Название | Ende einer Selbstzerstörung |
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Автор произведения | Hartmut Zwahr |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867295222 |
Auszug aus dem Originalbericht von Alexander Z.
In Höhe Schauspielhaus, Stasigebäude, kommen große Bullentransporte, Ellos [Mannschaftswagen mit Sitzbänken]. Die Leute sperrten die Straße ab, ließen sie nicht durch, setzten sich auf die Straße. Es entstand ein Riesentumult um die Autos. Plötzlich fuhr der eine Wagen an. Die Menschen sprangen zur Seite. Aufschreie und Tumult. Das hatte niemand erwartet. Die Leute waren entsetzt. Kreischten. Diese Schweine!, rief jemand. Die linke Fensterscheibe des Ello war kaputt. Ein Mann stellte sich auf die Straße und pinkelte. Der Zug lief weiter bis zur Thomaskirche. Dann versammelte sich eine große Gruppe auf dem Thomaskirchhof neben dem Topas [Modehaus]. Ich stehe mit den Kumpels in der ersten Reihe. Vor mir eine Polizeikette. Dann spitzt sich die Situation zu. Ich komme nicht raus. Ein Riesendruck von hinten. Ich schiebe mich an einem Polizisten vorbei. Die rechte Flanke reißt durch. Ich stürze nach rechts. Von links kommen mehrere Polizisten, stellen sich vor die stürmende Masse, machen eine (neue) Kette. Ich versuche durchzukommen, sehe vor mir einen Schlagstock ausholen. Dann ein derber Schlag auf meinen Kopf. Falle hin, kann mich aber schnell wieder hochrappeln. Neben mir stürzt die Menge über mich drüber und an mir vorbei. Ich bemerke, daß mein Kopf furchtbar schmerzt. Fasse mit der Hand drauf. Die ganze Hand ist rot. Der Kopf blutet stark. Neben dem Topas steht ein Krankenwagen bereit. Ich kämpfe mich durch, werde von den Polizisten durchgelassen. Entsetzte Menschen schauen mich an. Diese Schweine, rufen einige erschrocken, die müssen doch spinnen! Im Krankenwagen und draußen liegt schon einer auf der Trage. Er wurde von Bullen-Schaftstiefeln zusammengetreten. Er hatte große Schmerzen. Dann wurde eine völlig kalkweiße Frau hereingeschleppt. Sie war ganz verstört, konnte nicht sprechen; sie war hingefallen und wurde überrannt.
Im Krankenwagen sitzend, mit eingebundenem Kopf, sehe ich, wie Leute durch die Fenster schauen. Viele nicken mir anerkennend zu, ballen die Faust; einer stellt den Daumen auf. Dann fährt der Krankenwagen in die Chirurgie. 20.30 Chirurgie: Eine junge Frau sagt, sie hätte den Scheinwerfer des losfahrenden Wagens vor den Kopf bekommen. Dann geriet auch sie in den Tumult an der Thomaskirche-Topas. Sie ist gestürzt und wußte nichts mehr. Ihr Freund (der jetzt neben ihr sitzt) zog sie irgendwie raus. In der Chirurgie war Chaos, alles überlastet. Ich fühlte mich wieder ganz gut. Dann wurde ich geröntgt und später genäht. Es war zum Glück nur eine Platzwunde. Der eine Junge auf der Trage hatte auch einen Schlag mit dem Gummiknüppel abbekommen; er sagte ganz leise zu mir: Wenn ich den erwische, den bring ich um! Der andere, den sie getreten hatten, sagte, auf der Trage liegend: Am nächsten Montag bin ich wieder dabei. Die Frau zu mir: Bist du auch am nächsten Montag wieder dabei? Klar, sage ich. Eine Frau kommt vorbei, sagt: Was in der Stadt los war; diese Menschen; also so was. Der junge Mann auf der Trage: Sie müssen aber auch mal bedenken, warum wir auf die Straße gehen; weil sich endlich was verändern muß. Die junge Frau auf der Trage: Bald gehts nach … (kleiner Ort bei Leipzig, den Namen habe ich vergessen) ins Krankenhaus. Gegen 23 Uhr verließ ich die Chirurgie. Es regnete. Ich lief nach Hause. So ging der Montag vor dem Vierzigsten zu Ende.
Mit der Demonstration der Zwanzigtausend in Leipzig am Montag, dem 2. Oktober, begann in der DDR die demokratische Revolution.133 An eben diesem Abend gab Politbüromitglied Kleiber, dem Verteiler von Mielkes geheimsten Lageberichten angehörend, ein Essen für die in der DDR weilende chinesische Partei- und Regierungsdelegation; aus dem Toast spricht der feste Wille zum Machterhalt. »Wir gehen unbeirrt in den Grundfragen unserer Zeit von gleichen Positionen und Erwartungen aus. In diesem Sinne waren auch die kürzlichen Ereignisse in China eine gemeinsame Lehre.« In der gegenwärtigen antisozialistischen Offensive aber stelle die DDR »ein Hauptangriffsobjekt« dar.134 Auch mit dieser Verknüpfung der Ereignisse wurde der Bevölkerung der Bürgerkrieg angedroht.
Inmitten der Medienfinsternis in dieser Stadt und in diesem Land, damals, bleibt festzuhalten: Das Bündnis der Tausende zur Aktion und in der Aktion entstand durch Verabredung von Mund zu Mund, ergänzt durch die Bildberichte von ARD und ZDF, die noch an den Montagen über den Bildschirm gingen. Es bestand Transparenz des Geschehens in dreierlei Gestalt: erstens innerhalb der Gebetsgemeinschaft, zweitens unter den Demonstranten. Diese begannen eine Dauerdiskussion zu führen und auf den innerstädtischen Ring hinauszutragen, die es zuvor nur in der Nische, in der Familie, im Freundeskreis, unter Arbeitskollegen des persönlichen Vertrauens gegeben hatte. Es gab diese Transparenz drittens bei den mit der Überwachung beauftragten Staatsorganen, zuerst bei denen vor Ort, dann bei den Informationsaufbereitern für die Weitergabe nach »oben«, schließlich dort, wo aus Transparenz das Gegenteil von Glasnost wurde: im Politbüro, der Zentralen Partei- und Kontrollkommission der SED, dem Ministerium des Innern und anderen Spitzengremien. Diejenigen, die dem engsten Zirkel der Macht angehörten, erhielten die ungetrübtesten, am wenigsten gefilterten Informationen, die Wahrheit pur. Über die »öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Aktion im Anschluß an das sogenannte Montagsgebet in der Nikolaikirche in Leipzig (am 25. September 1989)« sowie die »erneute öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Demonstration« usw. (am 2. Oktober 1989) wurden informiert:135 am 26. September Mittag (in Vertretung von Honecker136), Stoph, Dohlus (ZPKK), Hager, Herrmann, Jarowinsky, Krenz, Schabowski, Dickel/Ahrendt, Herger, Sorgenicht, Mittig, Großmann, Neiber, Schwanitz, Carlsohn, das MfS intern; diese Information war »Streng geheim! Um Rückgabe wird gebeten!«. Die Rückgabe der Kopien wurde vermutlich nach dem gleichen Verteilerschlüssel kontrolliert. Die Information über das Demonstrationsgeschehen am 2. Oktober in Leipzig wurde am Tag darauf an Honecker, Stoph, Dohlus, Hager, Herrmann, Jarowinsky, Krenz, Mittag, Dickel, Sorgenicht gegeben, ferner an Mittig, Großmann, Neiber, Schwanitz, Carlsohn, das MfS intern. Der engere Zirkel der Macht wußte von allem. Er besaß das Monopol der auf Detailkenntnis gegründeten Entscheidung, er war der bestinformierte im Lande und hatte daraus längst den Schluß gezogen, die Fiktion für die in der Realität Lebenden Wirklichkeit werden zu lassen und dadurch jeden Widerspruch zu ersticken. Nach uns die Sintflut. Die Fiktion war der Knebel. Über dem Knebel trugen die Bürger noch den Maulkorb. Die von diesem Personenkreis mit Ausrufezeichen angemahnte prompte Rückgabe der streng geheimen Informationen läßt gut erkennen, daß es außerhalb des Zirkels der fast Alleswissenden verschiedene Zonen der Informiertheit wie der Abschottung gab. In ihnen bewegten sich Geheimnisträger der unterschiedlichsten Wahrheitseinsicht und Realitätsnähe. Die Gefahr, daß Informationen in der Papierflut des Apparats und dem Gewirr der Gleise nicht zu Mielke zurückfanden, bestand offenbar immer.
Am Informiertsein der obersten Führungskader sind deren Verlautbarungen zu messen; es waren Inszenierungen im Großformat, und sie waren auf Lüge und Heuchelei gegründet. Die Bewußtseinsspaltung riß die Gesellschaft mitten durch. Im Kartenhaus der Scheinheiligkeit haben sich Hunderttausende mit einer solchen Vorsicht bewegt, daß einfach nichts einstürzen konnte, haben die Stimme gesenkt, die Luft angehalten, Kopf und Schultern eingezogen, sich in schrecklicher Weise krumm gemacht. Nicht alle entschieden sich für den aufrechten Gang, als es mit immer weniger persönlicher Gefährdung möglich war. Sie bedauern das heute, können es sich nicht verzeihen, wollen es nachträglich gutmachen. In der erstmals am 25. September überfüllten Nikolaikirche geschah dieses Sich-Aufrichten gemeinsam, und dann Woche für Woche. Auch die Hunderte vor der Kirche, soweit sie nicht zu den Überwachern gehörten, veränderten Haltung und Ausdruck merklich. Die Veränderung sprach zuerst aus den Augen der Menschen, das veränderte die Gesichter. Es war den Menschen anzusehen, daß sie zu einer freien Würde zurückfanden, während die »Büttel« im Krampf des aufrechten Befehlsganges und angesichts dieser mutigen Menschen politisch-moralisch aufzugeben begannen.
Im Feierton
Am Tag nach der Demonstration der Zwanzigtausend in Leipzig schlug der Erste Mann der Republik im Haus des Zentralkomitees der SED auf