Muskelkater vom Leben. Winfried Thamm

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Название Muskelkater vom Leben
Автор произведения Winfried Thamm
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783942672535



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höre die Stadt und sehe ihren Schein an der Decke. Bruno atmet schwer, japst, setzt aus, ein lauter Schnarcher und wieder Ruhe. Er liegt wie ein Berg hinter Herbert. Die beiden sind wie eine Landschaft: Herbert ist der Fluss, weil seine Sauerstoffmaske so gluckernde Geräusche macht und Bruno ist der Berg dahinter. Was bin ich in dieser Landschaft? Der gefällte Baum?

      Bruno ist ein gutmütiger Berg, zweihundert Kilo bestimmt, wenn nicht mehr. Er kriegt dauernd Besuch. Immer, durchgehend, ist jemand da, manchmal auch viele – außer nachts. Sie reden immer irgendwas völlig Belangloses und lächeln sich an. Sie lächeln sich immer an und reden immer. Ein ruhiges Krankenzimmer ist etwas anderes. Für mich: eine Übung in Geduld und Demut. Wenn sie endlich weg sind, will Herbert immer die Aktuelle Stunde gucken, dann die Tagesschau. Dabei schläft er meist schon ein. Schnell schalte ich den Fernseher wieder aus. Der Berg will nichts sehen. Er will liegen.

      Jetzt kommt wieder ein Flieger am Fenster vorbei, im Anflug auf Düsseldorf. Er schwebt mehr als er fliegt, ganz langsam. Nicht, dass er herunterfällt? Auf uns drauf! Hätten’s dann nicht weit zum Krankenhaus. Ha ha, Klinikwitz. Ich erkenne nur die Scheinwerfer und höre die Motoren, weit weg. Da oben drin will ich sitzen, nach langer Reise nach Hause kommen, exotische Abenteuer und Geschenke im Gepäck, erwartet werden von meiner Frau am Flughafen, Umarmungen, Küsse und – dass du wieder da bist, ich kann es kaum fassen – in strahlende Augen sehen.

      Auf dem Zimmer mit dem greisen Egoistenkind lag noch Andreas. Lustiger Kerl. Haut wie Teig. Ihm stand das Wasser bis zum Hals. Fast. Er wäre beinahe in sich selbst ertrunken. Sein Herz arbeitet nicht richtig. Das Wasser im Körper hatte sich zuerst in den Füßen und Beinen gesammelt und stieg dann immer höher in den Bauch. Was es nicht alles gibt. Dass er erst so spät eingeliefert wurde, lag daran, dass er nicht versichert war. Er traute sich nicht, dachte, er müsse die Behandlung selber zahlen. Und weil er kein Geld hatte, müssten das seine Eltern übernehmen. Die zahlen ja eh alles und haben selbst nicht viel. Er wohnt noch zu Hause, liegt ihnen auf der Tasche. Eine Übung in Geduld und Demut.

      Morgen soll es wieder schön werden. Die Sonne wird wieder das bunte Laub vergolden. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis ich wieder laufen kann. Dann wird nur kalter Regen durch die Straßen fegen und der November all die Farben aus der Welt gesogen haben. Das Leben in Schwarz-Weiß, lange, bis zum Frühling. Eine Übung in Geduld und Demut. Das schmerzt. Heute habe ich eine Kinderseele.

      Andreas ist Großhandelskaufmann. Nach der Lehre wurde er nicht übernommen. Nach drei Jahren ohne Arbeit besuchte er einen Umschulungskurs vom Arbeitsamt als Communication-Assistent, fand einen Job und war glücklich. Nach knapp einem Jahr machte die Firma Pleite. Er hatte sich dann nicht mehr arbeitslos gemeldet, weil er meinte, es hinterließe einen schlechten Eindruck bei der Arbeitssuche. Nach 237 Bewerbungen in vier Jahren hatte er aufgegeben. Seine Eltern lieben ihn. Er sie auch, mit viel Scham. Das merkt man, wenn sie ihn besuchen. Er ist zweiunddreißig. Netter Kerl, kennt sich gut aus mit Kabarett und Filmen. Hier macht er eine Entwässerungstherapie. Kriegt vielleicht einen Schrittmacher. Seine Waden sind violett. So viel Wasser haben seine Adern nicht vertragen. Manchmal schmerzen sie, manchmal jucken sie. Immer cremen, viel cremen, sagt der Arzt.

      Einmal bekam er den ganzen Tag kein Essen, weil er zu einer Untersuchung musste, die dann aber auf den nächsten Tag verlegt worden war. Er sagte, er habe Hunger, traute sich aber nicht nachzufragen. Ich klingelte, erklärte und klingelte noch einmal. Dann bekam er sein Essen. Er sagte Danke, ohne mich anzusehen. Dann aß er, drehte sich in seinem Bett zur Seite und weinte. Arme Sau.

      Ich möchte jetzt einschlafen. Genug Melancholie genossen. Möchte nicht, dass sie kippt, so wie frischer Wein kippt, wenn man ihn zu lange lagert. Umkippt in tintenschwarze Traurigkeit. Die Melancholie, nicht der Wein. Oder noch schlimmer, in Angst. Im Krankenhaus ist es ganz superleicht Angst zu bekommen. Da muss man sich gar nicht anstrengen und schon hat man sie im Kopf. Jeder eine für sich. Meine heißt: Amputation. Ist zwar nur eine dicke, heiß-rote Entzündung im Fuß, aber das Wort ist im Kopf, kam gleich bei der Einlieferung, quasi mitgeliefert: Amputation. Ist hartnäckig, schwer zu vertreiben, gerade nachts. Aber geht schon wieder. Muss. Mach dich nicht verrückt, sag ich mir dann immer. Eine Übung in Geduld und Demut.

      Es ist mir noch nicht passiert, aber die Vorstellung, jemand dringt in meine Wohnung ein, mit Gewalt oder mit Geschick, egal, jemand dringt in meine Wohnung ein, schaut sich um, schnüffelt herum, öffnet Schränke und Schubladen, wühlt in meiner Wäsche, liest meine Tagebücher und Briefe, diese Vorstellung erschreckt mich, jagt mir Angst ein, macht mich wütend. Es würde mich aus meiner Ruhe bringen, mein Menschenvertrauen ankratzen, meine Seele verletzen. Auch wenn der Eindringling nichts stiehlt, nichts verwüstet, nichts schändet.

      Nun ja, es ist mir bisher auch nicht passiert, habe Glück gehabt, bis jetzt, darf mich sicher fühlen in meinem Zuhause.

      Nur: Jetzt sitze ich hier, schon seit anderthalb Stunden, und warte. Ich warte darauf, dass jemand eindringt. In mein Haus? In meine Wohnung? In mein Zimmer? Nein! In mein Herz!

      Ich habe sogar mit ihm gesprochen, mit dem Eindringling, mit dem Einbrecher. Er hat mir auch noch erklärt, wie er hineinkommt, in mein Herz. Durch die Kellertür, eine Vene in meiner Leiste. Scheißfreundlich hat er’s mir beschrieben, wie er das Schloss aufbohrt, mit einer Nadel, direkt neben meinen Hoden. Wieso soll ich dem vertrauen, ich kenne ihn doch gar nicht. Nur, weil er einen weißen Kittel anhat? Den kann er sich besorgt haben. Ich sag nur: Berufsbekleidungsgeschäft! Vielleicht bohrt er sie ja an, meine Eier, bläst sie aus und hängt sie bunt bemalt an einen Strauch blühender Forsythien in seinem Garten. Und lacht sich tot, die Schweinebacke, erzählt seiner Frau und seinen Kindern: „Das da sind die Eier von Herrn T. Der hat doch tatsächlich geglaubt, ich würde ihm seine Stromleitungen im Herzen reparieren. Ich bin doch kein Elektriker, ich bin ein Eierdieb.“

      Halt! Stopp! Meine Fantasie geht mit mir durch. Auf dem Teppich bleiben, die Kirche im Dorf lassen, ruhig durchatmen. Freud würde sich freuen über meine Fantasien: Klassischer Fall von Kastrationsängsten, würde er sagen.

      Nein, der Einbrecher in Weiß mit dem Doktortitel, hoffentlich nicht durch Plagiat, will in mein Herz, mit einem langen Katheder will er es durchsuchen. Und der Durchsuchungsbefehl trägt meine Unterschrift. Er hat sie mir abgepresst, der Gauner. Wenn ich die Erlaubnis verweigert hätte, hätte er mich für verrückt erklärt und mein Über-Ich hätte mich in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen: Klapse zu, Seele tot.

      Nach zwei Stunden und fünfzehn Minuten werde ich aufgerufen. Mein Feind in Weiß gibt mir die Hand. Ich muss freundlich tun. Jetzt erläutert er mir seinen Einbruch noch einmal, der Sadist, in allen Einzelheiten, der Hund. Er nennt seinen Übergriff Ablation, das hört sich vornehmer an, klingt ein wenig nach Absolution, der Zyniker. Er wird in mein Innerstes einbrechen, in dem für ihn kein Platz ist, wird die Bewohner stören, die ich liebe, die mir ans Herz gewachsen sind.

      Der freundliche Feind sagt, wenn er käme, werde ich gar nichts merken, werde ich gar nicht zu Hause sein, weil er mich auf eine Reise schicken werde. Aber das stimmt gar nicht. Ich werde mich schlafend stellen und mit einem halben Auge auf meine Lieben aufpassen, damit er ihnen nichts tut. Er soll nur das defekte Kabel suchen und stilllegen, sonst nichts. Er sagt „veröden“ dazu. Unverschämtheit, als hätte Ödnis Platz in meinem Herzen! In seinem vielleicht! Er schaut mich an, als habe er meine Gedanken lesen können und sagt: „Keine Bange, Herr T., ich schau nur nach dem Sinusknoten, nicht in Ihre Schubladen und bin in einer Stunde wieder weg. Versprochen.“

      Jetzt muss ich lächeln, ob ich will oder nicht, und antworte: „Na, dann reparieren Sie mal schön. Und grüßen Sie meine Lieben von mir.“ Nach vier Stunden und dreißig Minuten werde ich in den OP geschoben. Gut Ding muss Weile haben.

      Sie steht neben mir an der roten Ampel. Sie schaut herüber. Kurz. Lächelt nicht. Ist klar. Hab sie links überholt, bevor sie die Spur wechseln konnte. Jetzt muss sie gleich hinter mir links rüber wegen der parkenden Autos da vorne. Da dürfen die gar nicht stehen, zwischen vier und sechs, blockieren die rechte Spur jetzt in der Rushhour. Es gibt so wenig Rücksicht