Название | Achtung Ahnen, ich komme! |
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Автор произведения | Alexander Schug |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783864081286 |
Wir aufgeklärten Europäer glauben heute daran, mit Bildung und Persönlichkeit unseren Lebensweg ganz autonom gehen zu können. Tatsächlich aber tragen auch wir ein emotionales Erbe mit uns. Denn unser Weg fängt dort an, wohin unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern vorangegangen sind. Sie haben uns den Weg geebnet und in eine Erinnerungslandschaft geboren. Manchmal allerdings ist der Weg felsig. Aufgewachsen sind wir mit den Erwartungen der Eltern an uns und dem, was wir als Vorbilder erkannt haben. Es ist die Summe vieler Faktoren, die in Ihrer Vergangenheit liegen und Sie beeinflussen. Sei es nun die Macht Ihrer Gene oder aber die emotionale, psychische Erbsubstanz eines kollektiven Gedächtnisses, das Ihr Lebensgefühl prägt: Der Vergangenheit entkommen Sie nicht. Glücklich ist, wer wie der ursprünglich aus Dresden stammende Schauspieler Jan Josef Liefers in seiner Autobiografie sagen kann: »Ich glaube, dass ich von allen meinen Familienmitgliedern das Beste abbekommen habe.«4
Profis der Historikerzunft lieben Archive, Daten, Fakten. Wenn sie erfolgreich arbeiten, tragen sie eine lange Ahnenreihe der Familie, am besten bis ins Mittelalter, zusammen. Auch wir zeigen Ihnen, wie Sie mithilfe der genealogischen Methoden den Überblick behalten und systematisch in frühere Epochen vorstoßen. Geburts-, Heirats- und Sterbedaten bilden das Gerüst. Aber war das schon alles über Ihre Familie? Darüber hinaus wird es doch erst interessant. Was Berufsgenealogen aber gar nicht mögen, sind Spekulationen. Dabei sind die oft viel mächtiger als die Wahrheit. In diesem Buch werden wir der Realität so weit nachgehen wie möglich und uns auch durch Mutmaßungen und Imagination inspirieren lassen. Denn Familiengeschichte besteht nicht nur aus Daten und Fakten, sondern umfasst viel mehr. Sentimentale, amüsante, sinnliche und auch schmerzliche Erfahrungen gehören dazu, so wie sie zum Leben gehören. Auch der Tod ist Teil unseres Lebens. Vielleicht haben Sie einen Menschen verloren, mit dem Sie sich mehr Zeit gewünscht hätten und überlegen nun, wie Sie die Erinnerung an den Verstorbenen wach halten können. Es gibt viele Möglichkeiten, die über die Grabpflege hinausgehen. Wir möchten Ihnen mit diesem Buch also auch eine neue Art von Erinnerungsarbeit vorstellen.
Vielleicht macht es Sie traurig, an Ihr Ende zu denken. Wenn es Sie bedrückt, dass Ihre Lieben dann ohne Sie leben müssen, können Sie etwas hinterlassen, das mehr ist als ein Gedenken Ihrer Person. Weiterleben in Form von einer Art Ahnen-Fortsetzungsgeschichte – dazu wollen wir Sie ebenso anleiten.
Keine Angst vor den Ahnen: Im Mittelalter wurden die verstorbenen Vorgänger gepfählt, um sie unschädlich zu machen. Denn Leichname würden sonst ihr Unwesen unter den Lebenden treiben und mit Vorliebe in der Nacht Schrecken verbreiten – glaubte man damals. Mit Steinen beschwert oder gefesselt sollten sie so entmachtet werden und ihre Schatten nicht mehr so weit in die Zukunft werfen. Schrecklich! Aber so müssen Sie mit Ihren Ahnen nicht verfahren. Wir haben die Idee, dass Sie Ihre Vorfahren zum Kaffeeklatsch laden – die Lebenden und auch die Toten. Nehmen Sie Letztere als natürlichen Teil Ihrer Existenz wahr. Lachen Sie Ihre Ahnen an und winken Sie zuweilen in die Vergangenheit. Von den Lebenden werden Sie über die Toten Dinge hören, die Ihnen lieber unbekannt geblieben wären. Verwandte werden Sie fragen, warum Sie in der Vergangenheit graben und in fröhlichen wie traurigen Kapiteln der Familiengeschichte wühlen. Jeder Therapeut kann Ihnen sagen, was viele Menschen mit Herzensbildung wissen: Wie gut das Darüber-Reden tut.
Jede Generation muss sich die Geschichte der Vorgänger neu erschließen und dabei neu formen, an ihre eigenen Fragen und ihre Lebenssituation anpassen. Sie werden erleben, wie Eltern und Großeltern im Gespräch Ihren Erwartungen gerecht werden wollen und die Vergangenheit immer wieder anders schildern, wenn beispielsweise die Enkel sie danach fragen. Seien Sie gewiss: Langweilig wird Familienforschung nicht. Denn Forscher wie Harald Welzer, die sich mit dem Familiengedächtnis beschäftigen, finden in den meisten Gesprächen über Vorfahren abenteuerliche Helden- oder Opfergeschichten.
Helden und Hugenotten, so in etwa sind die Vorstellungen vieler Menschen über ihre Ahnen. Entweder waren es mutige Widerstandskämpfer, die sich gegen die Machthaber gestellt haben, oder aber aufrichtige gute Menschen, die z. B. von den bösen Nazis verfolgt wurden. Die wenigsten Zeitgenossen damals waren tatsächlich so. Das heißt nicht, es würden nur Lügengeschichten erzählt. Es zeigt aber, dass die historische Wahrheit manchmal Interpretationssache ist. So können die Nachfahren am besten damit umgehen, dass sie oft von »ganz normalen Nazis« abstammen, wie eben der Großteil der Deutschen. Wir leiten Sie an, den Wahrheitsgehalt der Erzählungen nicht pauschal anzuzweifeln oder aufzugeben, sondern als eine »datengestützte Erfindung« zu betrachten und für Ihre Erforschungen zu nutzen. Wie Sie in solchen Situationen selbst einfühlsam, ehrlich, kreativ und ref lektiert mit den Vergangenheitsentwürfen Ihrer Verwandten umgehen, ist ein wichtiges Thema unserer Überlegungen. Spannend ist es ja vor allem zu erklären, weshalb bestimmte Interpretationen oder Heldenepen in die Familiengeschichte hineingeflochten werden. Oftmals sind Familiengeschichten selbst zugedachte Kompensationen des Erlebten. Viele bekommen so die Familiengeschichte, die sie gerade so ertragen können.
Wenn man so über die Jahrhunderte schaut und liest, was Menschen über ihre Vorfahren gedacht und geschrieben haben, war das oft von Ehrfurcht und Begeisterung für die Leistungen der Altvorderen geprägt. Das damals ganz normale, zugegeben oft mühevolle Leben f lößt uns Respekt ein, voller Mitgefühl informieren wir uns über Alltagsbedingungen. Und exotisch finden wir das auch. Die ersten Italienreisen im Opel Senator und die verwackelten, gelbstichigen Bilder dieser Generation rühren uns. Die Aufregung um die Pille halten wir für kaum mehr nachvollziehbar. Unseren eigenen Alltag beurteilen wir als weniger spannend und mit unseren Nachfahren, unseren Kindern nämlich, sind wir noch weniger einfühlsam. Typisch ist die Klage über Bildungsverfall, mangelnde Leistung, fehlendes Verantwortungsbewusstsein. Alles Meckereien, die Sie in Ihrer Jugend vielleicht als »langhaariger Gammler der 68er-Generation« gehört haben, vielleicht als Vertreter der »Null-Bock-Generation«. Wann auch immer ein neuer Trend unter jungen Erwachsenen sichtbar wird, sind die Älteren davon nicht begeistert und beschwören den Niedergang des Abendlandes.
Aber: Jede Generation hat ihre eigenen Herausforderungen. Wir wollen Sie durch unsere Reflexionen deshalb dazu anregen, den Generationen (und sich) mehr Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Das ist etwas anderes als Ehrfurcht. Es ist der Versuch, vergangene Zeiten und die damit zusammenhängenden Chancen und Nöte zu verstehen. Familienforschung braucht Empathie.
Und moderne Familienforschung ist auch auf die Zukunft gerichtet: Weil Ihre Ur-Ur-Ur-Urenkel wiederum ganz neue Fragen an Sie stellen werden, wollen wir in diesem Buch den Blick dafür schärfen, dass es eine sinnvolle, zuweilen lustige Aufgabe sein könnte, den Nachkommen Botschaften zu hinterlassen. Flaschenpost für die Ahnen: Sehen Sie die flüchtige Gegenwart auch als Teil Ihrer Familiengeschichte. Bringen Sie Ihrem Alltag Wertschätzung entgegen und dokumentieren Sie ihn für Ihre Nachfahren! Was Ihnen heute banal und langweilig vorkommt, ist in ein paar Jahrzehnten oft schon völlig vergessen, vielleicht exotisch, zumindest skurril. Was Sie nicht festhalten, werden Sie schnell vergessen. Die Erinnerung nämlich muss gepflegt werden, sonst