Alternativlos. Thomas Kirchner

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Название Alternativlos
Автор произведения Thomas Kirchner
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783940431585



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der Anstieg nur ein Prozent höher, also vier Prozent, beträgt die Summe rund 30.000 Euro mehr. Das entspricht also drei Jahren an zusätzlichen Zahlungen. Verlängert man die Dauer der jährlichen Zahlungen von 20 Jahren auf 30 Jahre, dann beträgt der Unterschied zwischen drei und vier Prozent bereits 85.000 Euro.

      Dieses einfache Beispiel zeigt, weshalb nicht kurzfristiges Denken zu starken Kursschwankungen an Märkten führt, sondern langfristiges. Denn bei langfristigem Denken haben selbst kleine Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen große Auswirkungen auf den Gegenwartswert.12 Würde der Turbokapitalismus also wirklich nur kurzfristig wirtschaften, dann dürften die immer wieder beobachteten starken Kursschwankungen gar nicht auftreten.

      Die These, wonach der Turbokapitalismus und die Finanzmärkte kurzfristig wirtschaften, klingt zwar auf den ersten Blick verführerisch, stellt sich aber bei genauerem Hinsehen als reine Phantasie heraus.

      10 Siehe insbesondere die Analysen von Elkins McSherry Inc. oder Abel/Noser Corp.

      11 Quelle: Rosenblatt Securities. Danach beliefen sich im Jahr 2008 die Gesamtgewinne aller Hochfrequenzhändler noch auf 2,94 bis 4,40 Milliarden Dollar, im Jahr 2012 auf nur noch 0,81 bis 1,21 Milliarden Dollar.

      12 Auch Barwert genannt. Bei dem hier beschriebenen Beispiel wurde implizit mit einem Diskontsatz von null Prozent gerechnet. Das ist zwar nicht unbedingt realistisch, ändert aber nichts am grundsätzlichen Effekt, den kleine Schwankungen in Wachstumsraten langfristig bewirken.

      4

       Regiert Geld die Welt?

      Das gewaltige Wachstum der Finanzvermögen seit 1980 bringt Kapitalismuskritiker auf die Palme. Sie stellen erschreckt fest, dass Finanzvermögen wesentlich schneller gewachsen sind als die Wirtschaftsleistung. Von 1980 bis 2007 lag das nominale Wirtschaftswachstum bei durchschnittlich 6,2 Prozent, was bedeutet, dass sich die Wirtschaftsleistung von 1980 bis 2010 versechsfacht hat. Die Summe der weltweiten Finanzverbindlichkeiten stieg im gleichen Zeitraum um das 17fache mit einem Durchschnittswachstum von rund 10 Prozent.

      Auf den ersten Blick deutet die Diskrepanz dieser Zahlen auf ein Ausufern des Finanzsektors hin. Oder, wie manche behaupten, dass sich Real- und Finanzwirtschaft voneinander abgekoppelt haben. Doch wie bei vielen anderen in diesem Buch beschriebenen Statistiken, die auf den ersten Blick alarmierend wirken, stellen sich die tatsächlichen Abläufe als harmlos heraus.

      Das Jahr 1980 ist als Anfangspunkt zur Untersuchung verschiedener sozialer Phänomene sehr beliebt. Die 80er Jahre waren der Beginn einer sensationellen Wachstumsperiode der Weltwirtschaft, in der Milliarden Menschen in Entwicklungsländern aus tiefster Armut erlöst wurden. Es ist eine Periode, in der viele Entwicklungen parallel zueinander abliefen, so dass eine einseitige Fokussierung auf nur wenige Faktoren schnell zu Trugschlüssen führen kann. Beispielsweise stiegen aufgrund der sinkenden Zinsen seit 1980 sowohl Aktien- als auch Anleihen- und Immobilienpreise sehr stark.

      Diese Beobachtung stellt jedoch nur eine partielle Sicht der Dinge dar und ist nicht sehr aussagekräftig. Denn Finanzvermögen allein sind kein guter Ansatzpunkt, um daraus allzu tiefgreifende Schlüsse zu folgern. Nehmen wir an, Sie besitzen eine Blaue Mauritius. Diese Briefmarke wurde zuletzt für vier Millionen Dollar versteigert. Solange Sie diese Briefmarke privat besitzen, ist sie zwar vier Millionen wert, zählt aber nicht zum weltweiten Finanzvermögen.

      Nehmen wir nun an, Sie gründen jetzt eine Aktiengesellschaft und bringen als Kapital diese Briefmarke ein. Jetzt gehört Ihnen die Briefmarke nicht mehr. Sie ist Eigentum der Aktiengesellschaft, die jetzt vier Millionen wert ist. Folglich stellen die Statistiker einen Anstieg des weltweiten Finanzvermögens um vier Millionen Dollar fest. Kapitalismuskritiker werden mit Empörung reagieren, weil das weltweite Finanzvermögen schon wieder gestiegen ist, ohne dass sich bei der Wirtschaftsleistung etwas getan hat.

      Steigende Finanzvermögen resultieren normalerweise aus produktiveren Aktivitäten als Briefmarkensammeln. Nehmen wir an, sie entwickeln eine Software, gründen eine Aktiengesellschaft, bringen die Software als Kapital in die AG ein und stellen dann Mitarbeiter ein, denen Sie Aktien als Bezahlung geben. Die Aktiengesellschaft wird dann an der Börse notiert, damit ihre Mitarbeiter gegebenenfalls ihre Anteile in bare Münze verwandeln können. Solange Ihnen die Software direkt gehörte, zählte sie nicht zum Finanzvermögen. Doch die Aktiengesellschaft hat einen Wert, um den dann wiederum das weltweite Finanzvermögen steigt. Auch hier würde wieder ein Aufschrei über den Wahnsinn der Märkte folgen.

      In beiden Beispielen steigt das weltweite Finanzvermögen nur durch eine juristische Änderung der Besitzverhältnisse. Es bedurfte keiner mysteriösen Machenschaften von Finanzhaien. Direktes Eigentum an Briefmarken oder Software wird durch Zwischenschaltung einer juristischen Person zu indirektem Eigentum. Und genau das ist der Punkt: Ein Firmenwert ist nicht, was zu einem bestimmten Zeitpunkt erwirtschaftet wird, sondern die Summe der langfristig zu erwartenden Gewinne – ob nun aus dem Verkauf einer Briefmarke oder von Software. Was genau als Finanzvermögen gemessen wird, hat nichts mit der Wirtschaftsleistung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu tun. Das heißt nicht, dass Finanzen und Wirtschaft von einander abgekoppelt sind. Es bedeutet vielmehr, dass wir in einer Welt leben, in der langfristig gedacht wird, allem Geschwätz über kurzfristiges Denken des Kapitalismus zum Trotz.

      Die Entwicklung der Moderne, die messbare Finanzvermögen in die Höhe getrieben hat, ist also die Trennung von Privat- und Firmenvermögen. Im öffentlichen Leben ist die Trennung des Privatvermögens der Mächtigen vom Staatseigentum schon lange vollzogen – von einigen notorischen Kleptokraten in der Dritten Welt einmal abgesehen. L’état, c’est moi – das ist Geschichte. Im Wirtschaftsleben ereignete sich diese Trennung bei großen Kapitalgesellschaften schon im 19. Jahrhundert. Anstatt auf eigene Rechnung zu wirtschaften, gründen selbst kleine Unternehmer heute immer häufiger Kapitalgesellschaften.

      Es ist durchaus sinnvoll, dass zwischen geschäftlichem und privatem Vermögen getrennt wird. Geschäftspartner haben mehr Vertrauen in ein Unternehmen als in eine Privatperson, besonders wenn es um größere Beträge geht. Ein Beispiel: Gerade im angelsächsischen Raum ist es vollkommen üblich, dass sich Ärzte oder Rechtsanwälte in Kapitalgesellschaften zusammenschließen. In Deutschland hingegen ist die Rechtsform der GbR für Sozietäten nach wie vor Standard. Folglich ist das Finanzvermögen angelsächsischer Rechtsanwälte höher als das ihrer deutschen Berufskollegen. Die Rechtsform beeinflusst, was als Finanzvermögen gemessen wird. Was kann man daraus folgern? Dass sich Anwälte und Ärzte zu Spekulanten wandeln, je nachdem, welche Rechtsform sie für ihre Praxis wählen? Oder dass, wie im Beispiel mit der Blauen Mauritius, das Sammeln von Briefmarken zum Auseinanderklaffen von Finanz- und Realwirtschaft führt?

      Ein weiterer Faktor, der Finanzvermögen steigen ließ, sind zweifellos Privatisierungen von Staatseigentum im Westen wie auch in ehemals kommunistischen Staaten. Weder China noch die damalige Sowjetunion oder andere Ostblockstaaten hatten 1980 nennenswerte Unternehmen, die in Privatbesitz waren. Sobald diese Firmen privatisiert wurden – sei es über Gutscheine wie teilweise in Russland, die an alle Bürger verteilt wurden, oder auch durch weniger transparente Geschäfte – wuchs das globale Finanzvermögen um den Wert dieser nun häufig börsennotierten Unternehmen. Auch hier ist klar, dass der Übergang von Staats- zur Privatwirtschaft zwar die statistische Erfassung der Finanzvermögen von einem Tag auf den anderen explodieren ließ. Daraus nun aber abzuleiten, dass sich Finanzmärkte verselbständigt oder von der Wirtschaft abgekoppelt haben, ist natürlich völliger Unsinn.

      Am absurdesten wird die Kritik am steigenden Finanzvermögen, wenn man die Ausgabe von Belegschaftsaktien betrachtet. Eigentlich sind sich alle einig, dass die Beteiligung der Arbeitnehmer an ihrem Betrieb etwas Positives ist. Sobald jedoch Belegschaftsaktien als Teil der Arbeitnehmervergütung neu ausgegeben werden, steigen der Gesamtwert des Unternehmens und damit auch das weltweite Finanzvermögen. An diesem Beispiel sieht man deutlich, wie wenig Aussagekraft diese Statistik hat, und wie schwierig es ist, daraus vernünftige politische Entscheidungen abzuleiten und zu begründen. Vergleichsweise trivial ist es hingegen, mit diesen großen Zahlen um sich zu werfen und Skandal zu schreien.

      Und wie sieht es mit der Theorie