Im Kessel brummt der Bürger King. Joe Bauer

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Название Im Kessel brummt der Bürger King
Автор произведения Joe Bauer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870585



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im Freyen der Natur und auf öffentlichen Spaziergängen einer Stadt, erfüllen den Zweck des Lustwandelns; nur erfüllt ihn jede nicht ganz. Es müssen beyde miteinander verbunden werden, wenn das Lustwandeln alle die Vortheile gewähren soll, welche sich davon für unsere geistige Existenz versprechen lassen.«

      Diese Sätze gelten, solange wir Wandern auf Schusters Rappen als geistiges Wandeln begreifen. Bald kommt der Winter, und das Licht wird alles verändern.

      Hirsch da Lupo

      Zwischen den Jahren sind die Rhythmusstörungen in der Stadt zu spüren. Nur wenige Obst- und Gemüsehändler haben es am Morgen auf den Marktplatz vor dem Rathaus geschafft. Die aufgekitschten Bretterbuden des Weihnachtsmarkts sind verschwunden, der Platz liegt da wie ein geräumtes Camp. Auf den Pflastersteinen Tannenzweige, als hätte man im Nahkampf Christbäume wie Gänse gerupft, und aus den Freiluftboxen bei Breuninger dröhnt »Kling, Glöckchen, klingelingeling«. Der Kaufhaus-DJ bemerkt das falsche Timing, er schaltet um auf Hotelbar-Jazz.

      Die Jazzmusik in Deutschland, habe ich am Morgen in der Zeitung gelesen, schwächelte im alten Jahr bedrohlich. Um nicht frühzeitig selbst dem Jazz zu folgen, kaufe ich mir auf dem Markt ein Glas Hägenmark. Ein Löffel Hägenmark am Morgen macht stark, wenn die Dinge zu Ende gehen. Bevor Weihnachten zu Ende gegangen war, fuhr ich zum ersten Mal mit der neuen Stadtbahn-Linie 15 nach Stammheim. Straßenbahnfahren in unerforschten Gegenden ist an harten Tagen weniger depressiv, als zu Fuß zu gehen.

      Die wenigen Leute in der Bahn sprechen Italienisch oder Türkisch, und sie klingen, als hätten sie Gründe, fröhlich zu sein. Ich schaue zum Fenster hinaus, lese die Werbung und versuche mir einen Reim auf die Plakate von Marlboro zu machen: »Don’t be a Maybe«.

      Meine Übersetzungskünste sind eher landläufiger Natur. Ich notiere: »Sei kein Vielleicht-Typ«, »keine Mal-so-mal-so-Memme«, »kein Eventuell-Trottel«.

      Leider rauche ich seit Jahren nicht mehr, und meine Maybe-Übersetzung zündet auch nicht. Dann kommt es mir. Das englische Maybe als Hauptwort bedeutet zu Deutsch: der Womögliche. Jeder weiß, was ein Womöglicher ist: ein Grünen-Politiker, einer wie Cem Özdemir. Heute so, morgen so, und übermorgen klingelingeling. Cem Maybemir. Der Vielleichtgewichtler aus Bad Urach.

      Nordbahnhof, Pragsattel, Feuerbach, Zuffenhausen. Die Kneipen linker Hand heißen – als hätte es die Globalisierung nie gegeben – Linde und Wallenstein, Löwen und Sonne. Die Sonne – man kann es weithin lesen – offeriert Übernachtungen ab 23 Euro. Ein fairer Preis zum Probeliegen, wenn man bedenkt, was eine Ruhestätte auf dem Pragfriedhof kostet.

      Die Bahn fährt zügig, wir lassen die Sonne und viele Zockerbuden hinter uns, und bald erreichen wir Stammheim. Durchs Fenster sehe ich das Straßenschild Tuchbleiche. Früher wurde an diesem Ort handgewobenes Leinen auf den Wiesen der Sonne zum Bleichen ausgelegt. Heute ignoriert man die alten Flurnamen in der Stadt.

      Wer an der Endstation Stammheim aussteigt, landet zwischen dem Fachwerkhaus mit der Gaststätte Rössle und dem etwas schäbigeren Altbau mit dem Asperg-Stüble. In beiden Kneipen ist das Bier günstig, keine Orte für zögerliche Maybes.

      An der Haltestelle sehe ich ein Plakat: »Flittchen im Kittchen«, die Ankündigung für ein Stück im Renitenztheater, man hat es »SingSingSpiel« genannt. Sing Sing war hierzulande mal ein anderes Wort für Gefängnis, Kittchen oder (wie in Stuttgart) Containamo, meist in deutschen Film- und Fernsehklamotten Mitte des vorigen Jahrhunderts. Sing Sing heißt bis heute der berüchtigte Hochsicherheitsknast im US-Bundesstaat New York, der Name ist abgeleitet von dem Indianerwort »Sint Sinks«, zu deutsch: Stein für Stein. Stein für Stein mussten die Gefangenen ihren Knast Sing Sing im 19. Jahrhundert selbst bauen. Die moderne Marktwirtschaft kennt diese Produktionsweise als Synergie-Effekt.

      Von der Endhaltestelle aus ist das Stuttgarter Sing Sing zu sehen, weltweit berühmt als Stammheim. Ein Gefangener kann sich, sofern des Deutschen mächtig, keinen zynischeren Namen für einen Knast vorstellen als Stamm-Heim. Vor dem Gefängnis sehe ich am Besucher-Eingang den Hinweis: »Tür öffnet und schließt selbsttätig.« Ich beschließe, draußen zu bleiben.

      Imposant ist die Umgebung der Justizvollzugsanstalt Stuttgart. In der Nachbarschaft haben kluge Politiker den Treff Sieben Morgen untergebracht, das soziale Stamm-Heim der freien Kinder und Halbwüchsigen im hohen Norden. Vor dem Jugendhaus ließen sie Schutzschilde aus Stahl und Holz aufstellen, wohl mit der pädagogischen Weitsicht, den Insassen den Blick auf ihre Zukunft zu verbauen.

      Den entscheidenden Beweis für eine erfolgreiche Integrationspolitik in Stammheim finde ich auch außerhalb der Knast-Gegend. Als ich an einer Pizzeria vorbei komme und ihren Namen lese, geht er mir runter wie zwei Löffel Hägenmark. Die Kneipe nennt sich: Hirsch – da Lupo.

      Ein Hoch auf Lupo, den guten Wolf von Stammheim. Er hat dem alten Hirsch die Haut gerettet.

      Der Apotheker

      Mit meinem Klapprechner, den ich zur Freude mancher Leser auch Fink nenne, stiefelte ich durch die Stadt und suchte einen Platz zum Aufwärmen. Die Stadt im frühen März war so kalt, dass ich bald die Hoffnung aufgab, irgendwo drinnen könnte es wärmer sein als draußen. Und weil ich in einem Alter bin, wo man die Apotheken Umschau neben den Rolling Stone legt, ging ich in eine Apotheke. Das war weit im Westen der Stadt. Ich verlangte Aspirin Complex, Schnupfenspray mit 24-Stunden-Wirkung sowie 1000 Jodtabletten.

      Ich plauderte ein wenig mit dem Apotheker, ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Er hatte weiße Haare, wache Augen und vermutlich schon einige Jahre vor mir die Apotheken Umschau neben den Rolling Stone gelegt. Wir sprachen über die Machenschaften der Pharmaindustrie, und er erzählte, wie er neulich Geld für Medikamente an einen US-Konzern überweisen musste, obwohl er für die gleichen Pillen noch wenige Tage zuvor bei einer deutschen Firma bezahlt hatte. »Der große Tiger frisst alles«, sagte er und führte seine Hände zum Mund. »Ja«, sagte ich, »alles gehört heute denselben Banditen.« »Da haben Sie recht«, sagte der Apotheker, »überall das gleiche Lumpenpack. Ich sage Ihnen: Die stecken alle unter einer Decke.« Der Mann war mir auf Anhieb sympathisch, auch weil ich den Ausdruck Lumpenpack seit Jahren nicht gehört hatte. Das Wort klingt betörend, wie der heute leider vergessene Scherenschleifer, der Halbdackel oder Kuttenbrunzer.

      Nachdem wir drei Minuten lang das organisierte Verbrechen von China bis Kalifornien beleuchtet hatten, gab mir der Apotheker den Kassenbon. Es machte 29 Euro fünf. Ich legte 30 Euro auf den Tisch, und der Apotheker gab mir zwei zurück. Als ich ihn verwundert anschaute, sagte er: »Wir runden ab auf 28 Euro. Endlich habe ich mal einen gefunden, der die gleiche Gesinnung hat wie ich.«

      Ich bedankte mich überschwänglich, griff die neue Apotheken Umschau und ging herzerwärmt hinaus in die Kälte. Nie zuvor hatte ich von einem Gesinnungsbonus im Pharmageschäft gehört.

      Ich stieg in eine Bahn Richtung Stadtmitte, kaute auf einer Ladung Jodtabletten und blätterte müde in der brandneuen Apotheken Umschau – bis ich auf einen Bericht stieß, der besser aufputschte als Aspirin Complex. Der Text handelte von den Orientierungsproblemen des Menschen.

      Seit ich lebe, habe ich enorme Schwierigkeiten, mich in der Welt zurechtzufinden. Die Ursache des Problems, erfuhr ich aus dem Artikel, ist die Tatsache, »dass der regelmäßige Gebrauch von Navigationsgeräten den Orientierungssinn verkümmern lässt«.

      Diese Nachricht war ein Schock. Wenige Tage zuvor war es mir nur mithilfe meines Taschentelefons gelungen, Namen und Standort eines Frankfurter Cafés zu ermitteln, in dem ich gerade Kartoffelsuppe mit Wiener Würstchen zu mir nahm. Seit jeher leide ich an katastrophaler Orientierungslosigkeit. Allein deshalb habe ich Stuttgart nie verlassen. Noch heute kommt es vor, dass ich mich in meiner Nachbarschaft verlaufe. Es gab Zeiten, da habe ich tage- und nächtelang nicht nach Hause gefunden. Nicht einmal mit dem Taxi.

      Der Artikel in der Apotheken Umschau hieß »Kompass im Kopf« und förderte wichtige psychologische Erkenntnisse zu Tage. Zitat: »Da das Auge eine herausragende Rolle spielt, tun sich blinde Menschen grundsätzlich mit der Orientierung schwer.«

      So präzise hatte das noch nie einer gesagt. Jetzt erst wurde mir mein wahres Handicap bewusst. Als ich ausstieg, begriff ich, warum etwas nicht stimmt mit