Название | Ende einer Selbstzerstörung |
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Автор произведения | Hartmut Zwahr |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867295222 |
So begann die Schmerzenswoche vor der eigentlichen Jubelwoche. Schmerz, zugefügt durch Staatsterror, erlitten die einen, den Schmerz der Erkenntnis die anderen; auch Angst, die Erkenntnis befördern kann, und die Verachtung gegenüber der Macht verursachte solche Schmerzen, im Kopf, in den Eingeweiden. Mancher wurde von solcher Angst krank. Die Niederschrift eines Achtzehnjährigen vom 3. Oktober früh,132 am Morgen nach der Behandlung in der Unfallklinik der Universität, zeigt an Gesprächen, Haltungen, wie Menschen in einer Menge, die Gerechtigkeit einfordert, die Fähigkeit zum Widerstand erlangen, wie sie die Angst überwinden und den Mut zur Gegengewalt aufbringen.
Sichtbar werden aber auch die Gefahren, die entstehen, wenn sich die Gerechtigkeit mit der Gewalt anlegt. Da werden die Grünen, die den Film herausrissen, im nächsten Satz zu Bullen. Da erwacht Gewalttätigkeit. Den bringe ich um. Es war die größte Gefährdung des in diesem Moment errungenen Freiraums Straße. Die im Zentrum des Evangeliums Stehenden setzten die strikte Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit dagegen. Keine Gewalt. Da war die Solidarisierung der Gemeinschaft gegen Spitzel. Da war das Gespräch in der Gemeinschaft, der Dialog. Er wurde auf der Straße geboren und hat sich nicht in die geschlossenen Räume hineinziehen lassen, ohne nicht gleichzeitig die Straße weiter zu behaupten. Da war die Entschlossenheit, wiederzukommen, die Demonstration permanent zu machen: »›Bist Du auch am nächsten Montag wieder dabei?‹ – ›Klar‹, sage ich.« Die Einsicht, daß »sich endlich etwas ändern muß«, wurde zur Massenerkenntnis. Ohne sie wäre die Steigerung der Massenteilnahme an Veränderung vom 2. zum 9. Oktober trotz der wahrscheinlichen, von vielen für fast sicher gehaltenen Anwendung von bewaffneter, militärischer Gewalt nicht möglich gewesen.
Alexander Z., geboren 1971 in Leipzig, berichtet: Was ich am 2. Oktober in der Innenstadt erlebte.
Ich bin am sonnigen Montag gegen halb vier nachmittags ins Städtchen gezogen, bewaffnet mit Rucksack und Fotoapparat, in dem der neue Film auf Motive wartete. Auf der Grimmaischen Straße stand ein Polizistenpaar mehr oder weniger unauffällig neben dem Eck-Ex(quisit), daneben ein Dutzend jugendlicher Männer, die halbe Liter in sich hineinfüllten. Am Elefanten [Porzellangeschäft] und vor der Passage sah ich wiederum zwei Grüne; dies sollte sich noch einige Male an anderen Orten wiederholen. Am Elefanten vorbei ging ich dann in Richtung Nikolaikirche, wo schon ein großer Trubel herrschte. Ich machte einige Bilder (was aber nicht problemlos war) aus Geschäften heraus, hinter Autos. Hinter dem Brühlpelz war ein riesiges Polizeiaufgebot: Jeeps, Ü(berfall)Wagen, besetzt mit Einsatzkommandos, Toniwagen. Ich knipste an der Ecke. Danach kamen drei Bullen auf die Straße; sie kamen von den Autos auf mich zu, schienen mich aber nicht zu beachten; drei Meter von mir entfernt, plötzliche Rechtswendung; schon spürte ich den Griff am Oberarm: Sie kommen bitte mal mit! Was knipsen Sie denn hier? Ich: Darf ich denn nicht knipsen. Einer: Haben Sie denn die Erlaubnis, mich zu knipsen? Wollen wir doch mal sehn, obs was geworden ist. – Nimmt mir den Apparat aus der Hand, macht ihn auf und zieht den ganzen Film raus. Sagt: Wenn wir das nochmal sehen, verbringen Sie ne Nacht bei uns. – Nachdem sie meinen Perso[nalausweis] inspiziert und Angaben notiert hatten (und auf meine Äußerung: Ich habe Sie gar nicht gefilmt: Na, das ist doch jetzt nicht mehr wichtig, geantwortet hatte und: bloß schade um den schönen Film), fragten sie nach meiner Arbeitsstelle. Ich gehe in die Schule. – Wo? – Dimitroff. – Na, was wird denn der Direktor sagen? Wenn wir Sie noch mal bei solchen Aktivitäten sehen, dann nehmen wir Sie mit.
Wieder auf die Straße zurückgekehrt, sprachen mich die umstehenden Bürger an, die alles mit beobachtet hatten: Mensch, da haben die einfach den Film rausgenommen, die Schweine! – Das ist die Freiheit! – Seien Sie doch froh, daß die Ihnen nicht den Apparat weggenommen haben! Ich gehe danach auf kürzestem Wege ins Fotogeschäft, gebe den Kiew-Film ab, hole einen neuen NP 20, lege ihn auf der Sitzbank in der Grimmaischen Straße ein und mache mich wieder in Richtung Nikolaikirche auf. Dort ist alles voll; kein Hineinkommen in die Kirche. Nehme die Sonnenbrille ab. Die Kirche ist restlos überfüllt. Draußen stehen noch ungefähr dreihundert Leute. Der Kirchensprecher fordert sie auf: Geht doch in die Reformierte Kirche am Tröndlinring; da ist auch ein Friedensgebet. Ich gehe dann noch ein wenig durch die Stadt und komme gegen 18 Uhr zur Kirche zurück. Dort ein Riesen-Menschenauflauf, fast kein Durchkommen. Der ganze Freiraum zur Kirche, alle Zufahrtswege sind überfüllt von Menschen. Ich will ein paar Bilder machen; frage einen Mann, der erhöht vor einem Geländer steht, ob er mich nicht mal hochläßt; darauf er: Kannst dir doch ne Leiter kaufen. Ich darauf: S’ war ja nur eine Bitte an Sie. Er: Und ich habe nur geantwortet. Ich: Also, Sie sind ein schlagfertiger Mensch. Lache ihn dumm an. Dann klettere ich neben ihn, wo Platz ist, aufs Geländer, mache ein paar Bilder. Gerade kommt eine Truppe Polizisten die Straße hochmarschiert und stellt sich dann in Kette auf und macht die Straße zu. Ich will von der Ecke aus ein Foto machen. Vor mir stehen ein Junge und eine ältere Frau, vermutlich die Oma. Diese zu mir: Passen Sie nur auf, daß die sie nicht nochmal festnehmen. Sie hatte mich offensichtlich schon vorher gesehen und die Sache mit der Polizei beobachtet, aber die lag eine Stunde zurück. Dann zeigte sie auf einen Mann, der ungefähr drei Meter von uns weg stand: Vorsicht, sagte sie; man weiß nie …; wer Freund oder Feind ist, sage ich. Man kriegts schon ein bissel mit, sagt die Frau. Dann stellen sich drei andere Frauen, die meine Absichten beobachten, vor mich hin und decken mich ab. Ich mache schnell zwei Fotos. Sind Sie fertig? Gleich, sage ich, und betätige den Auslöser. Okay, und vielen Dank auch. Dann hört man Klatschsalven aus der Kirche und das Lied: We shall overcome. Draußen wird danach Völker hört die Signale [Internationale] gesungen. Der ganze Platz ist voll, alle Fenster geöffnet. Bis zum Schuh-Ex alles voller Menschen, nicht mehr zu übersehen. Ich hebe auf Wunsch einer Frau ihren kleinen Sohn hoch, der alles überblicken kann. Dann folgen die Sprüche: Frei-heit, Gleich-heit, Brüder-lich-keit. Die ganze Menge brüllt. Dann: Neu-es Fo-rum zu-las-sen! Dann wieder die Internationale; es folgt: Wir bleiben hier! und Stasi weg, hat kein Zweck! Dann Rufe: Gorbi! Gorbi! Die Leute kommen kaum aus der Kirche heraus, so voll ist der Vorplatz. Der Zug setzt sich in Bewegung. Hinter mir, vom Bauzaun her, funkt ein Blitzlicht auf. Zwei- bis dreimal. Die Menschen drehen sich um; ich schreibe mir die Sprüche auf, die gerufen werden; die Leute um mich rum gucken mich erstaunt an, was ich schreibe, sehen es aber nicht. Nahe dem Schuh-Ex dann: Durch-las-sen! Durch-las-sen! Die Menge setzt sich in Richtung Karl-Marx-Platz in Bewegung. Rechts von mir die Uni [Relief]. Ich bin in Höhe der Mehring-Buchhandlung. Neben mir Ehepaar Creutzmann aus dem Haus. Rufe: Neu-es Fo-rum zu-las-sen! Ich stütze mich auf Stefan, Holger und Christian, die neben mir stehen. Ich habe sie getroffen, Kumpels aus der alten Schule, Lehrlinge, und überschaue, auf sie gestützt, den Karl-Marx-Platz: ein riesiges Menschenmeer bis zur Oper auf der Linken und der Post geradeaus sowie dem Gewandhaus. Creutzmanns fragen mich, wieviele ich gesehen habe. Ich sage: Alles ist voll; der ganze Platz ist überfüllt wie am 1. Mai nicht mal. Keine Straßenbahn kommt mehr weiter. Die Leute rufen: Aus-stei-gen! An-schlies-sen! Einige Leute tun dies auch unter dem Beifall der Menge und verlassen die Bahn. Dann geht der Zug in Richtung Bahnhof, die Post rechts liegenlassend.
Der ganze Innenstadtverkehr kam zum Erliegen. Die Masse zog bis zum Bahnhof und dann bis zum Konsument am Brühl. Kurz vor der »Blechbüchse« staute es sich immer mehr auf. Die Polizei hatte für quer eine Kette gebildet; es wurden mehrere Ketten durchbrochen; dann wieder Stillstand. Die Absperrung verschob sich immer mehr in Richtung »Blechbüchse« [Konsument]. 19.06 flog die erste Bullenmütze durch die Luft, unterm Jubel der Massen. Sie wurde immer weiter nach hinten geworfen. Wie ein Luftballon. Ihr folgten weitere; bis 19.30 mindestens acht Stück. (In der Kette standen plötzlich