Chimära mensura?. Группа авторов

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Название Chimära mensura?
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783864082399



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nachzukommen. Konsequent befahl ein Offizier der Grenztruppen die Tötung der Welpen.29 Obwohl das Kalkül der DDR-Grenzer am Ende siegte, bezeichnet Scherer Störfälle wie diesen als eine Form „zurückgewonnener Souveränität“, welche die Hunde dem „Laufleinendasein entgegensetzten.“30 Es lässt sich festhalten, dass im Totalitarismus des Grenzregimes die Kontrolle des Menschen über das Tier, das in diesem Fall nur als Werkzeug und Objekt wahrgenommen wurde, alles andere als total war.31 Die Bedürfnisse der Hunde brachen sich Bahn, störten den Grenzdienst und mussten schließlich sogar von der NVA berücksichtigt werden, zwangen sie zur Modifikation des Laufleinensystems. Um 1966 ersann ein Grenzsoldat namens Moldt eine spezielle Bestückungsweise des Systems, in dem zuvor ausgemusterte Diensthunde quasi wahllos nebeneinander eingesetzt worden waren. Moldt beobachtete die verschiedenen Charaktereigenschaften der Hunde von Apathie bis zur Aggressivität. Um die Hunde zur gewünschten Aktivität, dem Hin- und Herlaufen am Band zu reizen, überzeugte Moldt seine Vorgesetzten, ganz bewusst „den Wütenden neben den Gelangweilten oder Sanften“ zu stellen, wie er sich ausdrückte, damit die Hunde sich gegenseitig anstachelten und zur Aktivität reizten.32 So perfide dieses System auch war – es zeigte doch einen „Eigensinn“ der Grenzhunde, der im ersten Bereich, der scharfen, ausgebildeten und von Hundeführern geführten Fasshunde kaum sichtbar wird.33 Denn hier, wo nur die disziplinierten und intelligenten Tiere eingesetzt wurden, gab es nach dem Training kaum noch Zwischenfälle, in den Akten habe ich bis lang keinen einzigen Fall gefunden, bei dem etwa ein Hund sich gegen den Hundeführer wandte und ihn biss. Im Laufleinensystem dagegen, wo der ‚eugenische Ausschuss‘ angeleint wurde, waren Zwischenfälle die Regel. Die Napfsoldaten der Grenztruppen hielten sich fern von zahlreichen, ihnen als aggressiv bekannten Hunden – denn hier wo alles zum Einsatz kam, was nur entfernt nach Hund aussah, waren Bisse gang und gäbe. Für die NVA unangenehmer als diese im Grunde doch gewünschte Aggressivität waren jedoch Apathie und Phlegmatismus sowie ungeplante Schwangerschaft – beides hielt die Hunde am Platz: eine Form von Eigensinn, der sie im Alltag unbrauchbar machte für die Zwecke des SED-Staates. Die Hunde waren also einerseits Mittel zur Projektion totalitärer Gewalt, doch übten sie diese Funktion keinesfalls bruchlos aus, und keinesfalls war die biopolitische Kontrolle über den Hundekörper total. Die Tatsache, dass das gesamte Laufleinensystem zur Vermeidung von Phlegmatismus ab 1966 modifiziert und das Moldtsche System der Abstimmung von Hundetemperamenten integriert wurde, zeigt die Agency der Hunde selbst im Moment ihrer Totalentrechtung an der Laufleine. Nebenbei hatte das Laufleinensystem auch eine buchstäbliche Lücke: Durch die Begrenzung der „Reviere“ per Stahlseil wurden die jeweiligen Hunde streng voneinander getrennt, um Kontakte und Zwischenfälle zu vermeiden. Die biopolitische Kontrolle über das Tier erforderte einen Sicherheitsabstand von 50 cm – was wiederum einen unverzichtbaren Freiraum für Menschen ergab, wie ein Zeitzeuge beschreibt: „Es ergab sich also ein Steg, eine winzige Bewachungslücke … Der Flüchtende habe die Hunde zuerst nur das Drahtseil entlang rasen sehen. Da sie in ihrer Alarmiertheit jeweils bis zum Anschlag rasten und wieder zurück, habe der Flüchtende nach einer Weile den freien Steg ausmachen können. Näherte sich der Flüchtende dann dem Steg, was das Anrennen der Hunde in seine Richtung provozierte, habe er ein Stück Wurst nach beiden Seiten werfen müssen, damit ihn die Hunde in Frieden ziehen ließen.“34 Die Grenzanlagen lassen sich also ein biopolitisches Paradoxon beschreiben, gekennzeichnet durch eine widersprüchliche Unschärferelation von zwei Kontrollprinzipien: der Kontrolle von Tieren und der Kontrolle von Menschen. Beide Prinzipien waren eng miteinander verschränkt, wobei die Totalkontrolle der Hunde Fluchtmöglichkeiten für Menschen eröffnete. Eine Regulierung zugunsten einer Totalkontrolle der Menschen hätte wiederum den Freilauf der Wachhunde erfordert – und somit die Kontrolle über das Tier erschwert oder gar verunmöglicht. An diesem paradoxen Beispiel zeigen sich die Grenzen jener „Staatswerdung des Schäferhundes“, die ich als Eingangsthese postuliert habe. Durch die Eigenlogik der Tierwelt, durch Kontaktsuche, den Fortpflanzungstrieb oder auch die Verweigerung in der Langeweile waren der Verstaatlichung als Form biopolitischer Totalkontrolle Grenzen gesetzt. Diese Grenzen wirkten nicht nur im MenschTier Verhältnis, sondern auch im Verhältnis der Menschen untereinander, wie der Verweis auf die Bewachungslücken zeigt. Hier wird die zentrale Bedeutung der Human-animal Studies für die neuere Totalitarismusforschung klar, denn sie kann den Nachweis einer tierischen Eigenlogik, vielleicht sogar eines „Eigensinns“ im Sinne von Alf Lüdtke, die Grenzen des Totalen aufzeigen.35 Gerade im Sinnbild des DDR-Totalitarismus, den Grenzanlagen an der Mauer, zeigt sich diese Unmöglichkeit völliger Kontrolle über Tier und Mensch. Die Natur verlangt ihr Recht und widersetzt sich mit Wachstum, Fortpflanzung und Vermehrung dem zivilisatorischen Prinzip der Grenze, das durch Klarheit, Abgrenzung und Statik gekennzeichnet ist. Ein Beispiel für diesen Widerspruch ist nicht nur die paradoxe Dialektik der Grenzhunde, sondern auch der hilflose Versuch der DDR-Grenztruppen, die Anlagen vor Schädigungen durch Wildtiere zu schützen. Bei dem sogenannten ‚militärischen Wildabschuss‘ entlang der Grenze kam es regelmäßig zur regelrechten Orgien der Gewalt – Massentötungen von Rehen, Hasen, Dachsen und anderen Spezies, die in den menschenleeren Grenzräumen Zuflucht vor der industriellen Zersiedelung der Landschaft gesucht hatten. Die gewaltsamen Ausmerzungsbemühungen der NVA blieben jedoch eine Sisyphusarbeit: Immer neu regenerierten sich die Wildbestände im Grenzraum, heute ist der „eiserne Vorhang“ in vielen Regionen als Grüngürtel und Naturschutzgebiet erhalten – die Kontrolle der Natur schlug um in ihr Gegenteil.36 Die Hundegrenze der DDR blieb, wie wir wissen, nicht ewig – im Jahr 1990 wurde sie aufgelöst, die über 5000 Hunde in überwiegend westdeutsche Pflegefamilien gegeben. Gerade die Laufleinenhunde enttäuschten allerdings jene, die auf einen „scharfen Hund“ gehofft hatten durch ihre häufig ängstliche und menschenscheue Natur.37

       Die Hunde des Bundesgrenzschutz der BRD

      Weiterhin aktuell ist dagegen die Geschichte der Schäferhunde des Bundesgrenzschutzes, die sich bis heute in den Hundestaffeln der Bundespolizei fortsetzt – laut Polizeiangaben werden dort noch immer insgesamt 500 Diensthunde eingesetzt.38 Überwiegend, aber nicht ausschließlich handelt es sich um Deutsche Schäferhunde.39 Die Tiere werden in ihrer Mehrzahl als Drogensuchhunde, Sprengstoffsuchhunde oder Leichensuchhunde, aber auch als Wach- und Fasshunde zur Ergreifung Flüchtiger eingesetzt. Während die ersten Drogensuchhunde erst 1972 eingeführt wurden, haben die Wach- und Fasshunde eine längere Tradition, die in komplementärem Gegensatz zu den DDR Grenzhunden steht. Denn die Bundespolizei entstand 1951 als „Bundesgrenzschutz“, der vor allem an der innerdeutschen Grenze tätig war. Sie stand in der Nachfolge des im NS etablierten „Zollgrenzschutz“ von 1937.40 Die NS-Kontinuität, die für die DDR durch den Einsatz in KZs und sowjetischen Speziallagern bis hin zum Grenzschutz gegeben ist, kann auch für die Bundespolizei vermutet werden. Bisher ist es mir zwar nicht gelungen, durch Stammrollenvergleiche oder Lieferscheine von Zuchtbetrieben eine direkte Kontinuität der Zuchtlinie nachzuweisen. Trotz fehlender Quellenlage ist jedoch klar, dass durch die institutionelle NS-Kontinuität der Repressionsorgane in DDR und BRD eine Kontinuität zumindest in der Form ihrer Hundenutzung gegeben ist, in jener spezifischen Form von Mensch-Tier-Verhältnis, die ich als „Verstaatlichung des deutschen Schäferhundes“ bezeichnet habe. Die Hunde, als quasi abgeleitete Staatsorgane, mussten somit die staatliche Trennung Deutschlands durchsetzen und durchleiden. Um es konkret zu machen: Von den 34 getöteten Schäferhunden im Grenzbereich zwischen 1961 und 1989, die ich nachweisen konnte, starben neun in den Reihen des BGS, vier weitere im Dienst der Westberliner Schutzpolizei. Die häufigste Todesursache war Stacheldraht, wie im Fall des zitierten Schutzhundes „Rex“ aus Berlin, der sich am 14. August 1961 in den provisorischen Stacheldrahtrollen, dem Vorgänger der Mauer, verfing und von Ost-Berliner Grenztruppen erschossen wurde. Aus Berlin sind zwei weitere Fälle bekannt, bei einem Berliner Schäferhund ist die Todesursache im Jahr 1987 unklar. Meine These ist, dass mit der Professionalisierung der Grenzanlagen die Todesfälle abnahmen, weil die westdeutschen Hunde nach der Errichtung von geschlossen Betonsperren, der klassischen „Mauer“, gar nicht mehr in die eigentlichen Grenzanlagen vordrangen. Sie wurden nun hauptsächlich als Suchhunde an den Übergängen eingesetzt.41 Anders dagegen die Hunde der Berliner NVA-Grenztruppen: Hier gab es immer wieder Zwischenfälle und Verletzungen an Stacheldrahtanlagen, in zwei Fällen aus den Jahren 1964 und 1977 auch Todesfälle durch „friendly fire“