen».13 Das impliziert, dass die Erkenntnis Gottes sowohl auf persönliche als auch soziale Verände­rung zielt. Anders als Luther, für den Reformation Predigt des Wortes Gottes bedeutet, sieht Calvin Reformation als die Pflicht, nicht nur zu verkündigen, sondern jeden Bereich des öffentlichen Lebens zu reformie­ren. Theologische Bildung gemäss der reformierten Tradition hat diese Haltung zu fördern, wenn sie sich selbst treu bleiben will.

      5. Das fünfte und letzte der von Gerrish vorgestellten Kennzeichen ist ein klassisches: Diener des Wortes Gottes zu sein. Gerrish beruft sich auf die historische Bezeichung der reformierten Kirchen: Die reformierten Kir­chen sind nach dem Wort Gottes reformiert. Im reformierten Bewusstsein gab es immer etwas von einem prophetischen Gefühl, dass man wie Jeremia unter dem Wort des Herrn steht (vgl. Jer 20,9). Das Wichtigste, das nach Gerrish über das Wort Gottes zu sagen ist, ist, dass Gottes Wort kommt. Es ist nicht etwas, das wir entdecken oder worüber wir lesen oder uns entscheiden zu lesen. Es kommt, auch wenn wir nicht hören oder nicht hören wollen. Was ist dieses Wort? Es ist die gute Nachricht, dass das Wort Fleisch geworden ist. Das bringt eine Notwendigkeit mit sich, |53| dies auch zu predigen: «Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht ver­kündige!» (1Kor 9,16). Dies, so formuliert Gerrish, ist das Herzstück der reformierten Geisteshaltung, wenngleich es nicht den Reformierten vor­behalten ist. Darum heissen Pfarrerinnen und Pfarrer Verbi Divini Ministra/Minister, Dienerinnen und Diener am Wort Gottes. Diese Hal­tung des Die­nens bewirkt, dass die reformierte Geisteshaltung gleichzeit­lich re­spek­tvoll und selbstkritisch sein kann. Tradition ist, mit Calvin ge­sprochen, nichts anderes als ein Weiterreichen des Wortes Gottes.14

      3. Zum Hintergrund von Noordmans' Denken

      Anhand von Gerrishs fünf Kennzeichen werde ich nun ein Porträt von Noordmans zeichnen. Dabei werde ich Noordmans᾿ Gespräch mit Barth und dessen Theologie ins Spiel bringen, um so dem Eigenen von Noord­mans als reformiertem Theologen im Kontext der Dialektischen Theologie Kontur zu geben.

      Zuerst einige einleitende Bemerkungen zu Noordmans᾿ Hintergrund. Ein halbes Jahrhundert lang, zwischen 1906 und 1956, leistete dieser Theo­loge seinen Beitrag zur Erneuerung der niederländischen reformier­ten Theo­logie mittels der Publikation von Büchern, Artikeln und vielen Gele­genheitsschriften, die in den elf Bänden der Gesamten Werke ge­sam­melt sind.15 Er blieb sein ganzes Leben Dorfpfarrer und entging mehrmals einer Ernennung zum Professor. 1935 bekam Noord­mans ein Ehren­dok­­­to­­rat der Universität Groningen. Sein wissenschaftliches Ansehen war gross. Viele Theologen betrachteten diesen Dorfpfarrer als ihren Lehr­meis­ter, so zum Beispiel Kornelis Miskotte, der Dogmatik an der Uni­ver­­­­­sität Leiden lehrte. Dessen Nachfolger, Hendrikus Berkhof, hat Noord­mans als den genialsten nie­derländischen Theologen des 20. Jahr­­­hunderts bezeichnet. Noordmans wird besonders als ein «Theologe des Heili­gen Geistes» angesehen. Er formulierte seine theologische Theorie als Pneu­ma­tologie, d. h. sein Den­ken war geprägt von der Aufmerk­­sam­keit für das Wirken des Geistes, durch welches die ganze Heilswahrheit, auch das Erlösungswerk Christi, eine innerliche, lebensumfassende Erfahrung wird.

      Oepke Noordmans stammt aus einem reformierten Milieu in Fries­land, Nord-Niederlande, und wurde später ein Repräsentant dessen, was |54| man in den Niederlanden als «Ethische Theologie» bezeichnete, eine moderne Variante der reformierten Theologie (deren Begründer im 19. Jahrhundert Daniel Chantepie de la Saussaye und Johannes Hermanus Gunning waren).16 Diese theologische Richtung war mit der deutschen Vermittlungstheologie verwandt (allerdings stärker orthodox geprägt) und suchte eine Synthese von Kultur und Christentum, ausgehend von der Inkarnation, dem Grundgedanken, dass in Jesus Christus das Wort wirklich Fleisch, also Kultur und Geschichte, geworden ist. Die Ethische Theologie stellte sich damit gegen den Intellektualismus des neocalvi­nistischen Offenbarungsglaubens von Abraham Kuyper und den libera­len Subjektivismus der sogenannten «vrijzinnigen» (Karel Hendrik Roes­singh u. a.). Das typisch Reformierte sahen die Ethischen Theologen in der Er­kenntnislehre, in der Betonung des Persönlichen im Erkennen der bibli­schen Wahrheit. Diese personalistische Erkenntnislehre hat ihren Aus­gangspunkt nicht in einem Prinzip oder einem abstrakten Begriff, sondern im persönlichen Wort, das in Jesus gehört wird und nach Ant­wort verlangt. Die Ethische Theologie legte Nachdruck auf die Bildung des Menschen zu einer «religiösen Persönlichkeit» als Zugangsweg zu Gott. Anders als die verwandte Strömung des Neocalvinismus war die Ethi­sche Theologie weniger scholastisch und suchte stärker danach, in wel­cher Weise biblische Wahrheit das Leben in Bewegung bringt.

      In der Entwicklung von Noordmans᾿ Theologie spiegelt sich sein Ver­ständnis der Zeit, in der er lebt. Die tiefgreifenden Ereignisse in den ers­ten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts wie die Erschütterung durch den Ersten Weltkrieg und die russischen Revolution, die Arbeitslosigkeit und die prekären sozialen Umstände der Arbeiter in Europa, das alles brachte Noordmans dazu, seine ethisch-theologische Position neu zu durchdenken. Er erkannte, dass eine bedrohte Humanität einer adäquate­ren theologischen Durchdringung bedarf, als dies die Ethische Theolo­gie mit ihrem Interesse für die religiöse Persönlichkeit leisten konnte.